Mit dem Bus in die Stadt
Ab heute wird uns Carlo Schäfer regelmäßig durch den alltäglichen Wahnsinn begleiten. Um Carlos Welt noch besser zu verstehen, verweisen wir hiermit auf seine schöne Homepage, die auch Verrisse gebührend featured, auf seine Heidelberg-Romane und vor allem auf sein literarisches Meisterstück Kinder und Wölfe.
Der Tag sollte einem Anthologiebeitrag für den Pendragon-Verlag gehören, dem herausgebenden großen Frank Göhre zur Freude. Und stattdessen? Nichts. Verschleuderte Stunden, ins All geblasen. Und warum? Nun: Zunächst sind schon morgens die Kippen alle. Und – verschärfend – das Auto hat die Frau, womit der ganz normale Stangenkauf an der Tankstelle im Nachbarort vereitelt ist. Also mit dem Bus in die Stadt.
Gegenüber ein schmutziger Mann, Typ vereinsamter isländischer Provinzbewohner: Zerzauster Bart, lieblose Kleidung, dumpfer Trangeruch.
Zwei, drei Haltestellen lang stelle ich mir sein Leben vor. Sein Wellblechhaus, doppellagig mit versifften Perserteppichen ausgelegt, eine Standuhr von der Mutter, die mit einem Eskimo durchgebrannt ist, auf einer Press-Spankommode. Die Uhr aber steht seit Jahren, dem Alten fehlt die Kraft, sie zum einäugigen Uhrmacher Thorwaldson zu bringen, der drunten am Fjord lebt und unguten Kontakt zu Ponys pflegt. Manchmal sitzt Eynar – so, denke ich, soll der Stinker mal heißen – vor der Uhr und weint und frisst einen rohen Schafskopf.
Als ich mir mein verkommenes Gegenüber soweit zurechtfantasiert habe, holt der Alte die Bildzeitung raus. Dagegen kommt meine schöne Polarkreiselegie nicht an. Da sitzt leider einfach nur ein stinkender kurpfälzer Depp. Eynar heißt er jetzt trotzdem.
Der Bus hält auf offener Strecke. Fünf Arbeiter umstehen andächtig ein großes, frisch und akkurat quadratisch ausgehobenes Loch in der Straße. Ein sechster steht drin und schaut raus. Den Verkehr regelt eine Ampel, sie ist rot. Der Busfahrer sagt ruhig und sachlich: „Arschlöcher. Alle miteinander.“
Eynar ändert die Sitzhaltung. Er hat eine Verkrustung auf dem Hosenstall, die mal als Pissfleck angefangen hat.
An der Strecke liegt auch Heidelbergs Gefängnis. Ein altes ostisches Ehepaar steigt ein: Er böse und verwittert, sie zusammengeschrumpft und schmerzverzerrt. So sehen also die Eltern von rumänischen Autodieben aus.
Bismarckplatz, aussteigen.
Die Erkenntnis, die einzige des Tages: Wenn ich schon in der Stadt bin, kann ich auch Wein einkaufen! Fünf Liter, ist schließlich Wochenende. Also nach dem Zigarettenkauf in die Straßenbahn zu „Wein Abt“.
In der Straßenbahn steht ein üppiges von Piercings quasi in Scheiben geschnittenes Mädchen und schüttelt lustlos den Kinderwagen, beinhaltend ihr Uneheliches, während sie linkshändig telefonierend den Vater zur Sau macht. Wir fahren über den Neckar, ich schaue aufs Schloss. „Dann fick dich doch, Alter! Fick dich einfach selber. Bis gleich dann.“ Die junge Mutter beendet ihr Gespräch. Es ging sicher um ein Tatoomotiv für Baby Marvin. Kann man Häftlingsnummern eigentlich frühzeitig vorbestellen? Hoffentlich ist der Gatte mit dem Selbstfick fertig, bis sie heimkommt, sowas ist ja nichts für ein Kind.
Herr Abt ist traurig, wie eigentlich immer. Er erinnert mich an ein Murmeltier, sein Allgäuerisch passt hierzu vorzüglich.
„Heidelberg verroddet“, begründet er seine seelische Düsternis und senkt dann die Stimme: „Die Bürgermeischder han ihre eigene Clubs, geheime Clubs, die kriagets net mit!“
„Kann ich eine Tüte haben?“, frage ich.
Er fragt zurück: „Habt ihrs ausbrobiert, obs neigeht?“
„Es“ geht „nei“ (hinein), natürlich, und wieso „ihr“? Ich bezahle und gehe.
Ich hole noch schnell Kontoauszüge und stelle fest, dass der Wein streng genommen der Badischen Beamtenbank gehört, die Zigaretten auch, das Haus sowieso und vermutlich auch ich.
Auf der Rückfahrt fällt ein bis dato gnädig unbemerktes Westerwelle Wahlplakat ins Auge. Alt ist er geworden, der schneidige Neoliberale mit plötzlicher Nähe zur Bergpredigt. Es stand zu lesen, er habe nach eigener Aussage eben früher nicht gewusst, wie viel Ungerechtigkeit es gibt, habe aber dazugelernt und sei nun für soziale Dinge offen wie ein trainiertes Rektum. Vermutlich stimmt das sogar und heißt dann aber auch: „In meiner Birne wär’ noch Platz für ein Straußenei, wählt mich einfach trotzdem, ich freu mich doch so drüber.“
Zuhause: Null Ideen. Nix. Neuronenpampe.
Doch jetzt, vielleicht doch, jaja: Täter taubblind, Ermittler nach Schlaganfall locked in, Zeuge im Wachkoma. Eine Idee, gewiss, freilich eine miserable, zumal Frank Göhre wirklich nett ist.
Kurzer Gang nach draußen, frische Luft plus Rauchen, vielleicht hilft’s? In der Straße wird was an den Gasleitungen gemacht. Es sind große Schilder aufgestellt, die eindringlich davor warnen, zu rauchen. Ich lösche meine Zigarette sofort, dann sehe ich: Direkt neben einem der Schilder steht ein erschöpfter Arbeiter und raucht.
Ich gehe wieder rein. Der Tag ist rum.
Eynar wäscht sich mit dem Tau seiner Lieblingsbrennnessel, legt sein Nachthemd aus grobem Leinen auf die Pritsche und meißelt sich mit einem Walfischzahn und einem Lavabrocken geduldig die Hose auf. Denkt: Das wird schon alles!
… wird fortgesetzt …
Carlo Schäfer