Geschrieben am 1. April 2020 von für Crimemag, CrimeMag April 2020

Interview: Für menschliches Überleben ist das Buch unentbehrlich

Und die Zukunft des Buches kann nur mit der unersetzbaren Arbeit des stationären Sortiments gesichert werden. Manfred Keiper – „Die andere Buchhandlung“ in Rostock – erklärt, was seit dem Strukturwandel in der deutschen Buchbranche schief gelaufen ist und warum ein von Grund auf neues Marketing für Bücher entwickelt werden muss.

BECKMANN:  Für die einen ist die  neue Technologie das Allheilmittel zum Kurieren von allem,  was sie an und in der Welt stört, für die andern ein Schreckgespenst, das den Nieder- und Untergang von allem heraufbeschwört, was wir gewohnt sind, was uns lieb und teuer ist – ich meine die Digitalisierung, die elektronischen Medien.  Und auch das gedruckte Buch war schon totgesagt worden. Nun kommt ausgerechnet von Spitzenvertretern der digitalen Welt die Botschaft, das Buch sei gerade in Zeiten solcher technologischen Umwälzungen unentbehrlich. Sie glauben insbesondere unter jungen Menschen, bei den „digital natives“, ein steigendes intensives Interesse am Medium Buch zu erkennen …    

MANFRED KEIPER: Das überrascht mich nicht. Ich bin überzeugt, solch ein intensives Interesse am Buch war immer gegeben. Darum ist mir auch an dem, was die Börsenvereins-Studie (Buchkäufer – quo vadis) 2018 enthüllt hat – dass die Buchbranche in letzter Zeit sechs Millionen Buchkäufer verloren hat – eine Erkenntnis noch klarer geworden: Unsere Branche hat ganz offenkundig sehr viele lesewillige Menschen vernachlässigt. Die Studie war aufschlussreich, insofern sie erklärt, (warum) Menschen weniger zum Buch gegriffen haben: wegen des hohen Leistungsdrucks, der Reizüberflutung, des Gehetzt-Seins, das ihnen die Luft und Zeit zum Einatmen nimmt. Das macht wiederum deutlich, warum das Buch heute so unentbehrlich ist: Es zwingt per se zur Entschleunigung, zum Sich-Bewusst-Werden, zu Bewusstheit. „Bewusster leben!“ aber wird für unser Jahrhundert zu einer zentralen Überlebensformel. Die Herausforderung und die große Chance für Verleger und Buchhändler besteht darin: Das Buch ist ein wesentliches Therapiemittel für ein besseres Leben, egal welcher sozialen Schicht oder Berufsgruppe man angehört und welche politische Meinung da vorherrscht.

BECKMANN: Der IT-Pionier Andrew Keen hat an die Verlage appelliert, Wege zu finden, um den Menschen die Bücher zu verkaufen, die sie brauchen und suchen – endlich Marketing zu machen. Was sagen Sie als Buchhändler zu dem impliziten Vorwurf, dass es in den Verlagen am Marketing für Bücher fehlt?

MANFRED KEIPER: Andrew Keen hat recht. Nur sieht er die Sache zu eng, wenn er sich bloß an die Verlagsseite wendet. Das Problem betrifft genauso den Buchhandel. Sehen Sie mal: Wenn Sie vor dreißig Jahren eine bundesdeutsche Städtetour gemacht haben, und bei Ihrer Shopping-Tour zwischendurch in den örtlichen Buchhandel hineinschauten, zum Beispiel bei Schmorl & Seefeld in Hannover, bei Schlapp in Darmstadt, bei Krüger in Dortmund, dann haben sie überall immer wieder etwas entdecken können, was in Ihrer heimischen Buchhandlung nicht da war. Heute haben Sie Hugendubel und Thalia, und woanders Osiander, die Mayer’sche oder Rupprecht – und es reicht völlig, wenn Sie da an einem Ort reinschauen, weil Sie am andern Ende der Republik das Gleiche vorfinden. Dieser Einheitsbrei trägt meiner Meinung nach dazu bei, dass der Jahresumsatz der Branche unter zehn Milliarden Euro festhängt. Man muss unterschiedliche Zielgruppen doch unterschiedlich anpacken, unterschiedliche Profile mit unterschiedlichem Marketing unterfüttern. Die aktuellen neuen Bedürfnisse eines überlebenswichtigen Lesens muss man auf neue Weise bedienen.

BECKMANN: Wir haben es also mit einem (Branchen-)problem zu tun…

MANFRED KEIPER: …ja, weil der Buchmarkt sich in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Er  hat einen Strukturwandel erlebt – eine zunehmende Konzentration, auch eine wachsende Spannung zwischen den stark auf Rendite orientierten konzernartigen Unternehmen und der großen Menge von kleineren und kleinsten, finanzschwachen Firmen mit oft argen Mängeln an Professionalität. Das gilt für die Verlagsszene wie für den Buchhandel.

Die Prägungen in den Führungsebenen der konzernartigen Unternehmen  sind heute  gänzlich andere als in den Verlagen und Buchhandlungen zur Zeit der Wiedervereinigung, die ja – auch daran sollte mal gedacht werden – der Konzentrationsentwicklung noch einen zusätzlichen Schub gegeben hat. Gab es Anfang der 90er Jahre etwa (Manager) an der Spitze von Buchhandlungen? Nein – es waren ausschließlich echte Buchhändler. Das ist heute anders, und es liegt in der Natur der Sache, dass es in solchen Firmen Entfremdungseffekte gibt: Entfremdung der Mitarbeiter zum Unternehmen, Entfremdung der Leitungsebenen zu den besonderen Gegebenheiten vor Ort – und überhaupt zur Kundschaft. Was weiß denn ein Zentraleinkäufer schon von den Kundeninteressen in Kleinposemuckel? Gibt es überhaupt eine Kette „ostdeutscher“ Herkunft oder in „mitteldeutscher“ Hand? Und was weiß denn der Geschäftsführer eines großen Verlages, der Zahlen bringen muss und auf diese Aufgabe fixiert ist, wie der Titel, der gerade auf einer Rechte-Auktion eingekauft wird, in der Leserschaft ankommt?  Welche Buchhandlungen, welche Lesergruppen für den Titel existieren und wie sie angesprochen werden müssten? 

BECKMANN: Das klingt jetzt ganz so, als ob diese Aktivitäten sich wie in einem luftleeren Raum abspielten.

MANFRED KEIPER:  Genau. Sehen Sie, vor dreißig Jahren standen die Verlage in einem lebendigen Kontakt mit mehreren tausend größeren und kleineren Buchhandlungen, dank derer sie über die Vertreter, die Buchmesse, die damals noch  von vielen Buchhändlern frequentiert wurde, und diversen Konferenzen das Ohr am Publikum hatten und ihr Publikum finden konnten. Jetzt haben sie ein paar Buchhandelsketten und der Kontakt läuft engspurig zwischen deren Zentraleinkäufern und einem Key-Accounter, der allerdings auf die ganze Arbeit in seinem Verlag einen übermäßigen Einfluss ausübt. Wie oft habe ich nicht schon Vertreter, die ja nur Einzelhändler besuchen, erzählen hören, dass sie sich in der Vertreterkonferenz zur Gestaltung eines Covers, Slogans oder zur Gewichtung eines Titels den Mund fusselig reden und der Key Accounter fegt das alles mit seinem Satz vom Tisch: “Das kann ich bei mir so nicht verkaufen

BECKMANN:  Und was sind die Grundlagen, die Kriterien anhand derer dieses bloße Marktsegment quasi als „der Markt“ verabsolutiert wird? 

MANFRED KEIPER:  Planvorgaben, mediale und öffentlichkeitswirksame Trends, Erfolgsgenres und Titel der Konkurrenz, an die man sich  anhängt,  Algorithmen. Man schickt auf Social Media-Portalen Versuchskaninchen ins Rennen. Probiert es mit einem neuen, „anderen“ Veranstaltungsformat. Nutzt  Blogger und Influencer. Presst großkotzige  Fremdwährungs-Werbesprüche  wie  „100.000 mal in den Niederlanden verkauft“, „25 Wochen auf dänischen Bestsellerlisten“ oder neuerdings sogar „Für Leser der Erfolgstitel X und Y der Spitzenautoren M und N“, die aber völlig  ohne inhaltlichen oder qualitativen Aussagewert sind. In Anbetracht derartiger  Hohlklopfereien  bin ich auch gar nicht überrascht, wenn ich  höre, dass immer mehr „Spitzentitel“ im „No-where“ landen oder dass sich die durchschnittliche Verkaufsauflage von Bestsellern seit dem Strukturwandel  in einem Sinkflug befinden soll

BECKMANN:  Da müsste in den Verlagen eigentlich längst ein Umdenken eingesetzt haben – eine Rückbesinnung zu echtem Marketing. Sehen Sie wenigstens Ansätze dazu?

MANFRED KEIPER: Ich mag da nicht, summa summarum, (von den Verlagen) sprechen. Natürlich gibt es hier und da Häuser, die sich was einfallen lassen und damit Erfolge haben. Es gibt hunderte Ideen. Wir haben ja auch unzählige kluge Köpfe in der Branche. Mit einzelnen Fällen ist es jedoch nicht getan. Das ändert noch nicht das Gesamtbild. Die Generaltendenz ist doch geblieben. Ich würde sogar behaupten, zur problematischen Dynamik des Strukturwandels gehören auch noch andere Kernaspekte, die klar erkannt, offen benannt und umgekehrt werden müssen – um überhaupt eine Basis zu finden, wo neues Marketing konkret ansetzen könnte.

So ist es durchaus notwendig, und verständlich, dass Verlagskonzerne auf Masse setzen: Je höher die Auflagen, desto höher die potentiellen Renditen große Kostenapparate wollen finanziert sein. Es (muss)also Masse produziert werden. Masse muss allerdings auch verkauft werden, und dazu wird nicht zuletzt mit dem Ladenpreis von Büchern“ gearbeitet“: Da wird sich vor angeblichen „Preisschwellen“ gedrückt, da werden „günstige Preise“ wie durch Discounting suggeriert (0.99er-Preise). Das ist im Rahmen einer zeitgeistigen „Geiz ist geil“-Mentalität in Deutschland freilich fast zur Manie, zu einem Zwangsdenken geworden und hat bei Publikumsverlagen für alle Programmbereiche eine Vertriebskultur des heruntergebutterten Ladenpreises entstehen lassen. Unglücklicherweise ist sie dann aber durch ein anderes, speziell deutsches Moment noch forciert worden ist – durch die   Buchpreisbindung

BECKMANN: Sie wollen die Buchpreisbindung jetzt doch wohl nicht als Element einer negativen hiesigen Entwicklung relativieren?

MANFRED KEIPER: Aber nein. Gott sei Dank, dass es die Buchpreisbindung gibt. Nur ist sie vom bundesdeutschen Kartellamt eben bekanntlich ganz und gar nicht geschätzt worden,  und deshalb ist das Drohgespenst einer Ausnutzung dieses vertikalen Preiskartells durch die Marktmacht von Verlagen immer wieder als Gefahr für die Preisbindung an die Wand gemalt worden.

Es war eine Verbandsstrategie mit einem beträchtlichen Kollateralschaden. Sie bildete das wahrscheinlich wesentliche Moment für eine ungute Entwicklung:  Seit über zwanzig Jahren hinkt die Preisentwicklung für Bücher in Deutschland der allgemeinen Preisentwicklung hinterher.

BECKMANN:  Hat es vielleicht damit zu tun, dass der Jahresbranchenumsatz seit längerem mehr oder weniger unverändert zwischen neun und zehn Milliarden Euro liegt? Wäre hier zumindest ein erheblicher Teil der Ursachen dafür zu suchen, dass so viele Verlage und die Mehrzahl der Sortimenter unter unzureichenden Umsätzen und Renditen leiden? Was sie ihrer Arbeit beeinträchtigt, was dem Buch und den Lesern schadet…                                        

MANFRED KEIPER: Ja, das Produktmarketing! Als ich vor Jahren damit angefangen, Branchenkollegen mit dem Thema zuzutexten, habe ich immer das Beispiel der Firma Apple angeführt, der man eines lassen muss, sie betreibt ein erstklassiges Marketing für ihre Marke, aber auch für ihre Produkte. Die Produktentwicklung geschieht klar nach der Maßgabe, welche Benefits bringt das neue Produkt oder die Weiterentwicklung für die Kunden, und dann greift das Markenmarketing: 10% mehr Benefits, 30% mehr Preis! Im deutschen Buchhandel habe ich eher den Eindruck, es läuft verkehrt zugeht. Es wird gespart, als betriebe man Discount-Geschäfte.

BECKMANN: Es braucht also Ihres Erachtens ein neues Basisdenken, um …

MANFRED KEIPER:  Wir dürfen, glaube ich, zuversichtlich sein: Das Buch ist und bleibt dem Menschen unentbehrlich, wes hat eine große Zukunftschance. Die Verlage stehen also vor einer positiven Herausforderung. Damit hatte unser Gespräch ja begonnen. Und es braucht ein entschiedenes Marketing, um die Bücher unter die vielen Menschen zu bringen, die sich nun intensiv für Bücher interessieren, weil sie Bücher zum Leben brauchen. Ich bin ebenso überzeugt, dass die Verlage unbedingt das stationäre Sortiment brauchen, um Wege zu diesen vielen potentiellen Käufern und Lesern von Büchern finden zu können. Gutes Marketing wird sich erst wieder entwickeln können, wenn Verleger und Buchhändler intensiv miteinander kommunizieren und kooperieren und beide miteinander auch eine solidere wirtschaftliche Basis aufbauen. Auf solch konstruktives Marketing wird es ankommen. Und die Aufbauarbeit dazu hat begonnen. Nehmen Sie als Beispiel einfach mal die Initiative der fünf vorwiegend unabhängigen Verlage mit der „Verlegertagung“, die 2018 im Kloster Haydau stattfand. Da wurden, ohne Tagesordnung, hundert Buchhändlerinnen und Buchhändler eingeladen, und alle, alle kamen. Es war also beidseitig „Bedarf“ da – der Bedarf, miteinander zu reden. Ich weiß nicht, ob wir im Verband eine Tagung mit so vielen Buchhändlern haben. Der Verband beklagt ja mangelnde Teilnahme. Hier stand auf der Tagesordnung nur der Dialog miteinander. Natürlich an Hand der Bücher dieser Verlage. Es wurde über Covergestaltung gesprochen, über Aktionen, über einzelne Titel, über Markenprofile von Verlagen, der Buchhändler sollten erzählen, was bei ihnen vor Ort empfunden wird und abläuft. Es kam zu einem echten Austausch. Die Verlage haben die Tagung bezahlt, aber mit Sicherheit Unsummen an Beraterhonoraren gespart. Alle miteinander wollten lernen, es besser zu machen. Es war eine tolle Initiative, die im Mai dieses Jahres ihre Fortsetzung finden sollte.

Dieses Gespräch mit Manfred Keiper führte Gerhard Beckmann.

Tags : , , ,