Geschrieben am 16. Juni 2012 von für Carlos, Crimemag

Carlos

Klare Sache, bei Carlos wird Fußball geguckt, was denn sonst?!

In Sachen EM – ein paar deutliche Worte.

Stand: Samstag, 9.6., 16 Uhr

Es ist so weit alles vorbereitet. Auf dem Herd dickt ein raffinierter Sud ein, mit welchem ich in einigen Stunden die Currywurst neu erfinden will. Ich habe 14 Flaschen Wein kalt gestellt.

Und – jawohl! – ich habe geflaggt (hierzu später). In sechs Stunden sind die Jungs schon bei der Sache.

Und ich bin nervös wie ein Priester in der Knabenumkleide.

Große Turniere waren für den kleinen Carlo Zeiten des Ausnahmezustandes und sie sind es geblieben – warum das so ist, kann ich nicht genau sagen.

Aber ich weiß noch, wann es angefangen hat:

Am 27.06. 1971 ab 19:30. Schweden – (West)Deutschland (Freundschaftsspiel in Göteborg) 1:0.

Mit einer Niederlage also, aber das war mir egal. Ich war sieben und niemand in meiner Familie hatte sich bis dato für Fußball interessiert, ich hatte (infolge einer etwas kaspar-hauserhaften Kindheit) noch nie gekickt, aber ab der ersten Minute war ich dem Spiel verfallen, hatte meine lebenslange Schwäche für das Torwartspiel, und mein Team war auch gefunden: Die deutsche Nationalmannschaft. Ja, genau die, bei Vereinen kann ich eine gewisse Flexibilität (aber auch nur eine gewisse) walten lassen. Bei unseren Jungs niemals! Egal, wie miserabel die sich ins Finale agierten (1982), wie einfach nur eselsdumm die Herren sich politisch äußerten (1978), wie sehr (angeblich!) es eher die Niederlande verdient gehabt hätten (1974).

Ich habe 1990 gejubelt und getobt und von einem hinfälligen Alt-68er per Aushang am Mieterbrett die unschöne Titulierung „Haus-Hooligan“ erhalten. Ich war 1994 enttäuscht, 1998 erbittert, 2002 Titanverehrer und seit 2006 ist es ja ohnehin die reine Pracht, wenn auch gegen Ende schrecklich traurig. Und von den Europameisterschaften ganz zu schweigen, Hoeneß‘ 11er-Hammer in den jugoslawischen Himmel, Hrubeschs Siegespenalty, Köpckes Wahnsinnstaten und, und, und …

Nicht interessant, ich weiß. Aber etwas ist noch viel langweiliger: des klugen Deutschen Antifankultur: Eine flüchtig bekannte Familie aus dem Odenwald entblödete sich 2006 nicht, nur, weil der pater familias mal einige nette Wochen in Argentinien verbracht hatte (am Ende ritt er eine heiße Andenstute?) sich und ihre unschuldigen Kinder zu Argentinienfans zu ernennen, tollkühn vor dem Duell mit unseren Jungs auch entsprechend zu flaggen, um dann nach Lehmanns intellektuell überlegenem Gestalten des Elfmeterschießens ziemlich bedeppert aus der Feinrippwäsche zu gucken. Die Kinder haben geweint.

Recht so.

Was ich dagegen habe? Eine ganze Menge – aber vor allem: Kein Argentinier hätte es verstanden.

Als Deutschland ein Spiel später von der Simulanten-, Petzer- und Wettbetrügertruppe aus Italien rausgeworfen wurde, saß ich, weil ich es nervlich (ehrlich!) nicht mehr ertragen konnte, in der Küche. Es war ganz still in Heidelbergs Altstadthöfen, als der Siegtreffer der Azzuri fiel, nur ein Jubelschrei war zu hören: „Forza Italia!“ – sehr, sehr hart, teutonisch und unbegabt artikuliert.

Da denkt wohl einer, weil er in der Toskana von Adolfo tatsächlich einen Grappa kriegt, wenn er ihn bestellt, und auch kaum mehr als das ortsüblich Doppelte dafür bezahlt, er gehöre dazu. Tut er aber gar nicht – und ja, ihr Klugscheißer, ich weiß, dass es eigentlich „die Grappa“ heißt.

Es geht mir hier überhaupt nicht um Desinteresse. Es gibt jede Menge Gründe, sich nicht für Fußball zu interessieren. Fußball ist letztlich unwichtig. Und selbst, wenn er wichtig wäre, müsste man sich nicht dafür interessieren, weil man sich eben für Manches nicht interessiert.

Ich, zum Beispiel, werde von entsetzlicher Langeweile erfasst, wenn es um Kommunalpolitik geht. Ob irgendeine Dummschule zumacht oder nicht, ist zwar wichtig, aber interessiert mich null. Die Null erhalten auch: Ballett, Steuerrecht, vom Aussterben bedrohte Insektenarten, die Regeln der deutschen Grammatik und Orthografie (obwohl ich im Brotberuf beide zu lehren habe), die Frage, wo meine Mitte ist, ob ich eine habe, ob Kohl noch mal auf die Beine respektive ins Rollen kommt, sämtliche Radrennen, der ganze Eiskunstlauf, Pferdesport, Turnen, Familienstellen, meine Nachbarschaft und geradezu weniger als nicht interessiert mich, ob ich für den Fall, dass ich hundert werde, aber halbstündlich eine Darmreinigung, Schleimabsaugung, Prostatamassage und beidseitige Staroperation brauche, derzeit wirklich ausreichend vorsorge. Ich tue es nicht. Fertig.

Vor zwei Jahren waren es ja wieder die Argentinier, mit denen wir den größten Spaß hatten. Ich sah das Spiel auf einer Party – und wieder musste ich den Raum zwischenzeitlich verlassen. (Recht eigentlich ist es so, dass mich jedes Pflichtspiel so mitnimmt, dass ich, wenn’s eng wird, stiften gehe, die spektakulärsten Momente also gar nicht sehe – das verstehe mal einer.)

Auf der Straße saß ein trauriger dicker Mann. Mitausrichter des Festes. Er rauchte und schaute weit ins vor dem Fernseher sitzende Land. Jubelschreie ertönten. „Ich nehme an, Deutschland hat ein Tor geschossen?“, fragte er weh und wund.

„Du interessierst dich nicht für Fußball?“, fragte ich scheu zurück.

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Noch nie. Wirklich gar nicht.“

Diesem Mann gilt mein Mitgefühl, ja, meine Solidarität! Es muss während großer Turniere einfach schrecklich sein, so leben zu müssen.

Aber weil er ein Ehrenmann ist, hockt er nicht dabei und amüsiert sich über die Gefühlsausbrüche rundherum (das sind unter den Elenden ohnehin die Allerschlimmsten: „Bist du jetzt traurig? Hihihi!“) Er behauptet auch nicht, er sei Brasilienfan, weil die ja so „schön“ spielen! (Wann denn bitte das letzte Mal?) Er hält auch nicht aufreizend moralisierend zum „Underdog“, da es ja für das bettelarme Dänemark so viel wichtiger sei gegen die sorgenfreien Popanzdeutschen zu obsiegen als umgekehrt. Er pflegt auch keinen Kryptorassismus dergestalt, den ruseschwarzen Afrikaner  grundsätzlich dem Weißen vorzuziehen. „Wegen früher und Brot für die Welt.“

Nein, er langweilt sich.

So tat er’s auch damals, rauchte ein Zigarettchen, goss mir einen unfassbar großen Malzwhiskey ein und erzählte zwischen zwei Lungenzügen, wie das so sei als Medizinprofessor an der Charité (auch das ist wirklich wahr!), und dass das Pendeln schon belaste.

Ein großartiger Charakter, dem eben nur DAS SPIEL nicht einleuchtet. Es ist eine Art Blindheit. Er kann nichts dafür.

Ihr anderen Blinden, nehmt euch ein Beispiel an ihm!

 

Auf Umwegen nun zurück zur Flagge: Ich wollte ja schon mehrmals über meinen Stadtteil berichten und immer wieder treibt es mich weg. Nur so viel: Heidelberg Schlierbach schließt östlich an die berühmte Altstadt an. Ist also schon mal nicht die berühmte Altstadt, grade nicht mehr. Trotzdem hält man was auf sich: Oben im Wald sind prächtige Villenanwesen (u. a. wohnen dort noch Abkömmlinge des berühmten Adolfgspusi und Baumeisters Speer), aber das schlichte Einfamilienhaus dominiert insgesamt. Das unsere war ursprünglich eine Behelfsheimstätte für ausgebombte Mannheimer Binnenschiffer, also eine Baracke. Schlierbach insgesamt ist nur deshalb mit der Altstadt zusammen der älteste Heidelberger Stadtteil, das betont man hier gerne, weil es früher das Lepragebiet der Stadt war. Das betont man weniger gerne.

Schlierbach ist im reichen Heidelberg, so kann man sagen, der Stadtteil, für alle, die „es“ so gerade nicht geschafft haben. Die Unichefärzte wohnen in Neuenheim, Handschuhsheim, der noblen Weststadt, die Schlierbacher Chefärzte, derer gibt es viele, pendeln zu Flecken wie Bensheim, Brühl, Viernheim, gottverlassenen Käffern in der Rheinebene, wo sie mit ihrem dämlichen Kittel etwas darzustellen glauben. Auch gibt es in meinem Stadtteil keine Geschäfte, Kneipen, Restaurants, noch nicht einmal eine Art Kern. Alles Dinge, die mir hochgradig entgegenkommen, die aber natürlich meinen gemeinen Mitstadtteiler kränken. Er sucht diese Kränkung durch private Kultiviertheit zu sublimieren: Man musiziert, dichtet, rezitiert, vereinsmeiert herum, ist schlecht gekleidet und niemals, niemals, würde man so etwas Prolliges tun, wie schwarz-rot-gold ans Haus hängen.

Ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, dass es dem etwas entgegenzusetzen gilt.

Und ich muss jetzt aber langsam aufhören.

Die Zeit rennt.

Ich hasse Ronaldo. (Nicht als Mensch! Neinnein! Als Chiffre sozusagen. UND ALS SPIELER!)

Ich liebe mein Team.

Ich werde nervös.

Brauch einen Schoppen.

Tschüss.

Stand, So. 12 Uhr: Wache auf. 1:0, scheißegal wie. Habe Schmerzen. Meine Hose liegt auf meinem Gesicht.

Stand, Mi gegen Mitternacht. Wir sind durch. Meine Wahrnehmung bricht zusammen, aber das macht nichts.

Carlo Schäfer

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