Kleine Kriminalistik für Krimis
Heute: Nur die Insekten sind Zeuge. Wer eine Leiche innerhalb von 14 Tagen in ein Skelett verwandeln will, braucht kein Säurebad, sondern sommerliche Temperaturen und ein ruhiges Plätzchen in der Natur. Die Arbeit machen Insekten. Die Wissenschaft, die sie dann zu Zeugen aufruft, heißt forensische Entomologie.
Vor mehr als 700 Jahren wurde in einem chinesischen Dorf ein Mann in einem Reisfeld mit einer Sichel umgebracht. Der Dorfrichter ließ die Reisbauern ihre Sicheln auf den Dorfplatz auslegen. Alle waren sauber. Doch dann landeten die ersten Schmeißfliegen auf einer. Der Besitzer gestand den Mord sofort. So hat es der chinesische Jurist Sung Tz’u Mitte des 13. Jahrhunderts beschrieben.
Schmeißfliegen können kleinste Mengen Blut riechen. Sie fliegen Leichen praktisch im Augenblick des Todes an und legen Eier ab, aus denen sich in 8 bis 14 Stunden Maden entwickeln. Nach weiteren 8 bis 14 Stunden streifen die Maden ihre erste Haut ab. Das zweite Entwicklungsstadium dauert drei Tage. Im Sommer sind Gesicht und Bauch der Leiche nun von einer dicken Schicht wuselnder Maden bedeckt. Im dritten Stadium fressen dicke Maden sechs Tage lang. Danach kriechen sie vom Leichnam weg – auf gut sichtbaren Bahnen – und verpuppen sich in der Erde. Nach 12 Tagen schlüpfen neue Fliegen. Entomologen errechnen aus den Entwicklungsstadien der Maden die Liegezeit am Leichenfundort.
In Küstengebieten folgt der Schmeißfliege die Tangfliegenlarve, in bäuerlichen Umgebungen die Güllefliegenlarve. Käsefliegen landen auf der Leiche, wenn das Gewebe breiig ist. Löst sich der Körper auf, kommt die Latrinenfliege. Wenn kein weiches Gewebe mehr da ist, krabbelt der Speckkäfer. An Waldleichen knabbert der Waldmistkäfer, um seine Brutbauten zu versorgen. Auch kommen die Totengräber, das sind Käfer, die dann wiederum auch Larven fressen. Der Erdkäfer schließlich zerlegt Fett und Talg von Knochenresten. Bei guten Wetterbedingungen liegen nach 14 Tagen nur noch blanke Knochen herum.
Finden die Entomologen Larven, die für eine andere Gegend typisch sind, weiß man, die Leiche war vorher woanders. Aber nicht nur das. Entdeckt man ein paar Maden im Kofferraum eines Tatverdächtigen, kann man aus ihnen die Erbsubstanz der Leiche isolieren, an der sie sich befanden. Damit ist der Beweis erbracht, dass der Tatverdächtige diese Leiche in seinem Kofferraum transportiert hat. Und fressen die Maden auch noch das Genmaterial eines Vergewaltigers oder Blut eines Mörders, das sich an der Leiche befand, so finden sich, wenn man Glück hat, Spuren davon in den Larven, und man kann einem Tatverdächtigen die unmittelbare Beziehung zum Opfer nachweisen.
Aber es geht auch harmloser: Insekten an der Frontscheibe eines Fahrerflüchtigen beweisen unter Umständen, dass er doch am Abend durch die Mückenschwärme am See gefahren ist. Waldkäfer oder Ameisen in Reifenprofilen oder an Schuhsohlen beweisen, dass ein Leugnender doch im Wald war. Und so weiter. Insekten können jedes falsche Alibi in Ihrem Krimi entlarven. Das wäre mal was anderes als die üblichen Blitzer-Fotos.
Christine Lehmann
Christine Lehmann & Manfred Büttner: Von Arsen bis Zielfahndung.
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