Geschrieben am 1. April 2020 von für Crimemag, CrimeMag April 2020

Billingham „Ein Herz und keine Seele“ & Berg „Der Carrier“

Eine Doppelrezension von Peter Münder

Lügen, betrügen, töten: Alles nur ein Job?

Mark Billingham (59) ist immer für Überraschungen gut: Einerseits steht das Spielbein des  englischen Theaterwissenschaftlers und ehemaligen Stand-up-Comedian immer noch im Bühnenbereich, andererseits hat er sich mit einem stabilen Standbein, bzw. Schreib-Arm, längst als erfolgreicher, in ca. 20 Sprachen übersetzter Krimi-Autor etabliert: „Ein Herz und keine Seele“ ist bereits sein 16. Tom Thorne-Krimi. Zuletzt hatte er sich in „Love like Blood“ (2017) mit dem Thema „Ehrenmord“ sehr überzeugend und mit analytischem Scharfsinn auseinandergesetzt. Nun präsentiert er unter dem harmlos klingenden Titel „Ein Herz und keine Seele“ (Originaltitel „Their little Secret“) ein in psycho-pathologischen Grauzonen operierendes kriminelles Paar, das den extremen Kick sucht: Als Trickbetrüger und geldgierige Hochstapler, bei ihren Sex-Spielchen und als Mörder. Selbst für den abgebrühten Detective Tom Thorne ein harter Schocker. Von Peter Münder

Ein Sack mit einer Frauenleiche wird von den Gleisen auf den Bahnsteig gehoben, dann  übergibt ein Mann der Transport Police einen Plastikbeutel mit der Handtasche, dem Handy und Schlüsselbund der Toten an Inspektor Tom Thorne. Es scheint ein klarer Fall zu sein: Der Suizid einer Depressiven, die sich vor einen fahrenden Zug warf. Aber der skeptische Thorne geht dem Fall auf den Grund, als er eruiert, dass die Frau kurz zuvor 75 000 Pfund an einen Mann überwiesen hatte, der jetzt spurlos verschwunden ist. Vielleicht war der Typ ja ein Hochstapler, der sich das Geld von nichtsahnenden Frauen erschleicht? Der gründliche Thorn nimmt Kontakt auf zur Schwester der Toten, erfährt Details eines geplanten Video-Projekts für online-Vorlesungen, das der untergetauchte Patrick Jannings verfolgte. Dann hat die durchgeknallte Sarah schließlich  ihren Auftritt  in diesem aberwitzigen Szenario: Sie treibt sich im Getümmel wartender Mütter herum, die nach dem Unterricht vor der Schule ihre Kinder in Empfang nehmen – da schwadroniert sie elegisch über ihren angeblich 6jährigen  Sohn Jamie und all die Probleme einer alleinerziehenden Mutter. Doch der Wunderknabe Jamie taucht nie auf, was die munter schnatternden Mütter nicht mitbekommen. So weit, so banal. Offenbar ist Sarah die Profilneurotikerin vom Dienst, die unbedingt beachtet und bewundert werden will. Als sie den vermeintlichen Charmeur Patrick Jannings kennenlernt, ist sie bei den Müttern tatsächlich zur Diva avanciert: Ist das nicht ein faszinierender Typ? Und ist es nicht sensationell, finden die aufgeregten Mütter, dass sich Sarah und dieser Typ kurzentschlossen für das Zusammenleben in Sarahs Haus entschließt? Hach, wie aufregend!

Nun entwickelt das Paar eine verheerende Eigendynamik: Eine triste Spur von Blood, Sweat and Tears sind ihre Markenzeichen. Sie suchen die Ekstase, auch wenn dafür andere auf der Strecke bleiben. Aber über die grausigen Details ihrer Aktionen legen wir gern den Mantel des Schweigens. Als Kritiker sollte man das ohnehin nicht ausführlich beschreiben.

Das tut Billingham umso ausführlicher und bis zum Überdruß. Die Szenenwechsel mit eingeblendeten Pub-Besuchen, Billard-Meetings und Diskussionen von Thorne und seinem Freund Hendricks über Helen, von der sich der Thorne vorübergehend getrennt ha t- all das bringt zwar die Konversationsmaschine zum Heißlaufen, doch der Erzähler schafft es nicht, die ermüdende Banalität dieses Mikrokosmos in den Griff zu bekommen: Eine Meta-Ebene ist hier so weit entfernt vom Londoner Pub wie der Mars, die Perspektive bleibt einfach ewig fixiert auf den Rand der nächsten Biergläser.

Das bösartige Duo Sarah und Conrad – so lautet sein „richtiger“ Name – geht über Leichen und bereitet mit maximaler krimineller Energie verheerende Verbrechen vor.  Aber  Billingham hat irgendwann vergessen, seinen hochdrehenden Trivial-Talk-Turbolader abzuschalten, der immer neue Einblicke in pathologische Grenzgebiete vermitteln und dabei noch den eher banalen Alltag von Thorne und seinen Kollegen im Focus behalten soll. Was zur Frage führt: Wozu und zu welchem Behufe soll man sich als Leser auf diese „Trivial Pursuit“- Absonderungen konzentrieren, die wohl nur für überzeugte Psychopathen faszinierend sind ? Beschreibt der Autor irgendwelche sozial relevanten Verhaltensmuster oder Veränderungsprozesse? Oder geht es nur noch um Exzesse perfider Außenseiter ?

„Ich weiß, dass du sie ausführen musst, und natürlich musst du mit ihnen schlafen und so tun, als hättest du Spaß daran, weil das nun mal zum Job gehört. Ein Mann braucht seinen Job, Liebster“, meint die verständnisvolle Sarah zum Verführer, Betrüger und Hochstapler Conrad. Sie ist ja, keine Frage, als Erfinderin eines fingierten Sohnes die Expertin für harte Jobs: „Ich meine, Mutter zu sein, ist ein Ganztagsjob“.

Mark Billingham hat seinen früheren Job als Komiker offenbar noch nicht ganz an den Nagel gehängt und dem Krimi einige Kostproben seiner satirischen Talente implantiert; ich blende mich hier aber aus, weil ich diese „Erkenntnisse“  zur „Soziologie abweichenden Verhaltens“  lieber bei der Lektüre von Erving Goffman oder HJ Eysenck vertiefe. „Komm endlich mal früher auf den Punkt! Und behalte Dein kleines Geheimnis für Dich!“ würde ich Billingham gern zurufen. Dann wäre das hier demonstrierte Abdriften in küchenpsychologische Niederungen auch völlig überflüssig gewesen.

  • Mark Billingham: Ein Herz und keine Seele (Their little Secret, 2019). Aus dem Englischen von Stefan Lux. Atrium Verlag, Zürich 2020. 397 Seiten, 22 Euro.

Der Kofferträger mit Atomwaffencodes des Präsidenten spielt James Bond: Aber wer ist Jäger, wer gejagt?

Erasmus Levine hatte sein Doppelleben zwischen Uni-Job in Washington und Geheimagent bisher gut im Griff, doch beim Staatsbesuch in Stockholm läuft plötzlich der von einer obskuren Gruppe angezettelte Countdown für den Ausstieg aus dem  Atomwaffen-System. Die Frage ist nur: Wer steckt dahinter? Sollen Nuklearwaffen eingesetzt oder zerstört werden? Der schwedische Journalist Mattias Berg kombiniert in seinem Thriller „Der Carrier“  gesellschaftskritische Überlegungen zum Wahnsinn der Nuklearwaffen mit 007-Knalleffekten und Science Fiction-Elementen. 

 „The total death toll as calculated by the  Joint Chiefs, from a first strike aimed at the Soviet Union, its Warsaw Pact satellites, and China, would be roughtly six hundred million dead. A hundred Holocausts. I remember what I thought when I first held the single sheet with the graph on it. I thought, This piece of paper should not exist. It should never have existed. Not in America. Not anywhere, ever. It depicted evil beyond any human project ever. There should be nothing on earth, nothing real, that it referred to. ..From that day on, I have had one overrideing life purpose: to prevent the execution of any such plan“.

Daniel Ellsberg, Whistle-Blower der „Pentagon Papers“, in seinem Rückblick auf seine Jahre als  RAND-Think Tank-Stratege und Experte für nukleare Kriegsführung in seinem 2017 veröffentlichten Band „The Doomsday Machine. Confessions of a Nuclear War Planner“  (Bloomsbury Publishing, London)

Matthias Berg, 1962 in Stockholm geboren, war bei den Zeitungen „Dagens Nyheter“ und „Expressen“ auf  investigative Problemfelder spezialisiert. Jetzt verantwortet er beim schwedischen Rundfunk in der Kulturredaktion die Sendung „Konflikt“, in der  wichtige gesellschaftspolitische Themen behandelt werden. Was er in  „Carrier“ ja auch betreibt – schließlich geht es hier um nukleare Abschreckungsmechanismen, um die Balance des Schreckens und auch darum, welche Länder sich überhaupt das Knowhow zur Herstellung von Atomwaffen beschaffen können. Bei all dem 007-Budenzauber und den Blendgranaten, die Berg in seinem Thriller fabriziert, sollte man diese Grundsatzdebatte im Blick behalten – denn es ist offensichtlich, dass ihn vor allem dieses Leitmotiv umtreibt. Daniel Ellsbergs „Doomsday“-Analyse hat er bestimmt  gelesen, sie hat ihn vielleicht auch motiviert, diesen Thriller zu schreiben.

Seine Hauptfigur Erasmus Levine, der Westpoint-Musterschüler und  Dozent an der Katholischen Universität in Washington, trägt ja im „Nebenberuf“ nicht nur den Koffer mit den Atomwaffencodes des US-Präsidenten zu einer Konferenz in Stockholm; er hat auch auf der mörderischen Flucht vor seinen Verfolgern, bei all den Verfolgungsjagden durch gigantische Tunnel- und Höhlensysteme, seine Dissertation im Rucksack, die er als junger Dachs über die Entwicklung der ersten Atom- und Wasserstoffbomben schrieb. Aus der zitiert er immer dann ausführlich über einige Seiten, wenn er mit seinem Latein am Ende ist und darüber grübelt, was man aus einem Rückblick auf die Entwicklung der Atom- und Wasserstoffbombe lernen könnte.  Zum Beispiel:

„Man muss es als Ironie des Schicksals bezeichnen, dass ausgerechnet Edward Teller die Entwicklungsarbeiten leitete und schließlich als ‚Vater der Wasserstoffbombe‘ bekannt wurde – derselbe Mann, der nach den Bombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki gesagt hatte, dass ein neuer Internationalismus die einzige Lösung sei. Der Slogan der damals recht weit verbreiteten globalen Bewegung lautete: ‚Eine Welt oder keine‘.“

Um „Eine Welt oder keine“ geht es letztlich auch im „Carrier“. Denn Erasmus Levine, der zum inneren Kern der „Nukleus“ Gruppe gehört, hat sich mit „Alpha“ auf ein geheimes Aussteiger-Programm eingelassen. Sein Problem ist nur, dass er  nicht weiß, worauf er sich  überhaupt eingelassen hat: Impliziert der Zugang zu all den  Atombomben-Codes nun die Hoffnung auf ein Ende der nuklearen Bedrohung? Oder wird die drohende  Apokalypse noch beschleunigt? In bester Anti-Helden-Manier zeigt Berg diesen auf Action und Heldentaten getrimmten Westpoint-Bond als kafkaesken Zweifler, der aus seiner ehemaligen Doktormutter und jetziger  Protest-Aktionistin Ingrid, die ihn jahrelang betreute und steuerte, nicht mehr schlau wird – er wird irgendwie zum beinah somnambulen Mitläufer. Ihr zu widersprechen geht jedenfalls über seine Kräfte. Auch deswegen, weil ihre  geheime Mission ja auch den Thrill eines möglichen Weltuntergangs bietet: Wenn man alle Knotenpunkte nuklearer Raketenstützpunkte  miteinander vernetzt – vernichtet man dann diese Monsterwaffen? Oder vernichtet man sich und den Rest der Welt ebenfalls? „Immer niemals!“ scheint  sich im klassischen Orwell-Jargon als einzige, völlig paradoxe Double-Bind-Option anzubieten: „Immer bereit sein für den Abschuß – aber niemals irrtümlich abfeuern“.

 Als sich für Erasmus  der Unterschied zwischen Sicherheitsmaßnahmen und dem Abschußvorgang auflöst, „kam mir der Gedanke an Flucht“.  Zusammen mit der unwiderstehlichen Ingrid will Erasmus diese Flucht unternehmen.  „Wir zwei gegen die Welt“ lautet das Motto dieses Duos. Ihre  lebensgefährliche Flucht aus dem frostigen Schweden (mit Übernachtung im Eishotel) führt über Belgien ins brodelnde Sizilien auf einen US-Stützpunkt, auf dem es mal wieder einen spektakulären Showdown gibt.   

Das sind die ernst zu nehmenden Aspekte, die ja auch Daniel Ellsberg jahrzehntelang umtrieben, als er registrierte, wie kaltblütig die US-Militärstrategen ihre Zahlenspiele mit 600 Millionen Toten betrieben. Bergs „Carrier“ liefert zwar auch zahlreiche Hinweise auf diese Untergangs-Szenarios. Aber er kann dem Reiz immer neuer, überdrehter Effekte nicht widerstehen – ganz abgesehen von den mit nimmermüder Redundanz präsentierten Kryptogramm-Spielchen, die Erasmus schon als Teenager faszinierten: Ist die Fibonacci-Folge etwa mit jeder erdenklichen Anordnung von Zahlen vorwärts und rückwärts nicht absolut betörend? „Früher oder später werden wir alle süchtig nach irgendetwas. Soldaten haben sich in Kriegszeiten immer berauscht: An Drogen, politischer Rhetorik, religiösem Fanatismus“, meint Levine. Er selbst berauscht sich an Zahlencodes, die auf mich eher ernüchternd und grotesk wirken. Denn der eitle Erasmus, der  auch mehrmals betont, wie exzellent seine Prüfungsergebnisse in Westpoint waren, will uns vor allem beeindrucken: Mit codierten Zahlenreihen, gewonnenen Nahkampf-Scharmützeln,  Interpretationen von „Mata Hari“-Filmsequenzen und  anderen Extremleistungen: „Ich legte die 150 Meilen über das Eis in einem zügigen Fußmarsch zurück“, informiert er uns. Wir nehmen das natürlich schwer beeindruckt zur Kenntnis. Müssen aber auch  zugeben, dass trotz Bergs  moralisch-ethisch fundierter  aufklärerischer Absichten über den Wahnsinn atomarer Abschreckungspotentiale und trotz seiner  faszinierenden historischen Exkurse über Lise Meitners rätselhafte Forschungsprojekte  sein „Carrier“ , der angeblich „das Schicksal der Welt trägt“,  extrem überfrachtet  ist mit  einigen Tonnen Budenzauber im Leichtgepäck.

  • Mattias Berg: Der Carrier. Er trägt das Schicksal der Welt (Dösens triumf, 2016). Aus dem Englischen von Steffen Jacobs, Übersetzungsgrundlage 2020 „The Carrier“, Quercus Publishing London. Atrium Verlag, Zürich  2020. 575 Seiten, 24 Euro.

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