
Weltgerichtstryptichon (Detail aus der Mitteltafel) von Hieronymus Bosch – gemalt vermutlich zwischen 1485 und 1505
Schloß ohne Riegel
Die Verbrechensrate sinkt, die „gefühlte“ Bedrohung wächst. Von der lichten Vorderansicht dieser Paradoxie berichtet die Kriminalstatistik, von ihrer finsteren Rückseite erzählt das kollektive Gemüt. „Gefühlt“ heißt eigentlich wahrgenommen. Aber was genau nehmen wir wahr, wenn beispielsweise die Möglichkeit als Fußgänger unter die Räder zu kommen zehnmal größer ist als die, Opfer eines Raubmordes zu werden? Zahlen beruhigen, Angst verstört …
Klar, wir wollen beschützt und umsorgt werden, sehnen uns nach Sicherheit. Zuständig dafür ist die Regierung, die Polizei, das Militär und natürlich der wachsame Nachbar. Um uns aber wirklich sicher fühlen zu können, müssen wir wissen, wer oder was uns eigentlich bedroht. Ist es der ausgemergelte Fixer der ein paar Scheine für den nächsten Schuss braucht, oder der IS? Kommt der Schrecken mit Schraubenzieher und Stemmeisen oder als Dirty Bomb? …
Wer also, will uns ans Leder? Ich frage herum und erfahre etliches über Schreckensbilder aber wenig über den Schrecken selbst. Anstelle eigenen Erlebens treten fiktionale Versatzstücke, die mehr an Zodiak und Wolf Creek erinnern als an die Wirklichkeit. Ich begegne Furcht und Ängstlichkeit, zusammengerührt aus einem zähen Medienbrei von Desinformation und Entertainment. Da ist die Signatur uniformer Erzählschablonen mit viel Blaulicht, forensischen Leichenbeschauern und allerlei Melosülze aus dem Polizeileben. Immer gleiche Geschichten, deren monotone Beharrlichkeit einer schleichenden Amnesie ähnelt, formen eine Art Nebenwirklichkeit. Im Fernsehen werden in einer halben Woche mehr Leute abgemurkst, als die Kriminalstatistik (tatsächliche) Opfer für das ganze Jahr verzeichnet …
Je weniger wir wissen was uns wirklich bedroht, desto greller die Angstprojektionen und desto größer unser Sicherheitsbedürfnis. Gegen den altvorderen Einbrecher hilft vielleicht ein dreifacher Titansperriegel, der unser wohlbehütetes Drinnen, vor dem fremden Draußen bewahrt. Was aber schützt vor dem Einbruch ins Hirn? Wer hilft uns gegen lähmende Passivität und rasende Verblödung in medialen Endlosschleifen? Was immunisiert uns gegen die Einfaltspinselei der TV-Appartschiks und ihrer Armada gewerblicher Gruseliers?
Was dezimiert unsere Courage so sehr, daß wir im Zeichen sogenannter Bedrohungsszenarien elementare Bürgerrechte preisgeben, ohne zwischen Gefahr und Attrappe zu unterscheiden? Anstelle plausibler Antworten viel Nebel diffusen Unwohlseins.
Ich frage mich, was passiert, wenn die Betäubung nachläßt, eine Polizeisirene nur enervierendes Getöse und der Widerschein des Blaulichts einfältiges Geflacker ist? Wenn wir uns nicht mehr am Angstschweiß anderer Leute delektieren und sämtliche Glotzen beiseiteschieben? Wenn wir aufschauen und uns auf nichts anderes verlassen als das, was unsere Augen sehen.
Dann fällt unser Blick womöglich auf eine widersprüchliche, brüchige und komplexe Wirklichkeit, inmitten derer eine Chimäre wohnt, die sich Sicherheit nennt.
Wem diese Betrachtungen zu glanzlos sind, verlasse die einfältige Realität und blicke gen Himmel, dorthin, wo Glück und Unglück wohnen. Von da oben, aus sechstausend Meter Höhe, stürzte nämlich ein Mann dessen Fallschirm sich nicht öffnete, ungebremst zu Boden und verstauchte sich lediglich den linken Knöchel. Dann war da noch eine Frau, die zuerst einen schweren Motorradunfall und dann einen Flugzeugabsturz unbeschadet überstand. Nach einem rauschenden Freudenfest, anlässlich ihrer „dritten Wiedergeburt“, ging sie baden und wurde von einem Krokodil gefressen. Die Welt ist ein schartiges Messer …
Dieter Reifarth
D.R., geb. 1951, Filmemacher, Cutter, Produzent, Autor, aktuell Regie und Kamera bei „Die Tortur„, einer philosophischen Analyse der extremen Erlebnisse des Schriftstellers Jean Améry.
D.R. im Filmportal.