Doch die Idylle trügt
Im September erscheint der Roman Nachtkrater von Christine Lehmann bei Ariadne. Ein Roman, der, so deutet der Titel an, auf dem Mond spielen könnte. Über den Mond und andere Regionen des Universums hat Christine Lehmann einen sehr beachtenswerten Aufsatz geschrieben, der in seiner ganzen Länge in dem Krimi-Heft der Zeitschrift Argument, Nr. 278 erscheinen wird, das hiermit schon einmal unserem pp Publikum ans Herz gelegt sei. Exklusiv für uns hat Christine Lehmann eine kompakte Fassung hergestellt, die wir Ihnen in zwei Teilen vorstellen möchten.
Krimis handeln von Liebe, Verrat und Tod. Eine Leiche, eine Intrige, ein Geheimnis und ein Held, der alles wieder in Ordnung bringt. Der Schauplatz ist beliebig. Oder doch nicht? Denn wenn es immer die gleichen Geschichten sind, die erzählt werden, dann wird der Schauplatz wichtig: Fremd oder vertraut. Und so richtig schön schaurig ist das Fremde im Vertrauten, der Serienkiller von nebenan.
Deshalb boomen Regionalkrimis.
»Ehrlich gesagt, habe ich bislang alle Krimis um Vincent Jakob gelesen«, schreibt Susanne Doering in Amazon.de. »Der Grund war in erster Linie der Spaß am Lokalkolorit. Auch die Sprache des Sauerlandes ist recht gut wiedergegeben. Dieser vierte Krimi von Heinrichs ist sogar richtig spannend, und das hebt ihn hervor gegenüber den drei Vorläufern.« Damit ist eigentlich alles gesagt: Es ist lustig, die heimatlichen Namen zu lesen und eine Schauergeschichte erzählt zu bekommen. Gut muss der Krimi nicht sein.
Der Krimi …
… ist eine Gattung mit strengen Regeln, die inzwischen in Schreibwerkstätten gelehrt werden. Spannend muss er sein, der Plot soll überraschen, Kommissar Zufall sollte es nicht übertreiben. Autor/innen müssen nicht nur kriminelle Fantasie haben, sie müssen sich auch auskennen in einem Milieu, in Leichenerscheinungen, Toxikologie, Betäubungsmittelrecht oder einer GmbH. Nicht so schwierig, seit es Internet gibt, was die Versuchung erhöht, einen Krimi zu schreiben.
Also setzt sich der Zahnarzt in Scheeßel an der Wümme hin, denkt an Conan Doyle und Dashiell Hammett und beschreibt den Foltertod einer Frau – der Ehefrau eines Zahnarztes – auf dem Zahnarztstuhl. Der Verlag, der diese Geschichte drucken will, muss sich nur fragen, ob die Energie des scheidungsgekränkten Zahnarztes auch für einen weiteren Krimi reichen wird. Denn ein zweites Mal kann er nicht seine eigene Geschichte erzählen.
Warum schreibt man überhaupt Krimis? Weil man berühmt werden will? Weil es leicht ist, mit Regionalkrimis einen Verlag zu finden? Weil man an der Realität leidet und schreiben muss? Ich zum Beispiel krepiere schier an den Grausamkeiten alltäglicher Kommunikation in Machtverhältnissen und bin zugleich erfreut, dass Leute so gern Regionalkrimis lesen. Aber das Etikett juckt auch. In meinem siebten Krimi habe ich deshalb meine Protagonistin Lisa Nerz auf den Mond geschossen, und zwar von Friedrichshafen aus. (Nachtkrater/Ariadne 2008). Die Idee kam mir, als ich von einer Lesung in Balingen (Allmachtsdackel, Ariadne 2007) heimfuhr, den Mond über der Schwäbischen Alb hängen sah und mich fragte: »Und wo um Himmels Willen soll Lisa Nerz als nächstes ermitteln?« In Künzelsau oder Krumbach? Wohin will ich mit meinen Krimis? (…)
Unheimliches Deutschland
Ehe der deutsche Krimi was werden konnte, musste die unfassbare Monstrosität des Nationalsozialismus verdaut werden. (…) Diogenes, Rowohlt und Goldmann gaben zwar ellenlange Krimireihen heraus, aber ohne deutsche Beteiligung. Der erste Deutsche, der von Rowohlt im Jahr 1965 (Gefährliche Neugier) gedruckt wurde, hieß Hansjörg Martin (1920–1999). Er schrieb altherrenwitzig, täuschte Realismus durch pedantische Ortsbeschreibungen vor und hat auf Jahrzehnte den deutschen Fernsehkrimi verdorben. Sein bürgerliches Personal, der Kommissar mit guter Nase und Spießerseele und die Rotlichtmilieu-Erotik ist uns ekelhaft vertraut aus der Villenwelt der Derrick-Krimis (1974–1998), konzipiert und großteils geschrieben vom ehemaligen Kriegsberichterstatter der Waffen-SS, Herbert Reinecker (1914–2007). Böse sind jeweils Industrielle, schwachsinnige Söhne und gut frisierte habgierige Frauen. Und das, obgleich eine Studie aus den siebziger Jahren zeigt, dass damals keine einzige Frau aus der Mittelschicht und höher wegen eines Tötungsdelikts in einem deutschen Gefängnis saß (Elisabeth Trube-Becker: Frauen als Mörder, Goldmann 1974).
Mit dieser oder einer ähnlichen Prägung schreibt der Zahnarzt in Scheeßel an der Wümme allein am Schreibtisch seinen ersten Krimi zum Nachteil seiner Ehefrau, träumt vom Ruhm und betreibt infantile Selbststilisierung in der Figur des einsamen Ermittlers, der sich einen Schuldigen für seine Misere ausguckt.
Aufbruch ins Böse
Da sind die Krimi-Frauen anstößiger, zum Beispiel Patricia Highsmith (1921–1995). Mit ihrem Talentierten Mr Ripley (1955) führte sie vor, dass uns der Täter mehr interessiert als sein Opfer und dass wir zu ihm halten, wenn er erfolgreich ist. Er nutzt charmant und gewissenlos die Gelegenheiten, sich zu bereichern, auch durch Mord. Und die Autorin lässt ihn straffrei ausgehen. Wir lachen unbehaglich. Denn wir haben begriffen, dass wir jederzeit aus geringfügigen Gründen töten würden, wenn wir wüssten, dass wir nicht bestraft würden. Die Dialektik der Konstruktion – lass dich nicht erwischen, und dir gehört die Welt, die so lieblos ist, dass du in ihr nicht leben willst – hat sich der Feminismus der achtziger Jahre zunutze gemacht. Aus Gründen weiblicher Selbstbefreiung dürfen Frauen ungestraft Männer ermorden. Prominenteste Vertreterin des Genres ist ab 1990 (Der Hahn ist tot) Ingrid Noll (1935), deren Krimis in Mannheim und Umgebung spielen, ohne jemals das Stigma des Regionalkrimis aufgebrannt bekommen zu haben.
Der unheimliche Mann von nebenan
(…) 1981 erschoss Marianne Bachmeier im Gerichtssaal den Mörder ihrer Tochter, weil er behauptet hatte, das siebenjährige Mädchen sei selbst schuld an dem, was er ihr angetan hatte. Und auf einmal entdeckte die Öffentlichkeit, dass auch Väter ihre Töchter zu sexuellen Handlungen zwingen.
Im Jahr 1985 wurde eine Freundin von mir von einem Triebtäter ermordet, der bereits zwei Frauen erstochen hatte. Wider alle Regel bekam ich sein Geständnis zu lesen und schrieb es in mein Tagebuch ab. »Ich bin auch ein Opfer!«, sagte er und meinte, Opfer seiner inneren Zwänge. »Ich muss die Mädchen überprüfen!« Er hat Hunderte überprüft. Auf Signale der Stärke, Freiheit und Unabhängigkeit. Einige musste er töten. Um Sex ging es nur am Rande. Hätte meine Freundin seine Absichten erkannt oder hätte sie Judo gekonnt, hätte sie eine Chance gehabt. »Er hat es nicht geschafft«, erklärte mir ihre Mutter grimmig und meinte damit, dass der Täter ihre Tochter zwar hatte töten, aber davor oder danach nicht hatte vergewaltigen können. Zuerst hatte sie sich gewehrt, dann war ihm die Leiche zu blutig gewesen. Was für ein Trost! Zwei Jahre später war die Mutter auch tot, an Krebs gestorben. (…) Seitdem weiß ich, was das Töten so inakzeptabel macht: Es zerstört das Leben der Angehörigen von Opfer und Täter.
Vielleicht wirkt darum mein erster Lisa-Nerz-Krimi (Der Masochist, Rowohlt 1997, Vergeltung am Degerloch, Ariadne 2006) wie im Delirium geschrieben. Ich wusste nicht wirklich, was ich tat. Die Männer sind erst Täter, dann Opfer. Bis heute kann ich es mit meinen Überzeugungen nicht vereinbaren, dass diejenigen, die in diesem Krimi töten, Frauen sind, und ich eine Lesbe zu der Bemerkung verführt habe: »So sind wir halt.«
Akademische Übungen
Die Bundesrepublik hat als Krimischauplatz eine Schwäche: Man traut ihr das geniale oder skurrile Verbrechen nicht zu. Es gibt keine überhitzten Millionenmetropolen und keinen Landadel. Die Mischung aus Dorfkern, Industrieansiedlung, Einkaufscenter, Rotlichtviertel, Tennisclub und Biobauer ist überall ähnlich. Alles ist austauschbar, nur die Straßennamen nicht. Das Bekannte wird zum Neuen. Der Kriminalfall ist dabei Nebensache. Denn der Regionalkrimi holt ein beliebiges Verbrechen in die Provinz und … löst Gelächter aus. Da schau her: Die italienische Mafia in Wangen im Allgäu. Hätte man nicht gedacht. Und dann passiert es, dass mich ein echter Staatsanwalt anspricht und mir darlegt, dass er das Vorbild für meinen fiktiven Staatsanwalt sein muss, denn er fährt denselben Wagen, stammt aus derselben Stadt und wohnt im selben Viertel. Man ist halt gern dabei. Der Regionalkrimi wird als Schlüsselroman gelesen.
Echt witzig!
Die mir Ende der neunziger Jahre meist gestellte Frage lautete: »Kennen Sie Donna Leon? Danach fragte man mich, ob ich Henning Mankell (1948) kenne. Derzeit lautet der Ratschlag: »Wenn du mal einen guten Krimi lesen willst, dann lies diese Allgäukrimis von … wie heißen die gleich? « Gemeint sind Klüpfel/Kobr (1971/1973). »Die sind echt witzig!«
In der Tat, wer Regionalkrimis liest, will und muss lachen. Der Regionalkrimi setzt auf das Gelächter, indem er seine Hauptfiguren – meist männlich – mit Zahnschmerzen, Ungeschick und Bauernschläue ausstattet. Der tückische Alltag ist der große Gegenspieler des Verbrechens, er hängt dem Detektiv wie ein Klotz am Bein, und wenn er darüber stolpert, lachen wir. Der Regionalkrimi braucht die Situationskomik, um sein eigenes ungläubiges Staunen über seine oft viel zu amerikanisch (mafiös) oder britisch (mathematisch) angelegten und kriminalistisch unsauber gelösten Verbrechen mit Ironie zu bestrahlen, als wollte er uns augenzwinkernd bedeuten: »Ich weiß ja selbst, wie hanebüchen die Geschichte ist. Aber dafür trittst du darin als Statist auf.« Und wenn eine junge Lokaljournalistin reflexartig die Frage stellt: »Wie kommen Sie darauf, eine islamistische Terrorzelle in Christazhofen anzusiedeln?«, antwortet er versiert: »Die Idylle trügt.« Und dann tun wir alle so, als ob wir tatsächlich die Welt auf dem Land für heiler halten würden als in der Stadt, oder überhaupt für heil.
Schluss mit lustig
Wer darüber nicht lachen mag, liest Krimis, die in Amerika, England oder Schweden spielen. Die wirken professioneller. Das mag auch daher kommen, dass ins Deutsche nur übersetzt wird, was im Ausland ein Mindestmaß an Erfolg gehabt und eine gewisse allgemeine Gültigkeit und kriminalistische Reife bewiesen hat. Deutschen Krimis dagegen hat niemand gefiltert. Für ihre Präsenz im Buchhandel und auf unseren Nachttischen gelten nicht die Kriterien des guten Krimis. Im Gegenteil: Das Hauptkriterium ist Vertrautheit.
Da sind dann allerlei midlife-kriselnde Ermittler unterwegs, die ihre kriminalistischen Kenntnisse aus dem Fernseh-Tatort zu beziehen scheinen und ihr Aktionspotenzial an James Bond ausrichten. Leser und Schreiber scheinen sich einig in ihrer Vorliebe für das Laienspiel-Motiv des einzelgängerischen Ermittlers – männlich, pessimistisch, intuitiv –, der von der Leichenschau bis zur Observierung eines Verdächtigen alles selber macht. Kriminalistik spielt kaum eine Rolle. Sie würde nicht nur die Irrungen und Wirrungen des Ermittlers überflüssig machen, sondern auch beispielsweise durch einen DNS-Abgleich aus der Frage nach der Identität des Täters eine Fahndung nach dem Tatverdächtigen machen. Der bundesdeutschen Wirklichkeit nähern wir uns so nicht. Und wenn der Krimischreiber weder Buchstabe noch Geist des deutschen Rechtssystems kennt, sind wir auch von der Lynchjustiz nicht weit entfernt.
Zum Beispiel heißt SEK nicht Sonder- sondern Spezialeinsatzkommando, und Polizei und Staatsanwaltschaft befragen und vernehmen, verhören aber nicht. Und es wird auch niemand von der Polizei verhaftet, sondern nur vorläufig festgenommen, es sei denn, es liegt ein richterlicher Haftbefehl vor. Das sind, oberflächlich gesehen, nur Sprachregelungen, doch sie sollen polizeiintern und -extern jeden Gleichklang mit faschistischem Zungenschlag unterbinden. Die Selbstherrlichkeit des Krimi-Kommissars würden wir selbst auch nicht tolerieren, wenn sie sich gegen uns als Tatverdächtige richtete (heimliches Wühlen in meinen Schubladen, durch Tricks erschlichene Geständnisse, Brüllereien). Darf der deutsche Krimi der Rechtsstaatlichkeit so fremd bleiben? Darf er immer wieder das Recht beugen, um einen Täter zu überführen? Wie soll man den Regionalkrimi jemals ernst nehmen, wenn er Lokalkolorit mit Laienkriminalistik und Lynchjustiz mischt?
Teil II
Aber die Gesellschaftskritik
(…) Wenn der Sportbürgermeister seinem Vetter einen Millionenauftrag zuschanzt oder der Landrat Kinderpornos vertreibt, dann ist es eigentlich Sache der Lokalpresse, die Wahrheit öffentlich zu machen. Ein Krimiautor, der dasselbe tut, nur fiktiv, hat damit keine Wahrheit entdeckt. Er skandalisiert nur, was Medien täglich durch Nachrichten, Regenbogenblätter und Talkshows kloppen.
Viele Regionalkrimis werden mit journalistischem Blick geschrieben und haben überregionalen Erfolg, weil ihre Informationstechnik dem Spiegel-Leser vertraut ist. Ist das nun gesellschaftskritisch? Solange man Krimis zufrieden lächelnd liest, kratzen sie nicht ernsthaft an unserer Seelenruhe. Wieso sollte der schreibende Zahnarzt aus Scheeßel an der Wümme den Spiegel-Lesern auch an Durchblick überlegen sein? Der Regionalkrimiautor betrachtet genauso misstrauisch und verständnislos wie seine Leser die globalen Finanzmärkte und lokalen Schildbürgerstreiche. Und er schwankt wie sie zwischen Verschwörungstheorie und Verdauungsstörungen nach dem Genuss von Kässpatzen.
Der Kampf um den Großmummerich
Der Krimi beruhigt sogar, denn er isoliert Gewalt und ordnet sie Personen zu, die man vernichten kann. Zum Mord gehören immer niedrige Beweggründe. Die juristische Definition macht das Individuum für die Tat verantwortlich. Auch wenn im Umfeld Kontrollen versagt haben mögen, es ist der Täter selbst, der seinen Steinzeitgefühlen erlegen ist, die man unter dem Begriff Herrschsucht zusammenfassen kann. Denn, egal ob Eifersucht, Raubmord, Terroranschlag, Kindstötung oder Blutrache, da ist immer ein Mensch (meist männlich), der es nicht akzeptieren will, dass er sein eigenes Sein und Haben nicht ganz allein bestimmen darf. Und gerade Dominanz (nicht der Kompromiss) ist ein so anerkanntes Gesellschaftsprinzip, dass der Krimi es nicht hinterfragt. Er braucht es sogar, nicht nur für seine Bösewichte, sondern auch, um seinen Ermittler zum Sieg über einen Verbrecher zu führen. Weshalb es im Krimi gute und böse Gewalt gibt.
Doch solange der Krimi nur die eine Seite der Gewalt anschwärzt, ist er unendlich naiv. Er handelt vom kindlich lauten Krieg der Rosen (Astrid Lindgren, 1907–2002, Kalle Blomquist lebt gefährlich, 1951). Weil es das Identifikationsangebot so will, sind die Weißen Rosen die Guten und die Roten Rosen die Bösen im Kampf um den Großmummerich. Und bei den Guten heiligt der Zweck durchaus die Mittel. Krimis bestätigen unseren Glauben, dass der Gewalt nur mit Gewalt beizukommen sei, im besten Fall mit staatlicher. Er stellt nicht die Denkmuster in Frage, die zu einer Gewalttat führen: gekränktes Ego, Machtsicherung. Für die hat er sogar Verständnis. Affekt und Kontrollverlust werden von uns entschuldigt und vor Gericht als mildernde Umstände gewertet.
Aber muss der Krimi überhaupt Gewalt verdammen? Er muss es nicht, solange er gelesen wird. Er lebt davon, dass uns Gewalt auf der einen Seite erschreckt, auf der anderen notwendig erscheint. Männer definieren sich über Stärke, also Gewalt, Frauen über Opferrollen und Ohnmacht. Es ist ein komplexes Spiel in beängstigendem gegenseitigem Einverständnis, zu dem auch gehört, dass Krimis zur Hälfte mit der zu erwartenden Überraschung enden, dass eine Frau die Tat gesteht und erklärt: »Das habe ich nicht gewollt.« Tatsächlich sind Totschlagdelikte bei Frauen so selten, dass dem Krimiautor sein Plot wohl selber unwahrscheinlich vorkommt, weshalb er aus der Tat eine Panne macht.
Krimis von unten
Der männliche Krimiautor ist überhaupt arm dran. Er steht auf der falschen Seite der Gewalt. Unter denen, die töten, sind zu 90% Männer, unter denen, die schlagen und misshandeln sind es sogar 97%. Die Strafverfolgungsstatistik von 2006 weist 400 Männer aus, gegen die wegen eines Tötungsdelikts ermittelt wurde, aber nur 41 Frauen. Bei den Körperverletzungen waren es 1993 Männer und 66 Frauen. (Statistisches Bundesamt online) Vielleicht tappen deshalb so viele fiktive Ermittler depressiv durch Fälle und Kleinstädte. Und da es meist Frauen sind, von denen der Autor sich betrogen und verraten fühlt, kommt vielfach zur Misanthropie ihrer Helden die Misogynie hinzu.
Bei Frauen, die Krimis schreiben, ist das komplizierter. In schätzungsweise 80% der Fälle sind Frauen die Opfer von Verbrechen, die Opfer gesellschaftlicher Einschränkungen und Verachtung sind sie sowieso. Oft finden sich in Frauenkrimis deshalb anarchische Elemente. Sei es, dass die Opfer männlicher Untaten sich raffiniert rächen, Ermittlerinnen der Männermacht eine Niederlage verschaffen oder dass Detektivinnen sich der Geschlechterrolle verweigern. Oder sei es, dass sie mit den Regeln der Sprache, Syntax und Dramaturgie brechen.
Krimiautorinnen, die Männerherrschaft als Ursache allen Übels vorführen, sind allerdings in Gefahr ein anderes, noch entehrenderes Etikett aufgeklebt zu bekommen: Frauenkrimi. Vielleicht sind die Barcelona-Krimis von Alicia Giménez Bartlett (1951) nie so berühmt geworden wie Donna Leons Venedig-Krimis, weil sie eine Inspectora und keinen Comissario ermitteln lässt und weil sie jeden Dialog auf Macho-Machtgehabe untersucht (was kein männlicher Autor kann!). In Boten der Finsternis (1999) bekommt ihre Inspektorin abgeschnittene Penisse zugeschickt. Ein Einfall, auf den vermutlich ebenfalls nur eine Frau kommen kann. (…) Für das Thema Sex und Religion bringen Autorinnen jedenfalls die nötige Leidenschaft mit, geht es doch eigentlich um das lebensverachtende Prinzip patriarchalischer (religiöser) Macht in einem in sich geschlossenen System (mit Frauen als Helferinnen), aus dem die Opfer nicht fliehen können, also im Kern um das Gewaltsystem Familie, dem wir als Kinder weitgehend ausgeliefert sind.
Versteckt in der Regionalität
Als ich Anfang der 90er Jahre meine Serien-Figur entwarf, sollte sie vor allem eines nicht sein: schon mal dagewesen. Folglich durfte es weder der melancholische Detektiv mit Frauenproblemen noch die rothaarige Privatdetektivin mit Katze und chronischem Geldmangel sein. So ist Lisa Nerz entstanden, eine Figur, die auf der Gender-Grenze balanciert und mal nach der einen, mal nach der anderen Seite kippt. Schon im zweiten Krimi (Gaisburger Schlachthof) sprengt sie komödiantisch die vertraute Geschlechterordnung. Sie agiert im Sportstudio ihr Problem mit ihrer Identität – Bin ich Mann oder Frau? – so vehement aus, dass plötzlich rundum aus Männern Frauen und aus Frauen Männern werden. Wenn es auch das Fitnessmilieu ist, dass mir diese Entwicklung aufzwang: Denn im Fitnessstudio geht es nun einmal darum, den Körper umzumodeln.
Für meinen fünften Krimi, Höhlenangst (Ariadne 2005), habe ich erstmals auf eine lokale Besonderheit gesetzt: die Höhlen auf der Schwäbischen Alb. Eine klaustrophobische Geschichte, die auch von der ständigen männlich-genitalen Selbstprüfung handelt. Höhlenmünder sehen alle aus wie Muschis.
Und zum ersten Mal deutete sich der Erfolg an, den Regionalkrimis haben. Erstaunlich, denn Lisa Nerz hat nichts von ihrer queer-köpfigen Anarchie verloren. Offensichtlich verzeihen Leser/innen einem Krimi alles, was irritieren könnte, wenn sie nur ihre Gegend im Buch wiederfinden. Auch die Balinger (Allmachtsdackel, 2007). Ich hatte im Fernsehen einen Film über eine wilde Rinderherde in Balingen gesehen. Und weil es in Balingen eine Waagen-Industrie gibt, war ich bald beim »gewogen und zu leicht befunden«, dem Jüngsten Gericht und Religion. An der Rinderherde, die nicht vom Stier, sondern von einer Kuh geführt wird, kristallisiert sich die Frage: Ist die Biologie unser Leitsystem für Geschlechtsverhalten und Machtstrukturen? Dabei erweist sich der religiös-faschistische Ordnungsruf: »Das ist Unnatur!« als Falle, gerade weil es in der Natur alle denkbaren Lebensvarianten gibt, bis zur Jungfrauengeburt (Parthenogenese). (…) So könne Orte auch ihre eigene Geschichte generieren und den Regionalkrimi schaffen. (…)
Auf der Welle mitschwimmen ist geil, aber Lisa und ich fühlen uns wohler, wenn wir Wirbel im Fluss verursachen. Also habe ich Lisa Nerz jetzt auf den Mond geschickt (Nachtkrater). Zugleich ermittelt sie bordsteinkantengenau am Bodensee. Ich wollte die Diskrepanz auf die Spitze treiben, die ich im Krimi mit Lokalkolorit so oft bemerkt habe, den Gegensatz zwischen Fachwerkfassaden und Weltverschwörung: am Bodensee eine Maibaum-Wette, auf der Mondstation Nationalitätenkonflikte und als Antimaterie im Kosmos die Lisa Nerz’sche Schicksalsfrage: Müssen wir uns eigentlich immer wie Frauen und Männer benehmen, gibt’s nicht noch ein Drittes? (…)
Christine Lehmann
Gekürzte Fassung eines Textes, der im November in Argument, H. 278, „Krimi“ erscheinen wird: www.argument.de