Carlos,
der dicke Mann, Pforzheim und eine dolle Delta-Anthologie – sind Sie selbst erschüttert…
Ich habe gestern Abend einen Mann gesehen, der in der Gaststätte Essighaus, Heidelberg-Altstadt, folgende Mahlzeit zu sich nahm: Zunächst die Tagessuppe – gestern war es Erbsensuppe – diese aber veredelte der ältere Herr sich mit einem guten Viertelliter Maggi sowie Unmengen von Parmesankäse. Beides, Maggi und Hartkäse nahm er sich selbstverständlich, ja selbstbewusst, seitens des Personals gebilligt, wenn nicht gar dazu ermuntert, vom Tresen. Nun bin ich in jenem Lokal seit geschlagenen 37 Jahren – kann nicht sein, da war ich zehn, dick und blind und einsam. Alles das ginge ja noch, aber es war in Pforzheim.
Ja, ich bin in Pforzheim aufgewachsen und das kann man nicht ewig verheimlichen
Pforzheim: Vielleicht kann sich meine paradoxe Beziehung zum Genre Krimi (ich lese wenige, will auch eigentlich keine mehr schreiben und tue es dann doch) von diesem Ort her erzählen. Wer einmal sehen will, wie eine kriegsbedingte Zerstörung, laut Pforzheims offizieller Verlautbarung, eine umfangreichere als in Hiroshima, einen Menschenschlag auf Generationen hinaus seelisch verrotten lässt, ihn böse und nur immer böser macht, der soll meine Heimatstadt doch mal für ein Wochenende besuchen. Länger aber besser nicht. Angefangen beim dortigen schwäbisch-badischen Dialektbastard, auf visueller Ebene in bis in die jüngste Zeit einfach nur verbrecherische Nachkriegsarchitektur transponiert, inkarniert die entropische Lokaleethik in den großen Kindern der „Goldstadt mit Herz“.
Zu nennen sind u. a.: Boxer und Drogenhändler René Weller, Rudi Steinhard(t?), genannt der Bäderkönig, Bankrotteur und Betrüger, sowie der zeitweilige Weltmeister im Nasengewichtheben (!) Manfred Monasso, alias Giovanni Grasmüller. Damit nicht genug: Die Schlagerdilettantenbande „Die Flippers“ (O nomine admirabile!) sind, soweit nicht am Leberschlag dahingegangen, bis heute respektierte Bürger der Stadt, Kulturtotengräber und letzter ZDF-Hitparadenlump Uwe Hübner war sogar eins über mir auf der derselben Schule.
Und vergessen wir bitte nicht den Stuttgart21oberbefehlshaber und Durchgreifer Stalin Mappus! (Dr. Mappus? Ich glaube nicht, dafür ist er zu geizig.)
Und ich. Leider.
Was sonst?
Sportart Nummer 1 in Pforzheim war neben Boxen und – natürlich – Schießen in meiner Kindheit Ringtennis. Ringtennis! Genau! Die Hartgummiringe, die man heute nur noch im geriatrischen Sport- und Beschäftigungsbereich sowie in der Schlaganfallreha einsetzt, wurden früher nach strengen Regeln über Netze geworfen und das besonders erfolgreich in meiner, der „Dreitälerstadt“. Man muss kaum erwähnen, dass mit dem ersten Frisbeeimport aus Obamien diese Leibesertüchtigung und damit auch zugleich Pforzheimes einzige Position in einer ersten Bundesliga gleichsam verdampft ist.
Aber der 1. FC Pforzheim ist immerhin beinahe einmal in die zweite Fußballbundesliga aufgestiegen! Jawoll! Leider hat man sich verrechnet, hätte statt 6:0 7:0 gewinnen müssen, wozu auch noch zwanzig Minuten Zeit gewesen wäre. Die bereits trunken feiernden Helden der „Schmuck- und Uhrenstadt“ erfuhren es in der Autobahnraststätte Bruchsal brunzend aus dem Radio.
Es gibt – letztes Wort zu den sich inzwischen in untersten Ligen mühenden Goldstadtkichern – einen mittlerweile betagten Herren mit dem putzigen Namen Roger Essig. Der durfte um 1980 ein, aber auch wirklich nur ein Probetraining beim VfL Bochum absolvieren und wurde daraufhin bis in die Neunziger Jahre in der Pforzheimer Zeitung als „Torwartlegende“ gepriesen.
Gibt es kulinarische Spezialitäten? Ein klares: Nein! Allerdings sind Pforzheimer seltsam versessen darauf, pausenlos Laugenbrezeln in Kombination mit schlechtem Bohnenkaffee zu konsumieren. Die besten Brezeln lieferte, je nach persönlicher Vorliebe, die „Brezelstube“, die Bäckerei „Aisenbrey“, meiner Meinung nach freilich: Die Bäckerei Schwanz. Was für ein Klang, leider existiert sie nicht mehr. Genausowenig wie das dreieckige (ehrlich wahr) Lokal „Grillspieß“. Ob es die Disco Miura (so ähnlich hieß die doch…) noch gibt, weiß ich nicht und will ich nicht wissen. In dem an den Arrestbereich einer Bohrinsel innenarchitektonisch nachempfundenen Ambiente gab es sogar mal einen Giftmord, weil der später Überführte eben einfach mal wissen wollte, wie das so ist, wenn man einen vergiftet.
So was passiert überall? Mag sein. Aber gibt es sonst noch einen Ort, der eine Straße nach einem bedeutenden Maler benannt hat, dessen Nähe zum Flecken sich der Kleinigkeit verdankt, dass man ihn hier und nirgendwo anders gevierteilt hat? In „Pforze“ sehr wohl: Jörg-Ratgeb-Straße. 1526 war das. Auf irgendwas muss man ja ein paar hundert Jahre stolz sein können. Weiteres über meine Heimat sicher ein andermal, am Stück schaffe ich es nicht.
Dieser Ort, ich hoffe es angedeutet zu haben, prägt. Vielleicht wird es mir nie gelingen, Geschichten zu erzählen, die nicht knapp unter der Bewusstseinschranke das frühe kindliche Erleben, das juvenile Erleiden und das adoleszente Scheitern mäeutisch mit sich in den Text nehmen. Und wenn das so sein sollte, dann werden es zwangsläufig Krimis.
Irgendwie habe ich aber das Gefühl, ein wenig abgeschweift zu sein…
Ach ja! Also: Seit 27 Jahren bin ich dort Gast, im Heidelberger Essighaus (s. o.), und kenne den offensichtlich verwirrten Mann durchaus vom Sehen. Wie er sich derartige Sonderrechte erkämpfen konnte, ist mir aber schleierhaft. Nicht nur, dass er Zugriff auf Würzsoßen und Hartkäse aus Fremdbesitz in unbegrenzter Menge hat, nach der schauderhaft vergifteten Vorspeise fraß er, obwohl sein Kasslerkamm mit Kraut und Stampfkartoffeln schon aufgetragen war, eine mitgebrachte Mandarine, dann allerdings verputzte er vergnügt den Hauptgang, orderte einen zweiten Pfefferminztee (!), den er unter lautem, ja wollüstigem Stöhnen in sich hinein trank und las danach mit einer riesigen Lupe irgendwelches dummes Zeug aus der großartigen Rhein-Neckar-Zeitung.
Wie ich ihn hierbei – bereits hoffnungslos verliebt – betrachtete, fiel mir ein, dass ich ihn vor ca. zwanzig Jahren in einem italienischen Lokal gesehen habe, einem Lokal, das dafür berüchtigt war, dass man bei kleinsten Frechheiten vom Patrone persönlich in gröbster Manier an die Luft gesetzt wurde. Mein Fressgreis, bereits damals alt, orderte dort eine Pizza zum Mitnehmen, überlegte es sich dann aber anders, setzte sich mit dem Karton an einen freien, zentral im Lokal positionierten Tisch und verschlang seine Marinara unter Zuhilfenahme der Hände brockenweise an Ort und Stelle. Mein gestriger Bierkamerad Siegfried S., ein Mann mit Überblick, ergänzte noch, der Herr esse gelegentlich auch mal eine Gulaschsuppe, die er mit der zur Suppe äquivalenten Menge Senf aufpeppe – auch das ohne Mehrkosten.
Wie schafft es dieser greise, fast blinde und vor allem ungezogene Mann derart unangreifbar zu sein? Ist er Pforzheimer?
Ich bleibe dran.
Für heute freilich reicht es jetzt schon. Schade!
Eigentlich wollte ich über Krimischreiberwettbewerbe allerorten schäumen und dann selbst einen solchen Wettbewerb ausloben, aber das mache ich halt dann beim nächsten Mal. Und übrigens: Es ist eine Anthologie erscheinen, in der sowohl mein CrimeMag-Boss Wörtche als auch meine Wenigkeit erstmals gemeinsam vertreten sind! Freilich sind wir nicht allein. Ihr lieben Leser, kauft diese Anthologie besser nicht. Echt. Tut’s nicht.
Carlo Schäfer
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