Wer nicht sehen will, muss hören!
Der legendäre Krimimehrteiler „Das Halstuch“ vermag als Filmhörspiel nicht zu überzeugen. Ein Klassiker-Check, für den sich Jörg von Bilavsky tapfer durchgehört hat.
Mehr als 20 Millionen Deutsche starrten im Januar 1962 gebannt in die Flimmerkiste. Nach sechs Folgen wusste das Krimivolk endlich, wer das Modell Faye Collins und die Journalistin Dinah Winston mit dem Halstuch erdrosselt hat. Aufmerksame Zeitungsleser konnten es freilich schon früher wissen. Hatte doch der Kabarettist Wolfgang Neuss den Täter in einer Werbeanzeige kurz zuvor publik gemacht. Allerdings hat auch er nur geraten. Morddrohungen von erzürnten Lesern und Zuschauern ließen nicht lange auf sich warten und ein bekanntes Boulevardblatt beschimpfte ihn gar als „Vaterlandsverräter“. Die bundesweite Ausstrahlung des Durbridge-Klassikers „Das Halstuch“ war von nationaler Bedeutung.
Heutzutage unvorstellbar. In Konkurrenz zu Dutzenden von Sendern und Hunderten von Krimiserien bringen es die ARD-Tatorte auf durchschnittlich sechs bis acht Millionen Zuschauer. Die Nation fiebert längst nicht mehr mit wie vor knapp 50 Jahren, als es nur das Erste Deutsche Fernsehen gab. Wen könnte also das Filmhörspiel des Fernsehklassikers fesseln, da es doch schon längst die DVD dieses Straßenfegers gibt? Freunde des nostalgisch angehauchten Hörbuchs, die sich nicht von visuellen Reizen ablenken lassen möchten. Allerdings vermag die akustische Fassung des Fernsehspiels kaum eigene Reize zu entfalten.
Von der atmosphärisch dichten Untermalung heutiger Produktionen ist das Hörspiel weit entfernt. So bleiben nur die heute etwas steif anmutenden Dialoge der hervorragenden deutschen Schauspielerriege. Allen voran Heinz Drache als Inspektor Harry Yates, der Halstuchträger und Hauptverdächtige Clifton Morris alias Albert Lieven und Marion Hastings elegante Inhaberin eines Modesalons, dargestellt und gesprochen von der unverwechselbaren Margot Trooger. Noch besser bekannt vielleicht durch ihre Hauptrolle in dem Edgar-Wallace-Schocker „Der Hexer“ von 1964. Aber auch Dieter Borsche, Horst Tappert und Hellmuth Lange haben ihre effektvollen Auftritte, wenn es darum geht, einen Mörder ausfindig zu machen, der vielleicht aus Eifersucht, Habgier oder Erpressung mordet.
The Thrill is gone …
Das Kammerspiel im klassisch britischen Ambiente vermag nach einem halben Jahrhundert aber auch dramaturgisch nicht mehr zu überzeugen. Sorgte der Mehrteiler im TV mit seinen mehrtägigen Sendepausen noch für die nötige Spannung, zieht sich die akustische Fassung mit gut drei Stunden Spielzeit am Stück gehörig in die Länge. Nicht nur weil die Cliffhanger der visuellen Version verloren gegangen sind, sondern weil die Geschichte auf der Stelle tritt. Zu ausgiebig ist der Tatverdächtige Clifton Morris damit beschäftigt, seine Beziehung zu Faye Collins zu vertuschen und ein Alibi für die Tatzeit zu erkaufen, als dass man in ihm noch den Mörder vermutete.
Zwar machen sich zwischenzeitlich auch andere Akteure verdächtig, doch bleiben ihr Motive genauso im Dunkeln wie die von Morris. Ein einziger, winziger Hinweis führt Yates – und mit ihm den Kabarettisten Neuss – auf die Spur des wahren Täters. Doch zwingend war auch der nicht. Weshalb das fieberhafte Rätselraten der Fernsehnation vermutlich ohnehin zwecklos war. Für alle anderen Verdächtigen hätte sich am Schluss auch noch ein Mordmotiv gefunden. Wirklich schlüssig und rund ist der Fall nach seiner actionreichen Auflösung nicht. Zumal der Täter und seine Komplizen ohne charakterliche Konturen bleiben, ihr Vorleben und ihr Verhältnis zu den Opfern kursorisch abgehandelt werden. Der Straßenfeger von damals mutet heute eher wie ein müder Feger an.
Wer wirklich originellen 60er-Jahre-Krimis mit britischem Flair und deutschen Stimmen lauschen möchte, greife lieber zu den amüsanten Hörspielen eines Lester Powells oder Rolf A. Beckers. Aber auch Durbridges „Paul Temple“-Serie wirkt als Funkfassung heute noch frischer als das verstaubte „Halstuch“ im Filmhörspielformat.
Jörg von Bilavsky
Francis Durbridge: Das Halstuch. Berlin: Der Audio Verlag 2010. 3 CDs. 198 Minuten. 19,99 Euro.
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