Geschrieben am 19. März 2011 von für Crimemag, Film/Fernsehen

Filmkritik: Presunto Culpable

Schuldig bis zum Beweis der Unschuld

Der Dokumentarfilm Presunto Culpable der beiden mexikanischen Juristen Roberto Hernández und Layda Negrete stellt die Schwächen der mexikanischen Justiz bloß – und nicht nur auf der Leinwand. Nachdem der Film an den Kinokassen und in der Öffentlichkeit eingeschlagen ist wie eine Bombe, beschäftigt er jetzt die Gerichte und führt deren Unzulänglichkeiten ein weiteres Mal vor. Jetzt läuft Presunto Culpable in Europa an. Jürgen Neubauer hat sich den Film für uns angesehen …

Held wider Willen …

… ist José Antonio Zúñiga, ein junger Informatiker und Hobbyrapper, der auf einem Markt in Mexiko-Stadt unter einer Plastikplane sitzt und Computer repariert. An einem Montagmorgen im Dezember 2005 wird „Toño“ auf dem Weg zu seinem Stand von drei Unbekannten in ein Auto gezerrt. Zunächst glaubt er an eine Entführung, doch die Männer bringen ihn auf die Polizeiwache. Personalien, Fotos, Fingerabdrücke – der übliche Polizeikram, wie ihn auch Toño aus dem Kino kennt. Er bleibt ruhig, denn er meint, dass sich das Missverständnis gleich aufklären wird. Doch dann wird er in eine Zelle gesperrt und einer seiner drei Entführer, ein schnauzbärtiger Mittfünfziger, schlägt ihn und schreit ihn immer wieder an: „Du warst’s, gib’s zu, du hast es getan!“ Aber Toño hat nicht die geringste Ahnung, was er getan haben soll.

Noch am selben Tag wird Toño ins Gefängnis überführt und in eine winzige Zelle gesperrt, die er sich mit mehr als zwanzig Häftlingen teilt. Als Neuankömmling schläft er auf dem Boden unter einem der Stockbetten, wo ihm nachts die Kakerlaken in die Klamotten und über das Gesicht krabbeln. Nach ein paar Tagen erhält er Besuch von einem Mann, der sich als sein Pflichtanwalt vorstellt und ihm eröffnet, dass er des Mordes angeklagt wird. Toño ist fassungslos, er hat den Namen des Opfers noch nie gehört. Im Laufe der nächsten Wochen wird er einige Male von Justizbeamten vernommen, aber einen Richter bekommt er nie zu Gesicht. Seine Entlastungszeugen werden vom Gericht abgelehnt, niemand interessiert sich dafür, dass es keine Tatwaffe gibt und an Toños Händen keine Schussspuren nachgewiesen werden. Fünf Monate später wird ihm im Gefängnis das Urteil zugestellt: „Schuldig. Zwanzig Jahre Haft.“

Kein Kafka

Das ist kein kafkaesker Alptraum, sondern Alltag im mexikanischen Justizsystem. Rund 80 Prozent der Angeklagten werden nie einem Richter vorgeführt, 95 Prozent werden schuldig gesprochen. Und wie viele davon sind es wirklich? „Gehen Sie mal durch und fragen Sie“, sagt Toño. „In jeder Zelle sitzen vier oder fünf Unschuldige.“

In einem Punkt unterscheidet sich Toños Geschichte von den anderen. Seine Verlobte sieht auf Canal 22 den Dokumentarfilm El túnel über das Justizsystem in Mexiko und setzt sich mit den beiden Produzenten, Roberto Hernández und Layda Negrete, zwei Juristen aus Mexiko-Stadt, in Verbindung. Die beiden treffen sich mit ihr und erklären sich bereit, sich für eine Wiederaufnahme des Verfahrens einzusetzen. Außerdem holen sie eine Drehgenehmigung von der Regierung von Mexiko-Stadt ein, um Toño im Gefängnis und während des Prozesses mit der Kamera begleiten zu dürfen.

Das Ergebnis ist ein faszinierender und packender Dokumentarfilm mit starken Bildern, untermalt von Toños Raps. Auf Schritt und Tritt verfolgen wir Toño durch das Gefängnis und das Gerichtsgebäude und begleiten ihn bei seinem fast zwei Jahre dauernden Kampf um Gerechtigkeit und seine Freiheit.

Konfrontation

Hernández und Negrete entdecken einen grotesken Verfahrensfehler und erreichen eine Revision – leider vor demselben Richter. Von Anfang an ist klar, dass sie keinen leichten Stand haben werden. Der Richter unterbindet alles, was über die ursprüngliche Prozessakte hinausgeht. Wieder werden Toños Entlastungszeugen abgelehnt. Die drei Polizisten erinnern sich an nichts. Und der einzige Tatzeuge, ein Cousin des Opfers, behauptet unerschütterlich, er habe Toños Finger am Abzug gesehen. Toños Anwälte demonstrieren zwar, dass der Zeuge Toño nie gesehen und ihn erst beschuldigt hatte, nachdem ihm die Polizisten den Namen geliefert hatten. Aber den Richter und die Staatsanwältin beeindruckt das nicht.

Der Höhepunkt des Films ist eine Gegenüberstellung – der für die mexikanische Justiz einmalige careo –, in der Toño hinter einem vergitterten Fensterchen hervorlugend die drei Polizisten und den Zeugen befragen darf. Es ist ein emotionaler Showdown. Als Toño hinter seinem Gitterchen hochkonzentriert und nervös blinzelnd den Polizeibeamten darauf hinweist, dass dieser keinerlei Beweise präsentiert hat, schnaubt der nur verächtlich und droht ihm unverhohlen. Während Toño den Zeugen in Widersprüche verwickelt, schneidet der Richter Grimassen. Und während der Zeuge stammelt, schweigt und seine Aussage schließlich zurücknimmt, amüsiert sich die Staatsanwältin. Natürlich hält sie an ihrer Anklage fest, und als Toño sie am Ende des careo nach dem Grund fragt, antwortet sie nur: „Weil es mein Job ist.“ Und natürlich spricht der Richter Toño ein weiteres Mal schuldig und verhängt dasselbe Strafmaß. Als hätte die Verhandlung nie stattgefunden.

Mut zur Wahrheit

Das Unglaubliche ist, dass das alles gefilmt und im Kino gezeigt wird. Nicht, weil noch jemand von der Inkompetenz und Korruptheit der mexikanischen Justiz und Polizei gehört hätte. Sondern weil noch nie jemand den Mut hatte, diese Inkompetenz und Korruptheit schonungslos vorzuführen, Namen zu nennen und Gesichter zu zeigen. Und weil die Vertreter des Apparats vor der Kamera nicht einmal so tun, als seien sie an so etwas wie der Wahrheitsfindung interessiert.

Entsprechend sind die Reaktionen: Schon vor dem Kinostart überschlugen sich die Medien vor Begeisterung und forderten ihre Leser und Zuschauer auf, in die Kinos zu gehen. In den ersten drei Wochen wollten mehr als eine Million Menschen den Film sehen und machten Presunto Culpable zum erfolgreichsten mexikanischen Dokumentarfilm aller Zeiten.

Natürlich ist es leicht, den sympathischen Toño mit seinem ernsten Lächeln zu mögen. Und genauso leicht ist es, die Polizisten mit ihren Verbrechervisagen als Erzbösewichte zu beschimpfen. Aber genau darum geht es Hernández und Negrete nicht. Sie machen aus ihrem Film kein Rührstück und keine Justizschmonzette, sondern berichten nüchtern und lassen die Tatsachen für sich sprechen. „Es geht nicht darum, einen einzelnen Richter zu entlassen“, betont Negrete, die wie Hernández zur Zeit im kalifornischen Berkeley in Public Policy promoviert. „Es geht darum, das System zu verändern.“

Ein System, in dem Menschen angeklagt werden, weil sie nicht das Geld haben, um sich noch im Streifenwagen freizukaufen. In dem Polizeibeamte Fangprämien erhalten und Unschuldige verhaften, um ihre Quote zu erfüllen. In dem die Ermittlungsarbeit gegen Null geht und die Polizei nur in 7 Prozent aller Anklagen physische Beweise vorlegt. In dem Menschen ohne Haftbefehl festgenommen und beliebig lange festgehalten werden können. In dem ein Drittel aller Festgenommenen von Polizeibeamten misshandelt werden und drei Viertel nicht einmal einen Pflichtanwalt bekommen. In dem Richter im Akkord Urteile fällen, ohne die Angeklagten je gesehen zu haben, und in dem Akten und Termine wichtiger sind als Menschen. Und ein System, in dem der Angeklagte so lange schuldig ist, bis er seine Unschuld beweisen kann.

Die Folgen

Hernández und Negrete fordern eine Justizreform und die Einführung von mündlichen Gerichtsverfahren nach dem Vorbild Chiles. Bis dahin raten sie allen Angeklagten, sämtliche Verhöre und Verhandlungen zu filmen, im Falle einer Verurteilung in die Berufung zu gehen und die Aufzeichnung als Beweismaterial zu verwenden. Es ist nichts anderes als eine Aufforderung zum zivilen Widerstand.

Doch das System setzt sich zur Wehr. Der Zeuge klagte wegen Verletzung seiner Privatsphäre und eine Richterin erließ eine einstweilige Verfügung, um den Film zu stoppen. Daraufhin brach im Internet und in den Medien ein Proteststurm los. Stunden später wurde der vollständige Film mit englischen Untertiteln bei Youtube eingestellt und innerhalb von drei Tagen über eine Viertelmillion Mal abgerufen. Die Kommentatoren waren sich einig, dass der Zeuge lediglich ein Strohmann war und sprachen von Zensur. Keine 48 Stunden später hob ein anderes Gericht die einstweilige Verfügung auf. Der Innenminister von Mexiko-Stadt wehrte sich gegen den Zensurvorwurf und sprach sich gegen ein Verbot des Films aus. Und prompt stand auch die Richterin, die den Film eben noch aus den Kinos nehmen wollte, auf Seiten der Pressefreiheit und wies die Klage zurück. „Die Vorgabe kam beide Male von oben“, meint eine ehemalige Richterin der Obersten Gerichts von Mexiko-Stadt.

Am Ende des Films und nach zweieinhalb Jahren Knast kommt Toño doch noch frei. Seine Anwälte gehen in Berufung und legen als Beweis das Video der Verhandlung vor. Hinter verschlossenen Türen treten die drei Berufungsrichter zusammen und erkennen nach einer stundenlangen Diskussion „hinreichende Zweifel“ an der Schuld des Angeklagten. Dieselben Zweifel darf man allerdings haben, ob dem mexikanischen Justizsystem dasselbe Happy End beschieden ist. Der Richter ist weiter im Amt, die Polizisten wurden befördert, und eine für das Jahr 2016 geplante Reform sieht vor, dass „verdächtige Personen“ ohne Begründung bis zu 80 Tage lang festgehalten werden dürfen.

Jürgen Neubauer

Spanischsprachige Homepage des Films
imdb-Eintrag mit Filmografie der beiden Filmemacher
Presumed Guilty bei pbs.org
Videointerview mit Roberto Hernández und Layda Negrete

Jürgen Neubauer ist Übersetzer und Autor. Er lebt in Mexiko.
www.babelnetz.com

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