Carlos ist Bus gefahren, das hätte er seiner geistigen Gesundheit zuliebe vielleicht nicht tun sollen, aber natürlich erfreuen wir uns dankbar an den Folgen:
Gespräch eines greisen Ehepaars im Bus, ich direkt daneben.
Sie: Da fährt noch ein 33er.
Er: Das ist aber der andere.
Sie: Der andere?
Er: Nicht der, in dem wir sitzen.
Sie: Wie hieß das Schuhgeschäft?
Er: Welches?
Sie: Das in der Pfalz.
Er: —
Sie: Feininger oder nein: Becker!
Er: Kuck, der biegt ab. Das ist der andere.
Sie: Weißt du, die Gisela, die lässt sich jetzt doch die Hüfte operieren.
Er: Die Gisela?
Sie: Die Hüfte.
Er: Die Gisela die Hüfte.
Sie: Es geht nicht mehr.
Er: Ja.
Sie: Es geht nicht mehr.
Er: Ja.
Sie: Ich hab ihr gesagt: Das hättest du vor fünf Jahren machen sollen! Das wäre eine ganz andere Lebensqualität gewesen.
Er: Natürlich:
Sie: Die ist jetzt dreiundachtzig. Das macht man mit achtundsiebzig. Oder mit neunundsiebzig.
Beinahe hätte ich meine Haltestelle verpasst. Von den beiden liebenswerten Dappschädeln inspiriert, wagte ich, am Schreibtisch angekommen, nach Wochen der Rekonvaleszenz ein Online-Besüchle beim Oberhohlen J. Fliege und siehe da, er ist endgültig verrückt geworden:
Wenn auch Sie Silvester einsam sind …
Silvester ist ein bisschen wie Sterben. Ich saß mit einer Frau in einem Café. Und sie weinte leise. Neujahr würde jetzt wieder kommen und damit im Fernsehen das Neujahrskonzert aus Wien mit dem Radetzky-Marsch. Und sie würde wieder im Sessel davor sitzen und weinen. Wie immer. Und sie würde wieder nicht wissen, warum eigentlich. Der Abschied vom alten Jahr wog in ihrem Herzen offenbar mehr als die Chance des Neuanfangs. Irgend etwas zog sie nach hinten oder unten. Nur was?
Da machten wir uns auf die Suche und bestellten, und als Erstes zwei Tassen warmen Kakao mit Sahne und ein paar Weihnachtskekse.
Ich war mir sicher, wenn ich diese Tussi bürsten wollte, dann ging das nur über Ringelschwanzsoftinummer. Anders als der Dreier mit Hera Lind und Ministerpräsident Bouffier.
Trotzdem ging mir schon mal einer ab.
Und erst dann ging es ans Eingemachte der Seele. Wir würden sie uns wie bei einer Zwiebel Schicht für Schicht vornehmen müssen, um auf den Grund der Trauer zu schauen.
Warum tat ihr der Abschied so weh? Es könnte natürlich daran liegen, dass Silvester ihr Geburtstag ist. Es gibt viele Menschen, die diesem Tag ausweichen, weil sie nicht spüren und erfahren wollen, dass das Leben unwiederbringlich vorbeigeht. Kann sein?!
Und es kam hinzu, dass sie ihren Geburtstag, so lang sie erwachsen war, alleine hatte feiern müssen. Ihre Kinder stürzten an diesem Tag immer aus dem Haus. Irgendwo gab es immer eine Fete. Und Mutter blieb wieder alleine.
Ich glaubte der Heulsuse natürlich alles: Dass Kinder z. B. seit ihrer Geburt auf Feten. Aber egal, ich war ja nicht auf der Suche nach einer Intelligenzbombe – ich wollte, dass mir das Tittenmonster die Schlacke abzieht. Und zwar noch vor der Sportschau. Frontalangriff!
„Und Ihr Mann?“ fragte ich vorsichtig nach. Da seufzte sie. Und ich wusste mit einem Mal, dass meine Ahnungen stimmten. Er lebte zwar noch mit ihr, aber er war nicht mehr an ihrer Seite. Mitten im Leben hatten die beiden schon alle Hoffnung begraben, sich noch einmal lieben zu können. Aber Trennung kam nicht in Frage. Abschied tat schon so weh. Wie weh würde erst eine Trennung tun, die man selber herbeiführen müsste?
Und dann tauchte am Neujahrstag auf einmal ihr verstorbener Bruder auf.
Also gut. Die Schlampe war offensichtlich ein paar Mal zu oft in ein flaches Becken geköpft. Der würde ich bestimmt noch ein paar Esosachen verticken können. Notfalls würde eben die Sportschau dran glauben müssen. Aber erst wird gefickt! Und sie redete immer noch von ihrem Scheißbruder!
Der hatte sie gefragt, ob er beruflich nach Hamburg oder München ziehen sollte. Und sie hatte Hamburg gesagt. Kaum dass er ein paar Tage dort war, starb er bei einem Unfall.
All die Trauer und die nicht gelebten Abschiede versteckte sie zwölf Monate unter dem Mantel ihrer Aktivität und Vitalität. Aber am Neujahrsmorgen, beim flotten Radetzky-Marsch, brach sie zusammen. Sie trug zu schwer. Sie konnte der Musik nicht folgen. Es klopften die dunklen Gesellen bei ihr an und wollten endlich anerkannt werden.
Kurz dachte ich, die Alte ließe sich ein paar Neger zum Bespringen holen, aber das war im übertragenen Sinne gemeint. Da konnte ich mithalten!
„Also lassen Sie sie doch in Ihr Herz herein: den verstorbenen Bruder, aber auch Ihre fernen Kinder und Ihren einsamen Mann! Sie nehmen ein paar kleine Püppchen am Neujahrstag in Ihre Kostümtasche und setzen sich mit ihnen vor den Fernsehschirm. Und wenn der Radetzky-Marsch kommt, nehmen Sie sie heimlich in die Hand. Da sind sie alle geborgen. Und Sie mit.“
Und sanft entnahm ich meinem hirschledernen Brustbeutel ein Dalai-Lamakondom, streifte es über mein pochendes Glied und flötete: „Wir üben das zusammen …“
Ja, der Herr Bouffier, um den hat man sich hier noch nicht genug gekümmert.
Sieht so ein Mensch aus, dem man sich auch nur eine Nanosekunde ausliefern möchte? Ist es nicht vielmehr der ewige Damenfriseur, der uns sein wiedergängerisches Todesküsslein zuhauchen will? Sind nicht schon die Ohrwascheln werwölfig? Und das linke Auge, das den Spott kaum verbergen kann, den dieser Polit-Hallodrie ganz zweifellos für sämtliche Werte des Landes Hessen übrig hat. (Gut, das sind auch nicht sehr viele. In Hessen gibt es z. B. noch die Todesstrafe – ehrlich wahr!) Hingegen sein rechtes Auge eher in ihn blicken lässt, in etwas milchig, flockig Vergorenes in seinem Brunzekopf. Und weist die ganze Haltung nicht eindeutig darauf hin, dass auch er, wie J. Fliege im Moment der Aufnahme von tierhafter Geilheit durchsotten ist, die rechte Schulter senkt, damit sein Knubbelärmchen die Pratze bis zum Schwengel schiebt?
Ist mithin in diesen kalten Wintertagen die Wollust landesweit aus dem Ruder?
Lässt sich das auch bei der dritten im erwähnten – UND NATÜRLICH ERFUNDENEN – Bumstreff feststellen, bei Schreibmonster Lind.
Na und ob!
Der Überraschungsmann
Barbara ist Mutter zweier Töchter und glücklich verheiratet mit Volker, dem gut aussehenden, erfolgreichen Arzt. Volkers Söhne aus erster Ehe, seine Exfrau, die Schwiegermutter – alle sind gern gesehene Gäste im Hause Wieser. Denn neben ihrem Job als Fremdenführerin sorgt Barbara für Haushalt und harmonische Familienstimmung. Und als ihr mit der neuen Nachbarin Lisa auch noch eine beste Freundin ins Haus schneit, scheint Barbaras Glück perfekt. Für die Karriere der jungen Lisa kämpft sie wie eine Löwin, hütet deren Kind und vergisst sich mehr und mehr selbst. Bis sie erkennen muss, dass ihr Mann das Wort ‚Nächstenliebe‘ anders interpretiert als sie und ihre rosarote Welt zusammenstürzt. Tief verletzt flüchtet sie in ein Berghotel, wo ihr der Seminarleiter Justus behutsam wieder Selbstvertrauen gibt. Kann Liebe wirklich so blind machen?
„Justus oder soll ich Jürgen sagen?“
Der Seminarleiter lächelte: Ich hätte mir denken können, dass mich so eine wunderbare Frau gleich erkennt.
„Und das, wo ich vor Liebe doch ganz blind war …“ Barbara errötete: „Jetzt kenne ich dich erst ein paar Minuten – aber schon hast du mir behutsam wieder Selbstvertrauen gegeben …“ Sie keuchte: „Lass uns in eine Gletscherspalte gehen. Nimm mich dort, Jürgen!“
Der Fernsehpfarrer schaute sie ernst an: „Da sollten wir Volker Bouffier mitnehmen, er kennt sich mit Gletschern aus. Er war im Andenpakt.“
„Mit Christian Wulff und Öttinger?“, schrie Hera-Baraba.
„Und Friedbert Pflüger“, hauchte der Fernsehpfarrer.
Da lob ich mir doch die zwei alten Deppen im Bus.
Carlo Schäfer
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