Geschrieben am 15. Januar 2017 von für Crimemag, Film/Fernsehen

Filmessay: Dominik Graf über Nachkriegs-Körper

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Hansjörg Felmy 1957 in dem U-Boot-Film „Haie und kleine Fische“ (Foto: Deutsches Filminstitut – DIF)

„HUNDE WOLLT IHR EWIG LEBEN?“

Einige Männerbilder und ihre Darstellungsstile im west-deutschen Nachkriegsfilm
– Von Dominik Graf.

1 Kollektives Trauma

1996 plante ich gemeinsam mit dem Filmkritiker Michael Althen einen kurzen Dokumentarfilm über meinen Vater, den Schauspieler Robert Graf. Ich schrieb mir vor den Interviews mit den BRD-Film-und Theater-Persönlichkeiten, die uns wichtig für das Erinnern schienen, meine dringendsten Fragen an sie auf. (Und schrieb mir auch in Klammern gleich die möglichst erwünschtesten Antworten dazu.) Eins der zentralen Rätsel für mich war: „Haben die Älteren untereinander und mit ihren Kindern über den Krieg gesprochen?“ (In Klammern stand in meinem Skript: ‚Nein, natürlich haben sie nicht darüber geredet.‘)

Der erste Partner war der Film- und Fernseh-Regisseur Franz Peter Wirth. Der antwortete spontan in seinem schönen Hochbayrisch: „Ja, hammer schon!“ Es rutschte mir für einen langen Moment das Herz in die Hose, denn ich sah meine Argumentationskette der kulturellen Nachkriegs-Neurose am Horizont untergehen. Aber plötzlich, innerhalb von zwei Sekunden verfinsterte sich Wirths Gesicht, und er setzte kurz hintereinander: „Aber nicht so viel … merkwürdig nee, das war immer so … ee, man wollte … (Atemholen, neuer Ansatz:) Alle, die aus dem Krieg einigermaßen nach Haus gekommen sind und wirklich den Krieg erlebt haben, die haben eigentlich nie besonders davon erzählt … vor allen Dingen nicht die schlimmen Situationen, oh nee … Man wollte das nicht, das war vorbei, man hat gedacht: ‚auf zu neuen Ufern’…“ Und er machte dabei eine abwehrende, von sich schiebende Geste mit beiden Händen, die alle anderen Gesprächspartner nach ihm fast identisch ebenso – man muß sagen „vollführten“. Eine Geste erläuterte uns – Michael Althen und mir – das Innenleben einer Generation.

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Robert Graf (Foto: Absolut Medien)

Jener Bereich der professionellen Seelenforschung, der sich soziologischen Erscheinungsbildern annähert, der Generationskonflikte durchleuchtet und Erklärungen sucht, der attestiert den unmittelbar 2. Weltkriegs-Nachgeborenen, also den jüngeren Brüdern und den Kindern, seit etlichen Jahren bereits ein gleichsam ebenso quälendes Trauma wie den Frontsoldaten und anderweitig Kriegs-Beteiligten selbst.  Dieses Trauma quasi aus zweiter Hand entstand aus Schweigen und Verdrängen, aus Emotions-Strategien, die den Älteren sowohl das Weiterleben, den gepredigten „Wiederaufbau“, das Verfälschen der kollektiven Erinnerung, wie auch das Verscharren ihrer Schuld ermöglichten.

Jene, die zu jung waren, um noch eingezogen zu werden (und die mit dem berüchtigten Helmut Kohl-Spruch von der „Gnade der späten Geburt“ ein für allemal im Rundumschlag exkulpiert wurden)  und die Kinder der Soldaten haben die zu Unnahbarkeit und Schweigen neigenden Verhaltens-Taktiken ihrer Eltern erlebt, haben teils dagegen aufbegehrt (RAF!) oder sie haben sich ein- und untergeordnet. Und haben dann später die Beschädigungen, die sie aus dem Stillhalten der Eltern empfangen hatten, wie automatisiert wiederum an ihre Kinder weitergegeben. Somit haben wir inzwischen nun mit wissenschaftlichem Güte-Siegel eine dritte Generation „Kriegs-Traumatisierter“ in Deutschland.

Genauso gab und gibt der deutsche Film seine Traumata ewig weiter. Mir scheint jedoch, das Genom des deutschen Kinos und seine inneren Trauma-Anteile sind noch nicht wirklich entschlüsselt. Wie setzten sich die Verdrängungen, die Ausweich-Strategien oder dann auch die ständigen Streitereien und Graben-Kämpfe im deutschen Kino in den nächsten Generationen fort? Man muß in die Details der Filme selbst gehen. Und ein noch recht unerforschtes Detail, das scheinen mir die darstellerischen Mittel und Ausdrucksformen im Lauf der Wellen und der Moden zu sein.

theweseleit7Im Folgenden möchte ich eine Art kleines Typologien-Theater der westdeutschen Nachkriegs-Kino-Schauspielerei vorstellen, ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit. Es ist der Versuch eines Regisseurs, nicht der eines Film-Wissenschaftlers. Aber ich hatte und habe stets Fragen an die Stimmen  und Körper der Vergangenheit. Zunächst vor allem an die männlichen Exemplare. Mein Vater war Soldat in der Ukraine gewesen und litt stark unter den Folgen eines Gewehrschusses in den linken Arm. Die Muskulatur und die Nerven waren zerstört, der Arm war quasi unbrauchbar. Er kaschierte diese Versehrtheit im Film und auf der Bühne, indem er so oft wie möglich etwas in die linke Hand nahm, ein Glas, ein Werkzeug, seine gesunde Hand, was auch immer. Der Defekt blieb unbemerkt. Nur die engsten Kollegen und Freunde wussten davon.

Er starb 1966 mit 42 Jahren. Ihm habe ich meine Fragen an die Kino-Geschichte von großen schauspielerischen Errungenschaften und Triumphen, und auch von Verbiegungen, Verkrustungen, von „Körperpanzern“ (Klaus Theweleit), die mich täglich in meinem Beruf immer noch umtreiben, nicht mehr stellen können.

2 Der sanfte Held

Artur Brauner erzählt, daß er in den 5oern während seiner  langen Zusammenarbeit mit der mächtigen Chefin des Münchner Gloria-Verleihs, Ilse Kubaschewski, für fast jeden Film die gleichen zwei deutschen Schauspieler-Paare ganz oben auf die Besetzungsliste schreiben sollte: „Traumpaar Nummer eins waren Rudolf Prack und Sonja Ziemann, zweites deutsches Paar waren Dieter Borsche und Maria Schell.“ Die westdeutschen Unterhaltungsfilme zelebrierten das denkbar bewährteste Erfolgs- System aus männlichen Helden/sehnenden Frauen und aus drumherum fröhlichem Personal, listigen Nebenfiguren und hampelnden Sidekicks, die für Auflockerung und Heiterkeit der Geschichte sorgten (und dabei häufig sogar mehr zu spielen und zu brillieren bekamen als das jeweilige Helden-Paar, dessen Erscheinungsbild vor allem unbescholten und liebenswert wirken sollte) immer wieder erfolgreich.

"Die große Versuchung" DE 1952 Dieter Borsche Foto: Rotary/Looschen/London Film

Dieter Borsche, 1952, „Die große Versuchung“

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Rudolf Prack, 1950, „Mädchen mit Beziehungen“ (Fotos: DIF)

Wir sind heute gewohnt, dieses Comedia dell`arte -hafte Schema zu belächeln oder auch zu beklagen, weil sich das ideologische Vorurteil festgesetzt hat, die klassischen Nachkriegs-Blockbuster à la Schwarzwaldmädel, Grün ist die Heide oder  Dr. Holl seien fast 2o Jahre lang durch die ewig identischen Formatierungen und Vorgaben gleichsam gelähmt in engen kommerziellen Ketten gehalten worden.

Aber wir wissen andererseits ja längst: selbst das ganz große Kino kann Formatierungen gut aushalten, es hat nichts einzuwenden gegen Rituale und Wiederholungen beim Erzählen. Gerade die serielle Herstellung von Unterhaltungsfilmen, in Hoffnung auf Befriedigung bestimmter Publikumserwartungen hat kinematographisch herrlichste Ergebnisse gezeitigt. Man denke an die Thriller- und Western- Genres,  und man denke auch bitte an den japanischen Großmeister Yasujiro Ozu mit seinen House-Movies im bewährten „Shomin Geki“- Genre. Vielleicht lohnt also ein genauerer Blick auf die Helden der Kassenschlager, der Heimatfilme und  Melodramen?

An Rudolf Pracks und Dieter Borsches zurückhaltendem Minimalismus im Spiel, an der Sanftheit der Gesten erkennt man gut die Sehnsüchte der Zeit. Ihre Stimmen klingen weich, ihre Manieren sind meistens blendend, manchmal wirken sie etwas abwesend.  In den Kuss- oder Umarmungs-Situationen mit ihren Partnerinnen (von Liebesszenen kann hier kaum die Rede sein) singt und summt die Welt um sie herum, möglichst ist es die heile deutsche Natur – als wären sie beschützt von den Engeln in einem Philipp Otto Runge-Gemälde. Selten lachen diese Helden laut, ihre Emotionen – bis auf das Sehnen nach der Partnerin – sind auch in Konflikt-Momenten gedämpft. Man mag argumentieren, damit sei die vordem bedrohliche deutsche Männlichkeit nach dem Groß-Massaker in Watte gepackt worden. Reiner Knepperges nennt dieses Kino – in Veränderung des von den nachfolgenden Oberhausener Rebellen geprägten polemischen Begriffs „Papas Kino“ lieber: „Mamas Kino“.

gunnar möller

Gunnar Möller und Maj-Britt Nilsson, 1956

Und hat damit sicher recht. Der Krieg war, mal abgesehen von fröhlicher Landser-Bündelei in wiederaufgebauten Wein- und Bierkellern, Hinterzimmern und Sportgaststätten der zerstörten Republik, zwar mit einem Schweigebann belegt – aber die männlichen Körper in der Öffentlichkeit waren ja sichtbar verwundet. Kriegskrüppel überall, fehlende oder nutzlos gewordene zerstörte Gliedmassen, Prothesen. Und stets Hinweis-Schilder, auf denen stand, diese Bank oder dieser Sitzplatz in Bus, Bahn, bei Veranstaltungen sei „für Schwerbeschädigte und Kriegsversehrte“ freizugeben.

Was sich bei Prack und Borsche in dieser erfolgreichsten Phase ihrer Karriere vor allem manifestiert (namentlich Borsche konnte ja auch exquisit dämonisch wirken, wie man später u.a. in etlichen Edgar-Wallace-Thrillern zu sehen bekam!) ist eine große Bescheidenheit ihres Spiels. Man meint bei Prack stets seine Selbstbeschreibung als „Frauenheld wider Willen“ mit zu spüren, und so fällt ihm die allseits entzückende Sonja Ziemann öfters mehr zu, als daß er sich um sie bemühen müsste. Sie sind beide, Prack und Borsche, keine Charmeure, sie sind selten ironisch oder witzig – das wäre viel zu offensiv- sie sind aufrecht und bescheiden, und sie bewältigen dieses Figuren-Spiel auf gleichsam sediertem, wie angeschlagenem Level. Aus heutigem Blick mit geradezu magischem Ergebnis.

Und auch die ganz großen Hits von Kurt Hofmann (Ich denke oft an Piroschka 1955) stellten der Schweizer Temperaments-Bombe Lilo Pulver, die ungemein vielseitig irgendwo zwischen „Natur-BurschIn“ und Tragödin angesiedelt war (und die ihre ganze komödiantische und erotische Stärke dann endlich in Wilders Eins Zwei Drei zeigen durfte) dann auch sanfte Männer gegenüber, bei Piroschka den begnadet zurückgenommenen Gunnar Möller (ein sehr interessanter Schauspieler, der im Leben alles andere als farblos war.)

Daß die Filmemacher der 60er-Avantgarde dann ungnädig mit diesem Nachkriegs-Genre der „schlechten deutschen Filme“ umgegangen sind, ist vielleicht als notwendig aufsässige Haltung verständlich, enthebt uns heute aber nicht der Aufgabe, sich die Gewürz-Kombinationen in der Trost-spendenden Funktion dieser Filme zu besehen. Die spezifische Art der Schauspiels wird hierbei – neben den ins Auge springenden Inszenierungs-Werkzeugen wie Musik, Lichtdramaturgie, Drehbuch-Struktur usw. – in ihrer Wirkung immer etwas unterschätzt, scheint mir.

herrscher-ohne-kroneo.w. fischer300Natürlich war das Männerbild der 5oer/60er-Filme und auch der Gesellschaft in Wahrheit viel komplexer. Die hochkomplizierte Spielweise eines Stars wie O.W. Fischer (nach Rudolf Prack der nächste Nummer Eins- Österreicher im deutschen Kino) öffnet da im Zusammenspiel von Sprachrhythmen und Körper-Ausdruck, wie in einem Tanz der sieben Schleier, andere Einblicke in die Schwerkräfte des Nachkriegskinos. Fischer, der ursprünglich von seinem Äußeren eher dem beliebten Typus des „Naturburschen“ zuzuordnen war (eine Männer-Kategorie, die damals auch die Entdeckung von erfolgreichen Sportlern als Schauspieler nach sich zog, Toni Sailer beispielsweise … und schon wieder ein Österreicher!). Ihm gelingt es, durch seine ausgestellte Nachdenklichkeit und stets überraschende Virtuosität alle Szenen binnen Sekunden an sich zu reißen. Fischer ist eine Rampensau sondersgleichen, er bündelt das Interesse sofort in seine Figur. Als fortschrittlicher Arzt Friedrich Struensee in Herrscher ohne Krone (Harald Braun 1957) im Zusammenspiel mit dem ganz jungen Horst Buchholz verschleppt er gestisch und sprachlich seine Einsätze oft höchst raffiniert. Wenn der malade König Buchholz ausnahmsweise mal aktiv wird, sich ihm öffnet, monologisierend an ihm vorbeigleitet, dann verharrt Fischer noch einen Moment in der vorherigen Haltung, bevor er ihm verzögert nachblickt. So als wolle er sagen: ‚Ich schau dir doch nicht gleich hinterher wenn du die Position zu wechseln beliebst … wer bin ich denn?‘ Und seine Pausen sind ohnehin Legende.

Fischers Sprache ist eine Art Singsang zwischen (behauptetem) Naturalismus und Rezitation. Daß er dabei durchaus eitel wirkte, tat seinem Erfolg, seiner Beliebtheit und seiner Ausstrahlung keinen Abbruch, denn der andererseits ausgestellte Ernst, das fast Philosophierende an seiner Darbietung sicherte ihm die Sympathie. Ja, O.W. war ein Verführer, aber einer, der ständig sichtbar mit sich ringt. Dies ist natürlich absolut herausragend in der Rolle des Märchenkönigs bei Käutners Ludwig II. (1955) zu sehen.

"Ludwig II. Glanz und Ende eines Königs" BRD 1954 Klaus Kinski, O.W. Fischer (v.l.n.r.) "Ludwig II. Glanz und Ende eines Königs" BRD 1954 Klaus Kinski, O.W. Fischer (v.l.n.r.)

Klaus Kinski und O.W. Fischer, 1954, in „Ludwig II. Glanz und Ende eines Königs“ (Foto: DIF)

Hier, zu diesem Zeitpunkt bereits 4o Jahre alt, kann er sämtliche Register ziehen, das Jungshafte, das Tiefsinnige, die Selbstzweifel, die Todessehnsucht, die Egozentrik, den Übermut, die Intellektualität. „Modernität“ des Spiels ist zwar keine schauspielerische Qualität an sich. Das traditionelle Spiel hat immer auch sein Recht, seinen Platz, seine Größe, gerade im deutschen Kino. Aber gegen diesen Erfindungsreichtum des Schauspielers Fischer verblasst alles.  „Jeder Mensch muß sich fügen“ sagt Ruth Leuwerick als Sissy zu ihm, anfangs, als er seinen beschwerlichen Regenten-Weg antritt. Aber Fischer als Ludwig (ohne Homoerotik ) symbolisiert natürlich das Unfügsame. Selbst der auch nicht gerade unterordnungswillige elf Jahre jüngere Klaus Kinski kommt da im selben Film nicht mit.

ludwig-IINun muß man auch dazu sagen, daß hier ein Regisseur agierte, der bis dahin noch jeden deutschen Darsteller zu Höchstleistungen geführt hatte. Selbst ein grandioser Schauspieler und Sprecher, konnte Helmut Käutner Tempi und Akzente setzen wie kaum ein Kollege seiner Zeit. Seine Kunst ist ja in der Mitte des Filmemachens verankert, er arbeitet dem Publikum unterhaltungsfreudig zugewandt, im Mainstream, oft dabei aber auch von einem klugen freundlichen, manchmal koketten Avantgarde-Gedanken geprägt. Insofern ist das, was bei Ludwig II. zusammentrifft vielleicht die allererste Mannschaft glanzvollen deutschen Filmemachens jener Zeit.

Fischers Spiel profitiert immer auch von der bewussten Kollision mit der „alten“ Schauspielerei. Gut zu sehen in seiner Szene mit Bismarck, idealtypisch verkörpert vom großen Friedrich Domin, der spricht und steht und sitzt wie ein altdeutscher Recke.

Mit dem spätestens ab „Ludwig“ zum Mega-Star gewachsenen Fischer vollzieht sich zur Mitte der 5oer hin eine Art „Hamletisierung“ des deutschen Nachkriegs-Kinohelden. Tiefsinnig, blendend aussehend, mitunter auch mal großartig komödiantisch, in sich forschend, den Schwächen und Verlockungen der Welt skeptisch nur halb zugewandt. Er ist das Bindeglied zwischen den beinahe geradlinigen Helden der Wald- und Heide-Filme und den kommenden deutschen Wahnsinnigen.

War die deutsche Star-Schauspielerei ab Mitte der 5oer über ihre Wunden heilende Funktion bereits hinausgewachsen? Hans Abich der Produzent der Wunderkinder und der Buddenbrooks betonte 1996:

„Wir waren natürlich weit davon entfernt, Besetzungen zu suchen, die per Stärke – per männlicher Stärke! – ein Stoffproblem lösten. Denn die Stärke der Männer war ja in hohe Verdächtigung geraten.“

"Des Teufels General" D 1955 Hans Meyer, Curd Jürgens (v.l.n.r.) "Des Teufels General" BRD 1954/1955 Hans Meyer, Curd Jürgens (v.l.n.r.) "Des Teufels General" BRD 1954/1955 Harry Meyen, Curd Jürgens (v.l.n.r.)

Hans Meyer und Curd Jürgens, 1955, in „Des Teufels General“ (Foto: DIF)

Zur Verfügung standen aber durchaus körperlich kräftige Helden, siehe einen wie Curd Jürgens (Jahrgang 1915 wie O.W. Fischer) namentlich im Teufels General (wiederum Helmut Käutner, im selben Jahr 1955 wie Ludwig II.).  Aber was spielt er da eigentlich genau? Einen unfügsamen, poltrigen, kraftstrotzenden General Harras, einen saufenden Frauenhelden und Soldaten aus Leidenschaft, der das Herz eigentlich auch irgendwo politisch auf dem rechten Fleck hat, daneben mit einer defätistischen Rittmeister-Mentalität ausgestattet, in deren Untergrund Todessehnsucht mitläuft. Genau so eine der tragischen preussischen Figuren, von denen Hans Scholz in seinem Roman Am grünen Strand der Spree hat sagen lassen, es habe jene Militärs gegeben, die sich am Nazitum rieben, die mit ihm haderten, die gar revoltierten und dennoch ihren Dienst versahen, manchmal mit dem klaren Ziel, am Ende in den Stiefeln zu sterben.

Verblüffend und dringend zur Kenntnis zu nehmen ist im General übrigens der Auftritt des Gegenspielers Viktor de Kowa als SS-Gruppenführer, wie er mit gefährlichem Kurzhaarschnitt und radikal durchdringendem Blick Harras zum Eintritt in seine Organisation überreden will: „Sie haben das Zeug zum Volksgeneral“, und „bei uns wird die Luftwaffe wieder zu dem, was sie war … bei uns ist Ordnung, Macht, Zukunft“.  Und ballt beide Fäuste. Jürgens rülpst ihm ins Gesicht.

Der Schauspieler de Kowa war UFA-Star quasi bis zur letzten Sekunde des NS-Regimes gewesen (Das Leben geht weiter, 1945). Einer, der 1944 noch auf  die Goebbels`sche „Gottbegnadeten“- Liste gesetzt wurde (auf der auch Fischer, Hans Albers und Ferdinand Marian standen), deren Zweck war, wertvolle Filmschauspieler vor dem Kriegseinsatz zu bewahren. Hier begegnen wir erstmals der erstaunlichen Kontinuität der westdeutschen Nachkriegs-Filmproduktion. Denn de Kowa hatte stets behauptet, er sei peter-voss-der-millionendieb-1932ab 1943  zum heimlichen Widerständler in der Reichshauptstadt mutiert. Man glaubte ihm offenbar und er war daher bereits 1946 wieder in Hauptrollen (Peter Voss, der Millionendieb) unterwegs, herausragend im grandiosen Zwischen Gestern und Morgen (1947, Harald Braun), dort gemeinsam mit Winnie Markus (Der verzauberte Tag), Willy Birgel (… reitet für Deutschland) und Sybille Schmitz (Fährmann Maria), dem Vorbild für Fassbinders unglückliche Diva Veronika Voss. Wie begegneten sich wohl am Drehort des General– Films Leute wie de Kowa und der noch junge Harry Meyen, der als Jude im KZ gefangen gewesen war? Wer wußte hier was voneinander? Nazis spielen sie beide. Der eine virtuos und bitterböse, der andere nur halb arisch und  daher eher verzweifelt … Ja, daß es fast ungebremst weiterging mit der alten UFA-Schauspielerei in der westdeutschen Demokratie, mit dem putzigen Heinz Rühmann (der sich vertraglich garantiert den Rohschnitt seiner Filme anschauen durfte, um eventuell allzu gelungene Auftritte seiner Partner dann eliminieren zu lassen), mit der prachtvollen Hilde Krahl und ihrem Ehemann Wolfgang Liebeneiner, mit Gründgens, Hoppe, Birgel, Zarah Leander und Ilse Werner usw., usw. … das wurde dem Kino jener Zeit schwerstens angelastet.

Aber war die zeitgenössische und  nachträgliche Empörung wirklich stimmig? Was wäre gewesen, wenn der Riese Heinrich George in Berlin die russische Haft überlebt hätte? Wenn Ferdinand Marian nicht mit dem Auto gegen den Baum gefahren wäre? Auch sie hätten natürlich weitergespielt. War das westdeutsche Nachkriegskino nicht eine – eben durch seine Kontinuität, seine Fortsetzung mit denselben Stimmen, denselben Gesichtern – völlig mit seinem Publikum harmonisierende Droge des Vergessens?  War das Verschwinden und der frühe Tod 1952 eines klassischen jugendlichen Helden des Nazikinos wie des geradezu engelhaften Horst Caspar (Schiller, Triumph eines Genies, Herbert Maisch, 1940 und  natürlich der notorische Kolberg, Veit Harlan, 1943) nicht schon genug als Beschwichtigungsopfer an die Rachegötter? Es ist leicht, die Bigotterie der 5oer zu schelten, aber ist nicht Verdrängungs-Kunst auch … Kunst?

„Man kann von einem 8o Millionen-Volk nicht erwarten, daß es geschlossen `mea culpa`macht …“ sagte 2011 der Autor und Regisseur Oliver Storz, einer der großen Autoren und Regisseure der ersten (und auch der späteren) Fernseh-Jahre. Und fügte hinzu: „Es ist trotzdem mein Problem geworden, wie wenig sich dieses Volk insgesamt damit auseinandergesetzt hat“.  Das Kino bildete eine Brücke über den Abgrund, den ja doch jeder spürte. Die Rechnung dafür war schon in Arbeit. Aber sie benötigte eine neue Generation.

Rosen im Herbst PosterCurd Jürgens‘ Auftritt als Testosteron-Ritter hat gerade den Frauenfiguren gegenüber auch seine Ungeschicklichkeiten, seine Übermotiviertheiten. Und es stellt sich die Frage, gibt es, gab es bei männlichen deutschen Schauspielern eine Souveränität im Umgang mit erotischer Leidenschaft? Das ist bei uns genetisch kaum vorgesehen, so scheint es, denn die meisten Männer im deutschen Kino winden sich bis heute wie Professor Unrat in Verzweiflung, Eifersucht, Demut, wenn sie sich dem großen Körper-Götzen Frau gegenübersehen. Aber Carl Raddatz – undurchschaubarster Schauspieler an der Schwelle von deutscher Dunkelheit und deutschem Licht – war da fundamental anders. Viele, die das deutsche Kino bevölkerten, rücken in ihrem Spiel, ihrem Toben, Beben, Kichern, Greinen, Leiden allmählich in die Ferne der Mimengeschichte des Überkandidelten, des versunkenen Weichzeichner-Starlight-Kinos. Aber Raddatz bleibt modern. Sein Spiel ist leichtfüssiges, tiefsinniges Preussentum, sein fantastischer Fontane-Auftritt in Rosen im Herbst (Rudolf Jugert, 1955) eine Sternstunde. Das angenommene C in seinem Carl spielte er immer mit. Und weil jeder seiner glanzvollsten Momente gleichzeitig wie von tiefsten Zweifeln zerrissen erschien, weil er keine Souveränität vortäuschte, war (und blieb) er so einzigartig souverän. Nie sieht man bei ihm auch nur die Andeutung einer Schwellung der maskulinen Erscheinung, eher sieht man Skepsis, Ironie und Zurückgenommenheit, ein Agent der Wahrheit des Männlichen und seiner tiefen Resignation. Und so einer war ein Star gewesen in diesem deutsch-germanischen Ursuppen-Irrsinn? Wo war denn die Dunkelheit bei ihm zu finden? Von der Nacht hat er was verstanden, denn nie hat ein Schauspieler die verwirrende Geräuschkulisse an einem nächtlichen deutschen Fluss schöner, sinnlicher, einleuchtender erklärt, akustisch herbeigezaubert als er es für Hannelore Schroth in Unter den Brücken tat, und das im Jahr 1944! Raddatz entfaltet dabei heute noch eine tiefe Sehnsucht in uns, es möge doch mehr wie ihn gegeben haben. Und sein Blick auf die beiden Frauen-Masken beim gigantischen Düsseldorfer Karnevalfest in Harlans Opfergang (1944; CrimeMag-Besprechung hier) ist pure lächelnde Melancholie, ist auch ein „sich-Fügen“,  aber eines in die Unvermeidlichkeit des eigenen männlichen Begehrens.

käutner in jenen tagenCarl Raddatz war aber nicht nur „Mann“, sondern auch eine mögliche Vaterfigur. Wenn man ihn sieht in der zärtlichen Schlussepisode von In jenen Tagen (Helmut Käutner, 1947) mit der hinreißenden Bettina Moissi (Tochter des weltberühmten deklamatorischen Star-Schauspielers Alexander Moissi, der das knarzende Idiom der deutschen Bühnensprache entscheidend beeinflusste), die aber nur fünf Filme gemacht hat … wenn man hier sieht, wie er zögerlich diese kleine Ersatzfamilie für eine Nacht und einen Tag gründet. Hätten solche Männer wie er, uns, die wir born in the Fifties waren und die wir keinen Deut mehr davon kapierten, wie es zu der uns vorangegangenen Katastrophe hatte kommen können – hätte einer wie er, uns beispielsweise den teutonischen Rausch im Nachhinein erklären können? Oder mit anderen Worten: Ist das Vaterproblem unauslöschlich verankert und verwoben mit dem deutschen Wahn? Hätten viele Raddatze es vielleicht lösen können? Die deutschen Väter waren immer so verflucht schwach gewesen seit dem ersten Weltkrieg, also mußten die dunklen Götter her. Ja, ich glaube, der Faschismus ist bis heute eher eine Frage der kränkelnden, der abwesenden Väter als der autoritären Schreihälse … Die 5oer brachten  für ganz Westdeutschland das Licht des Vergessens, sie gossen eine Überstrahlung des Glücksgefühls über das Überstandene aus, eine Überbelichtung, so hell, so geradezu imponierend verantwortungslos „wir sind’s alle nicht gewesen“, daß dahinter Dunkelstes brillant versteckt werden konnte. Wie auch immer: Raddatz war wieder dabei. Eine neue Falschheit regierte das Land, und – da darf man sich nicht täuschen: sie war wieder glitzernd, verführerisch.

des teufels generalCurd Jürgens´ imposanter und dennoch vom Autor Zuckmayr so gewollter, moralisch bankrotter „Volksgeneral“ und sein hocherotisches Spiel mit den zahlreichen Frauen in diesem Film ist totale maskuline Machtdemonstration, gleichzeitig Schwerenöter-Gehabe, mit Witz und im Kern mit Gebrochenheit, all in one sozusagen.  „Was machenS`n  da? Was wieselnherlich unfähigkeitS`n da so rum?“ grinst er breitbeinig Marianne Koch an, die ihm dann auch buchstäblich er-liegt in der vorschriftsmäßig abgedunkelten Küche beim Kaffeekochen.

Führt von solch frohsinniger „Stärke“, vom „normannischen Kleiderschrank“  (Brigitte Bardot) und seiner charmant nach vorne gedrückten Triebhaftigkeit nicht doch ein gewundener Weg zum überhöhten Nazi-Helden-Ideal der sogenannten „blonden Bestie“? Joachim Kaiser 1996 zum Thema deutschen Heldentums im Film und auf der Bühne der Nachkriegszeit:

„Es gab eine ganze Masse hochdramatischer Sängerinnen, in Bayreuth konnte man wunderbar die Brünhilde besetzen und die Isolde … aber einen richtig strahlenden und auch etwas brutalen Siegfried, der auch noch Stimme hatte und gut aussah, das gab es nicht. Und das gab es im deutschen Schauspiel auch nicht. Schon der Typus der `blonden Bestie`- Nietzsche-Zitat – der war nicht nur verworfen, weil einem dieses Heldische und Heroische, was ja nun wirklich von den Nazis übertrieben worden war, auf die Nerven ging, sondern das bot die Landschaft nicht mehr, das wuchs auch nicht nach.“

Man muß dazu Nietzsche nochmal wörtlich zitieren:

„Aus dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen; es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Tier muß wieder heraus, muß wieder in die Wildniß zurück; römischer, arabischer, germanischer, japanischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger — in diesem Bedürfniß sind sie sich alle gleich. Die vornehmen Rassen sind es, welche den Begriff ›Barbar‹ auf all den Spuren hinterlassen haben, wo sie gegangen sind.“

Deutschland hatte ja im In- und Ausland sehr beliebte, oft eingesetzte Nazi-Darsteller: Hannes Messemer, O.E. Hasse, Peter van Eyck und die tolldreisten Klaus Kinski, Horst Frank, Werner Pochath – zum Beispiel. Die einen von ihnen zutiefst melancholisch, manchmal kalt, manchmal tückisch sanft. Die anderen gingen nach Cinecitta und spielten die „blonden Bestien“ in den Italowestern  der 6oer. Spielten sie aber gar nicht mehr als irgendeinen Übermensch, sondern nur noch als diabolische Karikaturen. Womit wieder bewiesen wäre, daß die Geschichte als Farce zurückkehrt.

draussenvordertuer2_v-contentgross3  „Draußen vor der Tür“

Mit dem Eintritt der jüngeren Generation, geboren in den Zwanzigern oder Anfangs-dreißiger-Jahren veränderte sich die Spielweise der frisch zu besetzenden Jung-Männer-Hauptrollen fast völlig.

Die älteren dieser neuen Generation waren jugendliche Kriegsheimkehrer, verletzt an Leib oder Seele oder beidem. Der Jahrgang 1923 war der am stärksten dezimierte deutsche Jahrgang des Jahrhunderts,  eine gepeinigte Zwischengeneration, aufgerieben, in Gefangenschaft geraten, heimgekehrt, dort fallen gelassen, beschrieben in Wolfgang Borcherts Drama Draußen vor der Tür. Und die Jüngeren unter ihnen (Hans Jörg Felmy, geboren 1931 in Berlin, Horst Buchholz, geboren 1934 in Berlin, Mario Adorf geboren 1930 …) hatten teils noch den letzten Volkssturm erlebt, hatten vielleicht selbst am Westwall geschaufelt, waren in den Ordensburgen als Führer-Nachwuchs ausgebildet worden. Und sie hätten vielleicht auch noch jene „Werwölfe “ sein können, kleine deutsche Jungs, die bewaffnet bis auf die Zähne in den letzten Kriegs- und ersten Friedens-Tagen den Durchhalteparolen ihrer alten Führer noch glaubten und Guerilla-Morde an den Invasoren verübten, sinnlos, chancenlos, bis sie Walter Kolbenhoffs Roman Von unserem Fleisch und Blutalle geschnappt oder erschossen waren. Verewigt in Walter Kolbenhoffs Roman Von unserem Fleisch und Blut. Da schlägt sich ein solcher Junge mit Revolver in der Tasche eine Nacht lang durch eine namenlose, völlig zerbombte deutsche Stadt am Ende des Kriegs. Er wird von einer US-Militärpatrouille gejagt, entkommt ihnen zweimal nur knapp, er tötet zwei Menschen, zunächst einen Kameraden, der an der „großen Sache“ zu zweifeln begonnen hat, und am Ende, im Morgengrauen, einen alten Einsiedler auf einem Schrottplatz, weil der in ihm den Jung-Nazi erkennt und ihm den Unterschlupf verweigern will. Er schläft nach dem zweiten Mord völlig erschöpft endlich ein, die Waffe in der Hand. Ein Schluss wie eine Drohung. Kolbenhoff erzählt wie Franz Masereels Holzschnitte abbilden: Schatten huschen durch flammengeschwärzte Ruinen, atemlose Hetzjagd, sprachliches Stakkato mit mantrischen Wiederholungen bestimmter Denkmotive des Jungen, flehentliches Leben. Hass und Gegenhass, irgendwo verbuddelt auch Liebe … Alle die jungen und jüngsten Schauspieler der späteren 5oer und vor allem 6oer hätten dieser verführte Werwolf-Junge sein können – alle hatten die Hölle hinter sich. Als Jugendlicher oder Kind  hatten sie noch tote Verräter an den Bäumen hängen gesehen und hatten die schweren Nachkriegswinter in den Knochen. Sie hatten die erlittenen Schrecknisse in sich eingeschlossen und so spielten sie auch, aus einem verschlossenen Inneren heraus, introvertiert, schweigsam gewissermaßen. Ohne große Gesten. Die Sprache, die glasklare ungeschönte Beschreibung der Welt wie sie sie vorgefunden hatten, das war die Literatur ihrer Generation und nur die gab ihnen ein Gefühl der Richtigkeit. An die großen Bilder und Symbole glaubten sie nicht mehr.

messemer great escapeRossellinis Generale delle RovereKriegsteilnehmer war auch Hannes Messemer (Jahrgang 1924) mit seiner unnachahmlich leicht klirrenden, durch zahllose Zigaretten veredelten Stimme, eiskalter Vorzeige-Nazi in Nachts wenn der Teufel kam. Er wurde einer der in europäischen Koproduktionen am häufigsten besetzten Schauspieler jener Zeit, und ist vor allem noch in zwei weiteren, jedoch stark grüblerischen Nazirollen berühmt geworden, in Rossellinis Generale delle Rovere und als um Anständigkeit bemühter deutscher Lagerkommandant in John Sturges the great escape. Der Nachruf 1991 auf ihn in „Theater heute“ war betitelt mit „der Nervenspieler“. Und hier gibt es Parallelitäten zu den anderen jungen Männern: Im Nachruf der „Zeit“ von 1964  auf den ganz jung gestorbenen Theater-Star Klaus Kammer (geb. 1928) heißt es:

„… Dabei wurde deutlich, daß Kammer ein Nervenschauspieler war, geladen mit explosivem Temperament. Geheuer war es um diesen innen brennenden, äußerlich sich bändigenden Menschen nie. Die ihn privat kannten, verglichen Kammer mit einer Kerze, die an zwei Enden zugleich angezündet worden war …“

Wispern-Cover-5.inddIm schon mehrfach zitierten Dokumentarfilm Das Wispern im Berg der Dinge beschrieb Joachim Kaiser die Ausstrahlung meines Vaters Robert Graf :  „Er besass ein gewisses dämonisches Aussehen … und war dabei doch ganz und gar ein Nervenschauspieler – und zwar ein realistischer Nervenschauspieler.“ Ein leicht rätselhafter Begriff, der inzwischen aus der Mode gekommen ist. Oder gibt es nur keine „Nervenschauspieler“ in diesem Sinne mehr? Was war von den Kritikern jener Jahre damit gemeint? Sensibel? Feinnervig? Immer nervös? Knapp vor durchdrehend? Ja, wohl all das. Aus den Ruinen war eben nicht der germanische Heldenmensch entstanden, sondern es waren mehr oder weniger kaschierte menschliche Wracks, getaumelt, die mit 20 ein ganzes Leben schon hinter sich hatten.

Das altdeutsche Pathos im Spiel verschwand, es regierte Nüchternheit. All diese jungen Schauspieler hatten inzwischen amerikanische Filme en gros inhaliert, sie hatten die Körperlichkeit der US-Stars bewundert. Sie waren zwar keine Anti-Helden, aber sie fühlten sich einem Realismus – der sowohl äußerlich wie auch innerlich wirken sollte – mehr verpflichtet als jeder Art von hinausposaunter Fanfare. Im deutschen Kino hatten sie erstmal das zu spielen, was sie gewesen waren: junge Soldaten. Paul Mays 08/15 zeigte erste Auftritte von Joachim Fuchsberger (Jahrgang 1927), der später in der Edgar Wallace-Filmen, jenem fröhlichen Irrenhaus des bundesdeutschen Nachkriegs-Kinos Dienst tat als Scotland Yard- Inspektor mit standesgemäßer Pfeife und Regenmantel. Und 08/15 präsentierte auch das rheinische Kraftpaket italienischer Abstammung Mario Adorf, der später eine Weltkarriere erleben sollte.

haie und kleine fische

Vielleicht am eindringlichsten zu sehen, wie ein anderes deutsches Kino hätte sein können, bleibt der sehr untypische U-Boot-Kriegsfilm Haie und kleine Fische des USA-Heimkehrers Frank Wisbar (1957). Im Titelsong Verloren, vergessen (der von dem deutschen Jazz-Sänger Ralf Bendix markig gesungen wird, der seinen größten Hit mit dem Baby-Sitter-Boogie hatte!) heißt es bereits:  „… Gejagt und getrieben, wir waren ein großes Heer! Wo sind wir geblieben? Frag doch das weite Meer!“ Der erste Dialogsatz der 4 Kadetten im Film lautet: „Mir reichts!“ Und im Mannschaftsraum angekommen werden sie Vicco von Bülow, später der berühmte Karikaturist und Regisseur Loriot gefragt: „Wo haben sie euch denn losgelassen?“ Völlig unpathetisches Werk. Die ganz jungen H-J. Felmy und Horst Frank dienen unter den „Vätern“ Siegfried Lowitz, Wolfgang Preiss und Heinz Engelmann. Die Jungstars treten auf wie eine Rasselbande, eine freche Kriegs-Variation von Tresslers Halbstarken, befleißigen sich einer haie und kleine fische_rebellischen Sprache und eines schön gleichmütigen Tones, wie er noch ein paar Jahre zuvor unangebracht erschienen wäre. Aber gerade im Dramatischen zeigt sich die Stärke des neuen Stils: knapp, lapidar gehen die Schauspieler mit den Situationen um. Felmys flacher Berliner Duktus, gleichzeitig seine Jung-Männlichkeit mit unaufdringlichem Selbstbewußtsein machte aus ihm schleunigst den neuen Männer-Star. Die kleine Mimik  des Mundes wie er die Zigarette ausdrückt, um in einem Kneipen-Faustkampf seinem Freund Horst Frank zu helfen, dieses Zucken des Mundes, das sagt „naja, wenns denn sein muß“ – das ist sensationell und ist neu. Wisbars Bild-Erzählung ist dazu passend funktional, einfach, geradlinig, eher am amerikanischen Kino à la Hawks orientiert als an den brennenden Technicolor-Gespreiztheiten der 50er. Die Figuren, die Dialoge stehen wie selten im deutschen Kino komplett im Vordergrund, die heftigsten Schlachtszenen passieren weitgehend ohne jedes musikalische oder sonstige Gedöns. Ein Epos wie mit leichter Hand.

Deutet sich da eine zur wahren Lage der Bundesdeutschen Nachkriegs-Dinge viel eher passende Bilder- Bescheidenheit an? Eine lässige „Untertreibung“ des Filmischen, die allem anderen im Bild den Vorrang lässt? „Bevor wir zu einer Bildersprache gekommen sind, da mußte erst die neue Generation kommen, wir waren alles Dialogisten, immer nur Dialoge …“ (Hans Abich). Aber vielleicht entsprach das Bilder-Mißtrauen ja auch dem Gefühl, trotz Wiederaufbau nur als Ruine überlebt zu haben? Keine Werte mehr, keine Ideologie, Tabula rasa, Neuanfang, „Stille“ – das wars doch. Und:

„… Absoluter Kahlschlag, in der Literatur auch, weg vom Pathos, weg von der Tränendrüse, weg vom Bombast, da hat einem ja der zweite Weltkrieg gelangt … Jetzt ganz kühl, jetzt ganz aufs Gerippe reduziert – und aufs Wort.“ (Selma Urfer, 1996)

Und dementsprechend kam auch das neue Theater der Nachkriegszeit daher: Heiner Kipphardts und Rolf Hochhuths Historien-Stücke, karge Arrangements, Minimalismus pur. Ein Tisch und zwei Stühle auf der leeren Bühne, darüber spricht eine bürokratische Stimme über Lautsprecher: die historische Zeit und Ortsangabe für die Szene. Meist ging es darin um politische Lügen, Feigheiten, tragische vergessene Helden wie den ungarischen Juden Joel Brand, der versucht hatte, auf  Vorschlag Himmlers den Alliierten das Leben von einer Million Juden zu verkaufen. Unglaublich sachlich aufgearbeitet. Die Tränen kommen einem erst mit Zeitverzögerung. Nie verfilmt.

Intendant-Hans-Schweikart-Münchner-Kammerspiele+Programmheft-10-Münchner-Kammerspiele-1954-55-DERNatürlich hatte Bert Brechts Theorie vom „epischen Theater“ da seine Finger im Spiel. Reduktion aller Mittel, nicht mehr „spielen“ sondern „zeigen“. Abstraktion. 1955 erschien der schon schwer gezeichnete Brecht aus Ostberlin in den Münchner Kammerspielen bei den Proben seines Guten Mensch von Sezuan. Für den kranken Mann hatte Hans Schweikart die Inszenierung übernommen. Nach der Probe versammelten sich die Schauspieler und Schweikart um Brecht. Der merkte an, daß sie ja offenbar alle sein „Organon“ gelesen  hätten, die Lehre von der Distanz des Schauspielers zur Rolle . „Aber vergessts den Schmarrn! Spuits, spuits, ihr spuits doch guat!“ Laut Mario Adorf raunte ihm daraufhin mein Vater zu: „Typischer Atheist, auf dem Sterbebett bereut er.“ Darin liegt neben dem Sarkasmus auch ein Stückchen Enttäuschung, daß sich nun der irdische Gott des „Bloß-nicht-Identifizieren-mit-der-Figur!“ und des „Glotzt nicht so romantisch!“ spät selbst verleugnet.

Alexander-und-Margarete-Mitscherlich+DIE-UNFÄHIGKEIT-ZU-TRAUERN-Grundlagen-kollektiven-HandelnsFür ihn und seine Alters-Kollegen war der Schauspielerberuf neben der Freude daran auch Teil jener „Trauerarbeit“, die ihre Väter und grösseren Brüder nach dem Krieg nicht geleistet hatten. Es war  nun Zeit, die apolitische „Gefühlsstarre der Deutschen „, und „… der manischen Abwehr durch Ungeschehenmachen im Wirtschaftswunder“ (beides Mitscherlich-Zitate aus Die Unfähigkeit zu trauern) zu beenden. Die Vergangenheit mußte „aufgearbeitet“ werden und dieser wichtigen Mühe hatte sich auch das Theater – wenn das Kino sich schon darum zu drücken schien – zu unterziehen.

Und daneben das andere Kino – das Fernsehen, das anfangs noch ähnlich mit einem Bilderverbot der Nazizeit gegenüber rang, ebenso mit Mißtrauen gegenüber jeglicher Opulenz und großen Tönen erfüllt war. Theater und Hoch-Literatur bereicherten das neue Medium mit den einzigartigen frühen Studio-Fernsehspielen. Man sah vermeintlich statische Sprechpuppen in kargen Dekorationen. Oliver Storz konstatierte: „Wir konnten mit dem deutschen Kino nichts anfangen und die konnten mit uns nichts anfangen.“

Es ging  ja doch um die Suche nach der Unschuld, der Wahrheit. Das Wenig-Spielen war das beste Spielen. Kein Vertrauen mehr. Weder in die Darsteller noch ins Publikum. Oder besser: kreatives Mißtrauen!

der-arzt-von-stalingradDer Autorenfilm danach wagte dann den totalen Bruch mit dem kommerziellen System, und er nahm die großen Stars der späten 5oer dabei nicht mit. Viele von ihnen gingen ins Ausland. Die meisten ins Fernsehen. Vielleicht ist besonders diese deutsche Schauspieler-Generation eine fast Verlorene. Es häuften sich in ihr die früh Verstorbenen: Hanns Lothar, Klaus Kammer, Harry Meyen, Paul Bösiger, (Der Arzt von Stalingrad, 08/15 …), Thomas Braut (Haie und kleine Fische) Robert Graf … Und die, die länger lebten, hätten zynisch bilanzieren können: Erst kam der Krieg, dann kam der Autorenfilm (der einen wie Felmy in den deutschen Nachkriegs-Kino-Wald mit hinein subsummierte und ihn – wie andere – dadurch abservierte) – und dann kam das Fernsehen …

Ein spätes Interview des schon kranken Hans-Jörg Felmy gewährt noch einen anderen Einblick: „Ich habe gegen meinen Körper gelebt“ (Interview 1975, ein Jahr vor seinem Tod). Ich wage mal die These, das haben viele Männer dieser Generation. Unendlich viel geraucht, laut Zeitzeugen auch unendlich viel getrunken … und konnten und wollten nicht vergessen.

Bereits die nächste Zuschauergeneration konnte mit den Sprechstücken und mit den Abstraktionen – wie übrigens auch mit der „neuen“ Zwölftonmusik – geradezu wütend nichts mehr anfangen. Bleibt nun dieser fast einmalige Darstellungs-Stil also nur eine Episode? Oder wars doch eine der originellsten Konzeptionen der jüngeren Film- und Theater-Geschichte (hier ist auch das Fernsehen mit als „Film“ gemeint!) und wir müssen halt jetzt alle noch ein paar Jahrzehnte warten, bis das kulinarisch verfettete Publikum diese Art sparsamerer Mahlzeiten überhaupt wieder er-schmecken kann? Oder vielleicht müssen wir auf die Zeit nach dem nächsten Krieg warten?

Bis dahin schalten wir nochmal zurück in die westdeutsche Unterhaltungsbranche der 5oer.

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Klaus Kinski, 1962, „Das Gasthaus an der Themse“ (Foto: DIF)

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Robert Graf und Theo Lingen, 1960 in Géza von Cziffras „Gauner in Uniform“ (Foto: Deutsches Filminstitut – DIF)

4  Die Stunde der Komödianten und der Wahnsinnigen

Es gibt nationale Filmkulturen, in denen sich die temperamentvollen Wurzeln des Jahrmarkt-Theaters länger halten als in anderen. Die großen, heiligen Film-Ruhmeshallen der USA, Englands, Frankreichs, Italiens ähneln in ihrer Gesamt-Schau tosenden Messen mit Hunderten von Vaudeville-Aufführungen zu gleicher Zeit, in denen es tausendstimmig schreit und flüstert und grimassiert – wie’s halt immer verlangt wurde in der Filmgeschichte des jeweiligen Landes. Man erkennt die Fundamente solcher Schauspiel-Traditionen noch heute an den Spiel-Momenten der Darsteller, an einem Grundvertrauen in mimischen Ausdruck bis hin zur gekonnten exaltierten Übertreibung.

Das deutsche Kino gehörte einst ganz und gar den „Komödianten“. Der Begriff meint hier nicht nur Lustspiel-Darsteller, sondern auch „Charakter“-Schauspieler, energische Vollblut-Schauspieler, von Heinz Rühmann über Siegfried Lowitz über Wolfgang Lukschy zu Hanns Lothar, aber auch bis zu  Joseph Offenbach, Theo Lingen, Bum Krüger, Charles Regnier, Ralf Wolter oder Georg Thomalla und, und, und … Hier ballt sich überall Sprach-Kunst, Rhythmus-Gefühl, Spiel-Lust ohne Ende.

Meine Tochter, sie ist 13 Jahre alt, sagt, alle 5oer/60er-Jahre-Filme klängen „alt“. Vor allem die Sprache. Ja, das ging auch meinen Ohren so, als ich mich in den 7oern fast widerwillig fürs deutsche Kino zu interessieren begann. Aber es ist ja ein schönes Privileg des Älterwerdens, sich den Vergangenheiten allmählich näher zu fühlen, die Absichten der Darsteller und  Regisseure besser zu verstehen, und die stets kreischend verlangte „Zeitgemäßheit“ im Kino als ein völlig lächerliches Kriterium entlarven zu dürfen.

Kleine Ode an die unendlich brillanten Nebenrollen in der deutschen Filmgeschichte

Die Basis der Schauspielersprache im deutschen Tonfilm bildete die enorme Sprechkultur der Bühnen. Die Dialog-Sprache der Filme war bereits in den 30ern zweigeteilt in eine österreichisch eingefärbte Linie (diesen leichten Wiener Slang legten auch Schauspieler an – tatsächlich wie ein Kleidungsstück – die durchaus nicht aus Österreich stammten) und in eine preussische Berlin-Hamburg-Linie. Der Sprachunterricht an den Schauspielschulen trieb andere Dialekte und Tonfälle eigentlich (bis heute) gnadenlos aus, nur Nebenrollen durften im deutschen Kino Sprach-Färbungen andeuten. (Der Wiener Paul Hörbiger kann sich im Schwarzwaldmädel sogar am badensischen Dialekt versuchen.) Aber sie schufen auch erinnernswerte Auftritte: Mario Adorfs erstes Erscheinen in o8/15 traf auf Grund seiner heimatlichen rheinischen Sprachmelodie sofort ins Schwarze. Und hier müßte nun eine Ode an die unendlich brillanten Nebenrollen in der deutschen Filmgeschichte folgen! Dieses Toben und dieses Säuseln, diese ungeheure Spielfreude allenthalben! Mit einem Lächeln im Knopfloch, so lautet der Titel von Gustav Knuths Memoiren, in Abwandlung des bekannten Spruchs von der dort eigentlich zu verortenden Träne. Er deutet an, daß Knuth auf 50 Jahre saftigstes Schauspiel in deutschen Film, Fernsehen und auf der Bühne zurückblickte, auf extravaganteste „Supporting“-Rollen, von der unnachahmlichen Zugführer-Ansage jenes ungarischen Ortes, in dem „Piroschka“ wohnt – dessen Name bei ihm trotz Hochgeschwindigkeit etwa eine halbe Minute lang dauer t- bis zu jenem ewigen Augenblick in Unter den Brücken, wenn Hannelore Schroth, Carl Raddatz und er um die knusprig gebratene Schiffsgans Vera am Tisch versammelt sind und vor Trauer keiner zu sprechen wagt. Knuth bricht schließlich das Schweigen mit schiefem Grinsen: „Gib Pfötchen, Vera“.

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Klaus Kinski, 1961, „Der rote Rausch“ (Foto: DIF)

Klaus Kinski „Herr Doktor, ich brauche das!“

Aus den Nebenrollen wuchs in den Jahren des Wirtschaftswunders auch der Ausdruck des Wahnsinns im westdeutschen Film, als elaborierte Methode, um die unterdrückte Verstörung, den Trieb, alle Qual und Anomalitäten exzessiv ausdrücken zu können. Klaus Kinskis genialische Nebenrollen-Auftritte, in Ludwig II. als Bruder Otto und in Der rote Rausch als geflohener Heilanstalt-Insasse Martin zeigen, aus welchen Quellen er sich seine Irren zusammenbastelte: In der Sprache vor allem mit unberechenbaren Ton-Sprüngen von laut auf leise, mit abruptem Wechsel von langsam zu schnell, sowie mit jenem mittels hoher Stimme gefährlich monotonen Psychopathen-Betteln („Herr Doktor, ich brauche das!“). Und in seiner Mimik aus wildem Augenrollen wie im Stummfilm und mit eingefrorenen Posen tänzerischer Ekstase. Diese wüste Melange wirkte im Lauf der Zeit bei ihm gewiss auch zurück nach innen, aus den körperlichen Mitteln wuchs die Selbst-Gewissheit seines pathologischen Irrsinns und gab dem Mann Kinski offenbar auch das Berechtigungsgefühl für jene exzessive Selbst-Ermächtigung im Spiel und im Leben. Mario Adorf erzählt, wie Kinski bei Italo-Western-Dreharbeiten ein ihm zugeteiltes Pferd bis aufs Blut prügelte. Adorf griff ein, brachte Kinski zur Vernunft, der über seine Untat prompt in Tränen ausbrach und das malträtierte Pferd liebkoste, ihm die Wunden ableckte, es mit heim nach Berlin nahm und pflegen ließ. Deutscher (man muß immer dazu sagen: auch österreichischer …) Wahnsinn war kulturell immer blendend exportierbar.

der flüsternde todNeben Kinski wurde Horst Frank, der ursprünglich wesentlich zurückhaltender agierte (Haie und kleine Fische, Hunde, wollt ihr ewig leben) im Italowestern zu einer Ikone des Bösen. Vielleicht am aberwitzigsten ist er zu sehen in der Rolle eines aufständischen Albino-Schwarzen in Jürgen Goslars rhodesischem Kolonial-Racheknaller Der flüsternde Tod von 1975. (Dies vor allem wenn man weiß, daß Frank sich bereits am ersten Drehtag das Bein brach und von da an nur noch seine Nahaufnahmen selbst spielen konnte …)

Das deutsche Kino des Nachkriegs macht heute den Eindruck einer abgekapselten selbstgenügsamen Kultur. Was nicht ganz stimmt, denn es gab viele Coproduktionen mit dem nahe gelegenen Ausland, es gab internationale Preise. Es gab aber auch schon immer diese unstillbare Sehnsucht hin zum  kinematographischen „Weltniveau“ (DDR-Begriff). Dieses Gemaule „wir waren mal filmisch wer“, damals in der Filmzeit der Weimarer Republik. Und das daraus resultierende „da wollen wir wieder hin“ begleitete die westdeutsche Industrie lautstark bis zum Autorenkino und bricht nach dessen Absterben in den 80ern regelmäßig auch heute wieder los.

Es ist nicht ganz zu leugnen: das westdeutsche Nachkriegs-Kino war in seinem Kern eine Oase der „Falschheit“, der übertriebenen Mittel, der Nicht-Authentizität. In Filmen, die im Ausland unter ausländischen Figuren spielten, in Frankreich (Das schöne Abenteuer), in England (alle Wallace-Filme), sogar in Ägypten (El Hakim) oder in Indien (Das indische Grabmal) wurden ohne Bedenken sämtliche Rollen von Deutschen gespielt, teilweise gnadenlos maskiert.

el hakimSynchronisieren als Kreativkraft

Und auch unsere Marotte des Nach-Synchronisierens der ausländischen Filme ist ja als Zeichen des unabänderlichen deutschen  Provinzialismus stets angemerkt worden. Aber: dieser Synchron hat auch grandiose Zeugnisse der Sprachgewalt einzelner Darsteller hinterlassen (Heinz Engelmann, Joachim Kemmer beispielsweise), die im deutschen Film ansonsten nur Nebenrollen bekamen. Es gibt unzählige eigenständige Synchron-Kunstwerke, tolle sensible „Hörspiel-Nachempfindungen“ von sprachschöpferischem Erfindungsreichtum. Es gibt enorm unterhaltsame Eindeutschungen von langweiligen US-Serien. Und es hat deutschen Schauspielern sprachliche Coolness gelehrt, wenn sie Jean Paul Belmondo oder Humphrey Bogart sprechen konnten. Hinzu kommt, daß die deutschen Mimen im Synchronstudio vollends die Sau rauslassen konnten, ja mußten,  wenn sie sich an Louis de Funes` oder Alberto Sordis Tempi angleichen sollten. Und so sah man bzw hörte, was sie alle technisch-schauspielerisch konnten!  Zu solchen Höchst-Leistungen gab ihnen nämlich das deutsche Kino ab den 7oern nur noch selten Gelegenheit. Daß die deutschen Kinozuschauer heute John Wayne, Robert Mitchum, Robert de Niro, Alain Delon und Michel Piccoli mit deutschen Sprechern identifizieren, das hat über den nostalgischen Aspekt hinaus auch ein Vertrauen in deutsche Schauspieler entstehen lassen.

Um zu einem gerechten Urteil des westdeutschen Kinos (im Grund bis in die Jetzt-Zeit) zu kommen, muß man solche erstaunlichen Sonderwege des deutschen Films auch ans Herz drücken können, will sagen: erspüren, wie sehr die Grenzen, die Übergänge stets ineinander flossen. Wahnsinn und Modernität, Tradition und Lüge, Verdrängung und wunderbares Understatement, Aufrichtigkeit, Kunst und Kunstgewerbe sind Nachbarn im deutschen Film und erzeugen so ein schmerzhaftes Quietschen in den Scharnieren der Darstellung, der Herstellung – aber auch oft eine wirklich einzigartige Schwingung der Filme.

Sehnsucht nach einer Neuerfindung – aber wie?

Mit dem Autorenfilm erfolgte dann der Bruch fast sämtlicher Schauspielertraditionen. Nach fröhlichem UFA-Mummenschanz einerseits und andererseits der (manchmal ganz leicht aufgesetzten) Nüchternheit jener Draußen vor der Tür-Generation  wurde das ganze Schauspieler-Gewese samt und sonders den nachfolgenden Jung-Regisseuren zuviel. Vom völkischen Nazi-Groß-Koitus, voll von Mythen und  Sprach-Gezeter, von heldisch-athletischem Wabern zur nackten Sachlichkeit der unmittelbar beteiligten jungen Kriegsgeneration, und von deren beginnenden Mißtrauen gegenüber Posauenen-Gefühlen dann bis hin zur völligen Demontage des Vertrauens in Schauspielertum an sich – das war der Weg des westdeutschen Films. Die Sehnsucht nach einer Authentizität und Neu-Erfindung mündete dann schließlich ins Anti-Theater der Groß-Fassbinderei und in die Laien-Vorliebe der Münchner „Sensibilisten“. Klaus Lemke zu den deutschen Schauspielern seiner Anfangsjahre: „Dadurch, daß wir als einzige in Deutschland amerikanische Filme im Original gehört hatten, konnten wir noch nicht mal Fernsehen sehen, wir konnten die Stimmen der Schauspieler nicht ertragen und wenn wir mit denen live zusammen waren, war das noch schlimmer …“  Neben einem Super-Modell wie Uschi Obermeier, einem schlampigen Selbstdarsteller-Genie wie Paul Lys, einem Charakter-Gesicht wie Marquard Bohm war als Darsteller sogar mal Andreas Baader im Blickfeld Lemkes:

„Baader sah richtig gut aus. Der hatte nur diese unfassbar blöde Sprache drauf, so eine Mischung aus Schwäbisch und Münchnerisch … und wir waren damals total fixiert auf die Art wie Robert Mitchum redete … oder auf die Art wie geredet wurde in den Howard Hawks-Filmen, das war die Sprache, die wir hören wollten, das machte die Bilder, das hat uns zum Film gebracht …“

Wer von den (gar nicht so) „Alten“ durfte bleiben? Fassbinder holte Stars wie Karl Heinz Böhm, Erik Schumann und Adrian Hoven auf die Leinwand zurück, weil sich ihr Spiel interessant mit den extravaganten Macken seiner Wandertruppe mischte, weil im Kontrast der Spielweisen verrückteste Schräglagen in szenische Stellung zu bringen waren, weil Gebrüll sich mischte sich mit höchster Sprachkunst. Dann gab es natürlich Werner Herzogs legendäre Hassliebe-Verbindung zum sich immer stärker stilisierenden Kinski. (Es ist allerdings lohnend, sich Klaus Kinski mal gebändigt 1984 als Mossad-Chef in George Roy Hills Agentendrama Little Drummer Girl anzusehen. Er findet dort ein letztes Mal aus dem Selbstzweck-Wahnsinn heraus zu einer anderen, ökonomischeren Anwendung seines methodischen Affekt-Spiels.)

Die schiere deutsche Kraft…

the-little-drummer-girl-klaus-kinski-diane-keatonEs begann ein Kampf um eine andere Körperlichkeit der Darsteller im deutschen Film. Gleichsam jahrhundertelang nur ein Resonanz-Körper sollten die deutschen Schauspieler jetzt lernen, ihre Physis -damit war nicht der Bizeps gemeint – selbstverständlich zu nutzen. Roland Klick:

„Ich sage ja, die Deutschen … haben ihre Körperlichkeit nicht ausgelebt und ich bin sogar der Meinung … dass der ganze Nationalsozialismus und Faschismus aus dieser Quelle kommt. Das waren alles verklemmte Kleinbürger und plötzlich durften sie draufhauen. Da hat sich sozusagen etwas bahngebrochen, was jahrelang durch die Erziehung unterdrückt war, und das hat sich dann … erstmal durch die Hippiezeit und so hat sich das dann ganz langsam geöffnet. Heute ist es ein bisschen anders geworden. Aber der Deutsche ist ein Verhinderer, Behinderter, Verhinderter. (lacht).“

Nachts, wenn der Teufel kam (1957)

Mario Adorf, 1957, in „Nachts, wenn der Teufel kam“

Es gab ja immer die schiere deutsche Kraft. Mario Adorf erzählt bei seinen Bühnenauftritten die Episode des betrunkenen Heinrich George, der – weil er meinte, er habe einen freien Abend – verspätet aus der Gaststätte geholt ins Theater wankte, umwuselt von Garderobier und Inspizient, die bangten, „… aber Herr George, Sie können doch nicht in diesem Zustand …!“, worauf er stoisch antwortete: „Wat heißt, ick kann nich? Ick kann.“ Hierzu gibt es Parallelen bei seinem Sohn Götz, sozusagen dynastische Momente der Kraft, wie Filmgeschichte im Kreis läuft. Götz George, in den 50ern gestartet, erheblich disziplinierter als sein Vater, ist vielleicht der strahlendste athletische Charakter-Held des westdeutschen Kinos, seit 5o Jahren immer in der Top Ten der Stars. Er bewältigt noch mit 7o Jahren unglaubliche Stunts selbst. Seine Körperlichkeit kommt aus seiner Tänzer-Ausbildung und wirkt so manchmal feingliedriger als bei einem Nur-Sportsmann. (Die Episode seines Vaters endete übrigens damit, daß der schließlich in vollem Ornat auf der Bühne stand, und –  als sich der Vorhang hob – zunächst eine sehr lange Pause machte – der Souffleur raunte ihm schon mehrfach die ersten Textworte zu – um schließlich laut und vernehmlich seufzend zu sagen: „Ick kann doch nich.“)

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Am Ende der Reise noch ein später deutscher Fernseh-Moment: in der Folge 42 der Serie Der Alte – sie heißt Sportpalastwalzer (1980) – kommt es zu einem beeindruckenden Duell zweier grundverschiedener Schauspieler. Zwischen dem Kommissar Siegfried Lowitz (Jahrgang 1914) und dem Kneipier Klaus Löwitsch (geb.1936), von dem der Kommissar glaubt, er habe seine Frau im Suff ermordet. Lowitz spielt seine Rolle, als würde er auf einem Knäckebrot kauen, staubtrocken, mit grandios geheuchelter Empathie zerbröseln ihm die Worte im Mund. Löwitsch macht dagegen eine beeindruckende Show, gibt eine Art Über-Kinski, quält sich physisch mit seiner Schuld (auch bei ihm ist hier seine Ballett-Ausbildung spürbar). Das ganz Reduzierte trifft auf entfesselten Manierismus, das Ergebnis ist frappierend. Wie einst jene Szene zwischen Friedrich Domin und O.W. Fischer im „Ludwig“. Und da ist der deutsche Film dann ganz bei sich. Denn die Bruchstellen sind seine Kontinuität. Die vermeintliche Provinzialität ist seine unendliche Stärke. Seine „Falschheiten“ sind seine sehr originelle Spielart der Wahrhaftigkeit – und dies ist der ehrliche Grund, warum man den seltsamen westdeutschen Film wirklich lieben kann.

Dominik Graf

locarno_cover_dtZusatz: Für Fußnote Klaus Kammer-Nachruf: Zitat aus „Zeit“ 1964:

„Klaus Kammer, Tod mit 35: In Picnic von William Inge hatte er dort einen jungen Mann gespielt, der durch seine Triebhaftigkeit die Frauenwelt in Verwirrung und sich selber in ausweglose Schwierigkeiten bringt. Dabei wurde deutlich, daß Kammer ein Nervenschauspieler war, geladen mit explosivem Temperament. Geheuer war es um diesen innen brennenden, äußerlich sich bändigenden Menschen nie. Die ihn privat kannten, verglichen Kammer mit einer Kerze, die an zwei Enden zugleich angezündet worden war …“

Bei diesem Text handelt es sich um den „director’s cut“ des Beitrages von Dominik Graf in – dem hier bei CrimeMag ausführlich besprochenen, großen und wichtigen Filmbuch – „Geliebt und verdrängt. Das Kino der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963.“ Wir danken dem Deutschen Filminstitut (DIF) für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung und für Hilfe bei der Illustration.

Der Dokumentarfilm Das Wispern im Berg der Dinge von Domink Graf und Michael Althen (Deutschland 1997, 58 Minuten) ist bei Absolut Medien erhältlich. Eine Filmbesprechung hier.

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