CrimeMag Primär – heute eine Story von Frank Göhre & Guido Rohm!
Alles in Ordnung?
Ich sitze in meinem Wagen. Fahre.
Bleib ruhig!
Er ist hinter mir. Er muss davon gewusst haben. Er hat vor dem Haus gestanden und mich einsteigen lassen. Als wäre nichts geschehen. Dabei muss er es wissen.
Warum hat er mich nicht sofort verhaftet?
Sie werden die Tote im Treppenhaus entdecken. Jetzt. Die Nachbarn. Sie werden die Polizei verständigen. Er weiß es längst.
Ich beschleunige das Tempo. Seine Scheinwerfer bleiben an mir dran. Sie hängen an meiner Stoßstange. Einmal Bremsen und wir würden uns knutschen. Idiot. Warum tut das dieser Idiot, dieser verrückte Mistkerl?
„… und weiter geht’s mit dem wunderbaren Harry Nilsson und seinem 71er Hit Coconut … Bruder bought a coconut, he bought it for a dime …“ Er klopfte den Takt auf das Lenkrad, behielt die Haustür im Blick. Er war bereit. Er wartete. Einmal musste Schluss sein. Endgültig. Er wusste nur noch nicht, wie genau er es anstellen sollte. Der Knabe war unberechenbar … „She put the lime in de coconut, she drank em bot up …“ Sein Handy meldete sich. Er sagte nichts, hörte nur zu. Dann kappte er die Verbindung, seufzte … „She call de doctor, woke ‘ìm up, said ‚Doktor …“
Wie war das? Ich kam aus der Wohnung. Die Tasche hatte ich in der Hand. Da war sie drin. Warum hat die Alte, die gerade mit ihren Tüten die Stufen nach oben keuchte, so geschrien? Sie kann nichts gewusst haben. Ich musste sie zum Schweigen bringen. Da half nichts. Nichts.
Ich hätte weitergehen können. Und dann? Ich wäre zurückgekommen. Ich hätte sie getötet. So oder so. Sie musste sterben. Sie hat geschrien. Sie hat etwas gesehen. Wenn ich doch nur wüsste, was es war.
Die Haustür öffnete sich. Sein Mann kam herausgestürmt, als sei er von Furien gehetzt. Er wartete noch, bis er sich in seinen Wagen geworfen hatte und hängte sich dann an ihn. Der Zeitpunkt zumindest war günstig. Es war bereits dunkel, auf den Straßen nur mäßiger Verkehr. Jedenfalls in diesem Teil der Stadt. Er hatte eine ungefähre Ahnung, wohin es seinen Mann jetzt trieb. Wenn er damit richtig lag, war es vermutlich relativ leicht. Auf geht’s … „Und hören Sie jetzt den unverwüstlichen Steve – nicht Merle – Haggard mit El Camino, live aus dem Downtown Bluesclub, der Mann hat‘s nach wie vor voll drauf …“
Und jetzt ist er da. Fährt dicht auf dicht hinter mir. Lässt nicht locker. Nach so vielen Jahren wird er mich endlich bekommen.
Ich stelle mir sein Gesicht vor. Sein bärtiges Gesicht mit den aufgedunsenen Lippen, zwischen denen eine Kippe hängt. Der Typ ist irre. Der hat zu viele Krimis gesehen.
Bullen sind nicht so. Dieser schon.
Bleib ruhig. Drossel das Tempo.
Mann, was hab ich dir gesagt, drossel endlich das verfluchte Tempo.
Er war seit Jahren nicht mehr in dieser Gegend gewesen, aber es hatte sich nichts verändert. Die Lagerhallen, zerbrochene Scheiben, der Schrott, die Halden, Kräne und erdebene Gleise, am Straßenrand parkenden Trucks aus Dänemark, aus Polen und sonst wo her.
Glimmende Kippen in den Kabinen, Schattenrisse. Ein Gewisper, ein Getuschel, nicht zu hören, aber spürbar …
Ich könnte anhalten. Neben mir die Tasche. Ich könnte eine der Nutten nach dem Weg fragen. Die werden sich über einen Freier freuen, der sich verfahren hat, der sie nicht für ein paar Scheine in sein Auto ziehen will.
Obwohl ich das tun könnte. Obwohl ich das tun müsste.
Ich hätte eine Geisel. Dann würde ich es ihm klar machen: Du hast einen weiteren Fehler in deiner verschissenen Bullenkarriere gemacht.
Wieder ein Punkt für mich.
Sein Mann verlangsamte die Fahrt, sah nach rechts. Zu den Weibern hin, den Mädels in Schaftstiefeln und Jeansjäckchen, miniberockt. Will er sich etwa noch einen blasen lassen? Eine schnelle Nummer schieben? Mein Gott, der Knabe war wirklich ein armes Schwein, bei allem. Wenn er nur nicht immer wieder aus der Spur springen, gemeingefährlich würde. Und auch schlichtweg nervte mit seinem krankhaften Wahn. „… Werbung muss sein, Leute, und nach den News geht’s weiter mit Krischans Oldieparade von Zehn bis Mitternacht …“
Ich könnte verschwinden.
Ich würde verschwinden, mich in Luft auflösen, mich auf einer Insel wiederfinden, irgendwo in der Südsee, nein, würde ich nicht, ich habe kein Geld, noch habe ich das Geld nicht, ich habe nur die Anzahlung.
Ruhig! Bleib ruhig!
Ich könnte fliehen. Aber darauf wartet er. Diese rote Ampel dort vorne. Ich würde einfach weiterfahren. Die Augen schließen und fahren. Ein Glücksspiel.
Heute Abend sind wenige Autos unterwegs. Es könnte gelingen. Nein, ich werde das nicht tun.
Die Nutten!
Nimm dir eine von den Nutten.
Tatsächlich. Er bremste ab und winkte eine der Frauen heran. Eine schmale, hoch aufgeschossene Schönheit. Ein Gesicht wie … das hätte er sich denken können. Dass es genau der Typ Frau war. Er schnaubte kurz. Okay, den Spaß würde er ihm noch lassen … „Die Wetteraussichten. In der Nacht zwischen 12 und 13 Grad, morgens teilweise bedeckt und regnerisch …“
Ich fahre an den Straßenrand, lasse die Beifahrerscheibe nach unten gleiten, herrlich die modernen Zeiten, ein Knopfdruck und schon darf sie ihren Kopf in deine Welt hängen.
Na, so allein unterwegs, mein Schöner!
Deshalb bin ich hier.
Sie kaut den Kaugummi auf eine ekelige und unanständige Art. Was erwarte ich? Sie ist eine Nutte.
Steig ein!
So nicht, Kleiner. Erst die …
Ich greife in die Tasche, greife neben das Ding, hole unzählige Geldscheine hervor und winke sie damit ins Auto.
Hat da etwa einer im Lotto gewonnen?
So etwas in der Art.
„… und hier ist wieder euer Krischan mit einem Johnny Cash on the road, ihr hört seine Stationen von Dallas bis Detroit, zwischen Missouri und Maine, und wo immer er einen Gig hatte, ging‘s mordsmäßig ab …“
Ich fahre an. Ich ordne mich ein. Ordnung muss sein. Dann kann er mir nichts.
Und wenn er schon informiert wurde? Sie müssen ihn informiert haben.
Er weiß es, weil er alles weiß.
Dieses Dreckschwein will mich fertigmachen.
Er hält sich zurück. Ich kann ihn kaum noch sehen. Er muss aber da sein.
Wo wollen wir hin?
Die Nutte kaut und grinst. Ich würde ihr gerne eins auf die Fresse hauen.
Nicht hier. Nicht in diesem Moment.
Fahr da in die Seitenstraße.
Vielleicht hat sie die richtige Idee. Ich biege ab. Ich halte an.
Da ist niemand.
Er fuhr noch ein Stück weiter, bevor er am Straßenrand abbremste und auskuppelte. Er streifte die dünnen, schwarzen Lederhandschuhe über und entschied, sich vorher doch noch eine Zigarette zu gönnen.
Es war besser gelaufen, als er gedacht hatte, nahezu perfekt. Er sog den Rauch tief ein. In wenigen Minuten würde es vorbei sein …
Ein einsam gelegener Friedhof.
Verflucht!
VERFLUCHT!
Er muss da sein!
Was issen mit dir?
Ich beuge mich über sie. Ich würge das Miststück. Sie hat etwas bemerkt. Etwas gesehen.
Vielleicht arbeitet sie auch mit ihm zusammen.
Das Miststück röchelt, bis ich sie von ihrem schäbigen Leben erlöst habe.
Ich lehne mich zurück und überprüfe die Tasche. Es ist noch da. Das Ding. Natürlich. Es war nie fort.
Ich sehe in den Rückspiegel.
Da ist er ja.
Endlich. Ich will es. Ich will es hier und jetzt. Nach so vielen Jahren.
Er fährt langsam an mir vorüber. Ich kann sein Gesicht erkennen. Das ist er.
Mein Körper zittert. Meine Hände schlagen gegen das Lenkrad.
Er ist hier.
Er hat mich.
Der Wagen fährt weiter. Ich kann es nicht glauben. Nicht fassen. Ich steige aus.
Die Frau schläft auf meinem Beifahrersitz. Sie schläft. Ich bin mir sicher.
Ich schreie hinter ihm her.
Komm zurück!
Ich habe seine Spielchen satt. So satt. Wir treiben dieses Spiel seit so vielen Jahren.
Ich bin müde. Aber es hilft alles nichts.
Ich steige in meinen Wagen.
Bis zum nächsten Mal, du Arschloch!
Ich lächele die Frau neben mir an. Sie ist erwacht. Sie bewacht meine Tasche.
Alles in Ordnung, fragt sie.
Alles in Ordnung, antworte ich.
„Hallo“, sagte er. Der Knabe zuckte zusammen, als habe ihn ein elektrischer Schlag getroffen. „Du hast dir den richtigen Platz ausgesucht. Gratuliere. Komm, gib mir die Tasche. Deine Ex hängt sehr an dem Ding, das weißt du doch. Und du weißt auch von der richterlichen Verfügung. Du hast dich nicht in ihrer Nähe blicken zu lassen.“
Der Typ lachte ein irres Lachen.
„Sie ist bei mir! Mit uns ist alles – alles in Ordnung.“
„Darum schicken dich auch selbst die Nutten weg.“ Er schüttelte betrübt den Kopf. „Eigentlich tust du mir leid. Aber deine Ex, du verstehst, sie will in Ruhe mit mir zusammen sein, und auch die Nachbarn wollen keine Angst mehr haben, weil du sie mit deinen Mordfantasien belästigst.“
Ein Kichern, ein albernes, kindisches Kichern war die einzige Reaktion.
„Okay, bringen wir‘s hinter uns.“ Er zog die Waffe hervor, entsicherte sie und drückte ab.
Für den Rest brauchte er nicht lange.
Nur der Dreck im Wageninnern machte ihm einige Probleme.
Aber auch die ließen sich lösen.
Frank Göhre & Guido Rohm
Frank Göhre, 1943 geboren, arbeitete als Buchhändler, Bibliothekar, Verlagsangestellter und Hörfunkautor. Er lebt in Hamburg und schrieb neben Romanen u. a. die Drehbücher zu den Kinofilmen „Abwärts“, „Die Ratte“ und das mit dem Deutschen Drehbuchpreis ausgezeichnete Drehbuch „St. Pauli Nacht“ (Regie Sönke Wortmann). www.frankgoehre.de
Guido Rohm wurde 1970 in Fulda geboren, wo er heute auch lebt und arbeitet. Er schreibt u.a. für verschiedene Onlinemagazine. Sein Debüt, der Kurzgeschichtenband „Keine Spuren“, erschien 2009 im Seeling-Verlag (Frankfurt). Der deutsch-französische Schriftsteller und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt schrieb das Vorwort zu „Keine Spuren“. Sein erster Roman „Blut ist ein Fluss“ erschien im Frühjahr 2010 ebenfalls im Seeling-Verlag. Seine jüngste Veröffentlichung, die Erzählung „Eine kurze Geschichte der Brandstifterei“, wurde im Textem-Verlag (Hamburg) veröffentlicht. 2011 werden der Roman „Blutschneise“ (Seeling-Verlag) und der Kurzgeschichtenband „Die Sorgen der Killer“ (Kulturmaschinen) erscheinen. Bei den Kulturmaschinen erscheint im Frühjahr 2012 außerdem der Roman „Schmutzige Hunde“. Zur Homepage