Geschrieben am 6. September 2015 von für Crimemag

Dietmar Dath: Warum Joe R. Lansdales Trilogie „Drive-In“ alles andere als trivial ist

Drive-In von Joe R Lansdale

Abgebissene Zeigefinger

Dietmar Dath über die Zeigefinger der Moral und was ihnen – mit Recht – beim Lesen von Joe R. Lansdales „Drive-In“-Trilogie geschieht. Ein kleines Lehrstück über die wahren Tiefen der weithin eher gering geschätzen „Trivialliteratur“.

Bücher wie die drei Romane der Drive-In“-Trilogie von Joe R. Lansdale werden oft unterschätzt. Was so unterhaltsam ist, denkt die geläufige Meinung, kann nicht wichtig sein, nicht bedeutsam. Fast Food ist das, denkt man, weil’s schmeckt. Wichtig ist angeblich anderes – wichtig sind die Nachrichten im Netz und in den anderen Medien, als Ausschnitte aus globalen Vorgängen, die alle betreffen; bedeutsam sind die Meinungen, die man zu den Nachrichten und den globalen Vorgängen haben muss, wenn man mitreden will. Bedeutsam ist auch die sogenannte hohe Kunst, von der Nachrichten selten handeln. Von Büchern wie den drei „Drive-In“-Bänden handeln sie nie.

Denn drei groteske Horrorbücher, die mit jedem Band, jedem Kapitel, jedem Absatz, manchmal sogar von Einzelformulierung zu Einzelformulierung immer unwahrscheinlichere Sachen erzählen, sind, glaubt man, keine Ausschnitte aus globalen Vorgängen, die alle betreffen. Und hohe Kunst sind sie auch nicht – meint man jedenfalls, denn von der hohen Kunst, soweit man überhaupt glaubt, dass es so etwas gibt, meint man zu wissen, man werde davon irgendwie ein besserer Mensch, auf ähnliche Art, wie man bei aufmerksamer Wahrnehmung von Nachrichten und sorgfältiger Bildung von Meinungen ein klügerer Mensch wird.

Hohe Kunst erzieht zur abstrakten ästhetischen und moralischen Reife, die Informationsgesellschaft erzieht zur sozialen Wirklichkeitstauglichkeit.

Ohne die Fesseln des Biedersinns

drive in plakatjpgDie drei Romane der „Drive-In“-Trilogie passen dazu nicht. Sie pfeifen auf Reife und Wirklichkeit; sie pfeifen eine bizarre, fiese kleine Melodie. Der erste Band handelt von einer Gruppe von Menschen, die in einem Autokino plötzlich von jeglicher Wirklichkeit abgeschnitten wird, die diesen Ort umgibt. Die Menschen lassen daraufhin jeden Anstand fahren, zu dem sich die einzelnen Menschen vor diesem schicksalhaften Ereignis emporgearbeitet haben mögen. Innerhalb kurzer, allerdings nie genau gemessener, sondern seltsam verwaschener und verschmierter Zeit streifen diese Leute die Fesseln des Biedersinns ab. Man notzüchtigt einander, schlachtet einander ab und frisst einander auf. Was an Zivilisation übrig bleibt, sorgt lediglich dafür, dass es wenigstens in dieser Reihenfolge passiert. Für derlei grauenhaftes Verhalten wird der Sauhaufen schließlich mit einer Art elektrisch-cinematischem Hordengott gestraft. Der bringt die völlig außer Kontrolle geratenen Figuren unter seine Kontrolle, bändigt sie aber nicht, sondern stachelt sie zu noch viel schlimmeren Entgleisungen an. Das ist auf eine Weise schlimm, die beim Lesen viel Spaß macht, weil es immer Spaß macht, wenn man etwas Schreckliches erfährt, vor dem man sich nicht fürchten muss, weil es sehr unwahrscheinlich ist, dass es einem selbst jemals widerfährt.

Am Ende dieses ersten Bandes zerreißt der Schleier der Weltentrückung, der das Autokino vom Draußen trennt.

Eine kleine Schar Überlebender entdeckt, dass die Gegend, die jenseits der verwüsteten Stätte entmenschter Widersinnigkeiten liegt, die sie durchlitten haben, nicht mehr die Welt ist, aus der sie kommen, sondern die Heimat noch eigenartigerer Albträume als der eben überstandenen.

Die Offenbarungen eines Nihilisten

Der zweite Band entfaltet diese Vision, bis man inmitten von furzenden Sauriern, Serienmördern mit altmodi­schen Röhrenfernsehern als Kopf und Kinderschändung mit Todesfolge versteht, welches Weltbild hinter der gan­zen Sache steckt: die Überzeugung, dass man das Entsetzliche niemals daraufhin untersuchen sollte, was womöglich an Willen und Bewusstsein höherer Mächte dahintersteckt, weil man auf diese Weise nur etwas noch Entsetzlicheres entdecken kann.

Drive_in Saurier1794004Es ist, als läse man die Offenbarung eines Nihilisten: Nichts ist alles, und wer es verstehen will, holt sich Beulen am Gewissen. „Nichts“ ist nämlich nicht dazu da, verstanden zu werden. An „Nichts“ als Substanz der Welt muss man einfach glauben, beweisen kann man so was nie. Das Nichts ist in dieser Hinsicht ganz wie unsere Träume – sie sind weder wichtig noch relevant noch bedeutsam noch erbaulich. Aber wir töten und sterben für sie, weil wir für sie leben können.

Für Wichtigkeit, Relevanz, Bedeutung und Erbaulichkeit können dagegen nur Erziehungspersonen leben. Normale Menschen brauchen etwas, das wilder ist, lebendiger, nicht erziehbar. Und Fanatiker köpfen Leute für Wahnideen, nicht für zutreffende Daten in gewissenhaft ausgefüllten Tabellen oder für schöne Leistungen hoher Kunst.

„Es war so weit gekommen, dass nichts für mich wirklich war“, sagt der Ich-Erzähler in „Drive-In“. Das ist ein sehr zweideutiges Statement: Es bestreitet nicht, wie man bei oberflächlichem Lesen vielleicht glaubt, dass der Ich-Er­zähler sich noch in einer Art Wirklichkeit befindet. Es stellt vielmehr fest, wie der Name dieser Wirklichkeit lautet: Das Nichts. Diese Lebensauffassung verweigert sich allem, was vom zivilisierten Alltagsmenschen so verlangt wird, aber es ist (wie sich das für einen Ich-Erzähler, also eine Art Recorder, gehört) eine passive, eine wahrnehmende, keine tätige Verweigerung. Alles andere verneinen außer das Nichts: Das allein befähigt zum Ich-Erzähler des Grotesken.
Drive_in_Cover pulpmaster04Man kann jedoch einen Schritt weitergehen als er. Dann wird man dieses Nichts nicht mehr nur hinnehmen, sondern aktiv bejahen. Man verneint dann Nachrichten, globale Vorgänge, Meinungen und hohe Kunst, man bejaht aber außerdem ihr Gegenteil. Dieses Gegenteil ist etwas, das „Werte“, was immer das sei, frisst wie Säure. Diese Bejahung motiviert bei Joe R. Lansdale diejenigen Figuren, die wirklich böse sind, also nicht nur arme, verwirrte, notgeile, hungrige oder durstige Lumpen wie wir alle, sondern Leute, die das Schlimme mutwillig schlimmer, das Unverständliche absichtlich unverständlicher machen.

Unentrinnbare Sinnlosigkeit

Zum Beispiel der Typ mit dem Fernsehschädel im zweiten Band von „Drive-In“, der selbstbewusst sagt: „Ich würde lieber in einem Film sterben, als in der normalen Welt leben.“ Dieser Mann, falsch: diese Kreatur, die sich selbst im Wahn neu erschaffen hat und auf ihrem Gesicht, einem Glotzenschirm, allen anderen zeigen kann, was immer es ihnen zeigen will, glaubt fest an das, was nicht ist, und lehnt das ab, was ist. Wie sonst soll man einen Nihilisten beschreiben? Er versteht das Nichts nicht besser als seine Opfer, er ist nicht weniger verwirrt als diejeni­gen, die er quält, aber seine Stärke ihnen gegenüber besteht darin, dass er genießt, was sie fürchten und worunter sie leiden: den Gedanken der unentrinnbaren Sinnlosigkeit.

Nein, man darf die drei „Drive-In“-Romane nicht unterschätzen. Ihre heftige ästhetische Wirkung rührt daher, dass sie etwas mit obsessiver Detailbesessenheit ausgestalten, was im Horror-Genre sonst eher nur einzelne Schockszenen ergibt, hier eine Vignette, da einen Höhepunkt: den Abgrund.

Diese Bücher heben keinen Zeigefinger. Aber mit Moral, der Instanz, die so gerne den Zeigefinger hebt, haben sie dennoch zu tun. Sie handeln nämlich von etwas, das man zwar nicht sehen und nicht beschreiben kann, das aber kichert, wenn es so einen Zeigefinger abgebissen hat.

drive in cover_lansdaledriveinAlso noch mal: Erstens, in diesen Büchern ist das Nichts überall mitten im ereignisreichen Durcheinander. Zwei­tens, man kann es nicht verstehen, man muss es glauben. Das sind Behauptungen, die ja durchaus in einer ehrwürdigen monotheistischen Tradition stehen: Sagen nicht die großen Ein-Gott-Schriftreligionen von ihrer Zentralgestalt, dem unbewegten Beweger des Kosmos, er sei ebenfalls überall, und man könne ihn nicht verstehen, man müsse eben an ihn glauben? Lansdale verwandelt diese Überzeugungen von Drohgebärden einer Priesterverschwörung zu einer Aussagenverknüpfung von mathematischer Schlüssigkeit. Der Nachteil dieser Operation ist bloß, dass diese Gedanken in Lansdales Version viel bedrohlicher sind als in der Fassung der Religionen. Denn bei den Religionen gibt es wenigstens Vermittler zwischen einerseits der allgegenwärtigen Instanz, die alle fürchten sollen, und andererseits der Gemeinschaft der Furchtsamen. Bei Lansdale vermittelt niemand.

Der dritte Band der „Drive-In“Trilogie enthält eine düster lustige Parodie der Noah-Geschichte, die jede Hoff­nung zerstört, so eine Vermittlerrolle sei etwas, in dem ein Mensch jemals eine gute Figur machen könnte. Noah ist hier schlechterdings ein Idiot. Die Leute, die er auf sein Boot mitnimmt, von dem er nicht weiß, wohin er damit eigentlich will, murksen ihn ab, als sie das merken. Davon haben sie dann allerdings auch nicht mehr als von seinen Ahnungen und Planungen.

Kein Mogeln, nirgends

Propheten müssen viel erdulden: Lansdale hat seine Fans und das ganze übrige interessierte Publikum der „Drive-In“ Romane gelegentlich wissen lassen, dass die Arbeit an diesen Büchern nicht leicht war. Etwas so konsequent zum Hauptgericht zu erklären, was in der Horrorliteratur sonst eher Beilage ist, eben das Unbegreifliche, fordert vom Künstler alles. Denn es geht gegen unsere Instinkte. Wir wollen kein Nichts, wir wollen aus dem unerreichbaren „Ding an sich“, das die Welt ist, stets ein „Ding für uns“ machen. Das führt bis in rührenden Unsinn, der uns unterläuft, wenn wir das in Sinn verwandeln wollen, vor dem uns graut. Als im März 2015 eine Flugzeugkatastrophe 150 Menschen zu Tode brachte, schrieb ein Journalist im Internet den denk-würdig abstrusen Satz: „Das Unfassbare zu begreifen fällt schwer.“

Wirklich, man möchte diesen Menschen in den Arm nehmen und ihm gut zureden, in tröstlichem Ton: Nein, Schatz, das geht nicht. Das ist Quatsch, tut mir leid. Das Unfassbare zu begreifen fällt nicht schwer, sondern es ist einfach unmöglich. Sonst wäre es ja nicht unfassbar.

Lansdale19667

Foto: (c) Marijan Murat

Was wir übers Unfassbare so schreiben, denken und meinen, mogelt sich ständig um diese simple Wahrheit herum. Joe R. Lansdale mogelt in „Drive-In“ nirgends. Er nimmt sich die Sache zur Brust, nein: Er springt darauf wie ein Rodeo-Reiter auf einen sehr wütenden Bullen.

Elitesoldaten werden bekanntlich darauf gedrillt, auch härtesten Befragungen unter der Tortur zu widerstehen. Der Fernsehmoderator Larry King hat einmal einem solchen Soldaten die Frage gestellt, ob diese Übungen nicht letztlich unzweckmäßig seien, da doch die Soldaten, die man solchen Testfolterungen unterzieht, dabei jederzeit wüssten, dass ihnen nichts wirklich Endgültiges zustoßen könne, befänden sie sich doch in Händen von ihresgleichen. Der Soldat gab ihm die einzig richtige Antwort: Nein, das wüssten sie eben nicht. Denn auch Freunde können Fehler machen.

Die drei Bände von „Drive-In“ sind eine leichtere Folterübung. Es gibt keine Elektroschocks, kein Waterboarding, aber bis zum Äußersten strapaziert werden der gute Geschmack, die Schreckhaftigkeit, die Magenstärke und das Zwerchfell. Wir wissen, dass der Autor es nicht böse mit uns meint. Aber wir sind uns nie ganz sicher, ob er nicht demnächst doch einen Fehler macht, bei dem wir dann zwar nicht unser Leben, aber doch unseren Alltagsglauben daran einbüßen würden, dass man das Unfassbare, wenn es denn passiert, irgendwie begreifen kann.

Sehr viel mehr Spannung, als diese Unsicherheit hervorruft, kann Literatur nicht erzeugen. Wer geneigt ist, sie zu unterschätzen, sollte sich in Joe R. Lansdales sichere Hände begeben.

Es ist eine Erfahrung, die man nicht verstehen muss, um, wenn man sie gemacht hat, fest daran zu glauben, dass man ohne sie sehr viel ärmer wäre. Übrigens: Das Geheimnis grausamer Kunst ist das Mitleid. Sie spricht es nicht aus. Sie bewahrt es in ihrem schwarzen Herzen, und weil sie es sicher bewahrt, schlägt dieses Herz sehr stark.

Dietmar Dath

(Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Heyne Hardcore.)

Joe R. Lansdale: Drive-In. Die Trilogie erstmals in einem Band (The Complete Drive-In, 2010). Roman. Deutsche Erstausgabe (bis auf Band 1, der war Pulp Master 04). Aus dem Amerikanischen von Dietmar Dath und Alexander Wagner. Mit einem Vorwort von Joe R. Lansdale und einem Nachwort von Dietmar Dath. München, Heyne Hardcore 2015. Klappenbroschur, 736 Seiten, 14,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch und hier zum Autor.

Joe R. Lansdale besprochen bei CrimeMag.

(Foto Joe R. Lansdale: (c) Marijan Murat)

 

Tags : , ,