Geschrieben am 1. Juli 2020 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2020

Kann, muss aber nicht – von Robert Rescue

Berlin hat sich etwas Außergewöhnliches einfallen lassen, um die Pandemie zu bekämpfen – die Türen in den S-und U-Bahnen können automatisch geöffnet werden. Hintergrund ist der Schutz der Bevölkerung vor den Tastern, die nach Meinung von Virologen Hauptauslöser der sogenannten Super-COVID-19-Infektionen sind. „Die auf den Tastern gemessene Viruslast“, so der Virologe Dr. Bernhard Kasulke, „entspricht der Hauptverkehrslast von Manila, Mumbai und Tokio zur Rush-Hour gleichzeitig, um es für Laien verständlich auszudrücken. Die Berührung des Tasters führt zu einer sofortigen schweren Infektion, die innerhalb von 10 Sekunden zum Tod führt.“

Findige Berliner haben es schon mit Taschentüchern, Jackenärmeln oder diesen Haken probiert, die vorrangig bei Türgriffen, Einkaufswagen und den Tastaturen von Geldautomaten zum Einsatz kommen. Aber ohne Erfolg, denn die Taster der öffentlichen Verkehrsmittel reagieren nur bei Hautberührung.

Vor der Einführung der automatischen Türöffnung musste sich daher bei jedem Halt ein Freiwilliger finden, der sich heldenhaft für die anderen Mitaussteigenden opferte. Das klappte an den Bahnhöfen im Innenstadtbereich gut, denn die Zahl der Aussteigenden war hoch und unter denen gab es immer mindestens einen, dem es zutiefst peinlich war, den Ausstieg zu verpassen, so dass er sich nach sorgfältiger Abwägung der Umstände für einen Freitod auf dem Zielbahnhof entschied. In den Außenlagen wie Birkenwerder, Hirschgarten oder Strausberg dagegen sank die Zahl der Opferwilligen mit jeder Station, so dass es häufig zu Fällen von Streichholz-Ziehungen kam, Opfer durch Gewaltanwendung bestimmt wurden oder mancher Fahrgast einen einsamen, nächtlichen Tod am Endbahnhof fand.

Die neue Regelung verspricht ein Ende von alldem, ist aber wie vieles in Berlin mit Einschränkungen verbunden, die Verkehrsplaner in anderen Metropolen niemals durchgehen lassen würden. Die Türen werden nicht automatisch öffnen, sie könnten es. Also unter bestimmten Voraussetzungen. Die Aufkleber an den Türen besagen: „Tür kann automatisch öffnen“ und der vorsichtige Berliner denkt sich: „Sie kann, aber sie muss nicht.“

In der Folge kommt es häufig dazu, dass Fahrgäste nach Einfahrt des Zuges auf das Öffnen der Tür warten, dann aber die Scham über sich ergehen lassen müssen, dass der Zug wieder anfährt, ohne dass sie ihr gewünschtes Fahrtziel erreichen können.

Oder aber Fahrgäste lassen einen bangen Moment des sinnlosen Wartens verstreichen und werden dann aktiv, womit sie ihr Fahrtziel zwar erreichen, aber für einen unter ihnen ist der Tag gelaufen.

Funktioniert die automatische Türöffnung nur an bestimmten Wochentagen, zu bestimmten Uhrzeiten oder an bestimmten Bahnhöfen wie Alexanderplatz oder Hauptbahnhof? Hat der Triebfahrzeugführer eine Kamera, mit der er die „Öffnungssituation“ ersehen kann und wird zum Entscheider über Leben oder Tod? Gehen ihm Gedanken durch den Kopf wie „Der Schlipsträger an der Tür ist bestimmt ein Knilch der Deutsche Wohnen, diese Kapitalisten-Sau. Den lasse ich verrecken oder er fährt weiter“ und „Die Lady sieht heiß aus, da bin ich mal charmant“.

Nein, das ist es nicht. Das Wohl und Wehe zwischen tödlicher Handbewegung und einem magisch anmutenden Simsalabim liegt im wesentlichen an den technischen Beschränkungen mancher Baureihen. Einige Modelle unterstützen die Technik gar nicht, bei anderen Modellen, konkret die Baureihen 480 und 481 der S-Bahn kann die automatische Türöffnung funktionieren, aber nicht in jedem Fall. Der Triebfahrzeugführer muss den richtigen Moment erwischen, damit es klappt. Erst müssen die in den Zügen eingebauten Stillstandssensoren melden, dass die S-Bahn zum Halten gekommen ist. Dann bringt das Drücken des Knopfes für die zentrale Türöffnung das gewünschte Ergebnis, so die S-Bahn. Es sind Textstellen wie „aber nicht in jedem Fall“ oder „den richtigen Moment erwischen“, die glauben lassen, in Berlin habe sich seit dem Jahr 1838, als die preußische Eisenbahn die erste Streckenverbindung aufnahm, und dem Jahr 2020 nichts Wesentliches in der Handhabung eines Zuges verändert. Im Großen und Ganzen, so die S-Bahn weiter, komme das Personal aber mit der Technik zurecht. Eine Aussage, über die man nicht tiefer nachdenken sollte. Dankenswerterweise verrät die S-Bahn, wo und wann sie die Baureihen einsetzt, die die Funktion nicht unterstützen. Da kann sich der Fahrgast jedes Warten und Hoffen sparen und sich gleich dem Prinzip „Survival of the Fittest“ widmen.

Die BVG hat zu Beginn der Einschränkungen durch die Pandemie erklärt, dass sie diese Maßnahmen nicht durchführen könne. Auch hier spielen zum einen technische Unzulänglichkeiten mancher Modellreihen eine Rolle, zum anderen bewirke das automatische Öffnen der Türen eine Abkühlung im gesamten Zug, was zu „Gegenansprüchen“ anderer Fahrgäste führen könne, da eine erträgliche Reisetemperatur nicht mehr gewährleistet werden kann. Was tun?

Den „Gegenansprüchen“ anderer Fahrgäste kann der um sein Leben besorgte Fahrgast wirksam entgegentreten, indem er das nörglerische Arschloch in den Schwitzkasten nimmt, ihn unter Zuhilfenahme von Körperkraft an die Tür heranführt und seinen Daumen an den Taster hält. Die erträgliche Reisetemperatur. Man mag sich als Berliner gar nicht vorstellen, dass eine U-Bahn-Fahrt den Charakter einer „Reise“ haben kann. Formal ja, gefühlt nein. Es ist eher das unerträgliche Zurücklegen einer Entfernung von A nach B, begleitet von penetrant parfümierten Jungmännern, vollgekotzten Suffköppen, aggressiven Irren ohne jeden geistigen Halt, Tik-Tok wahnsinnigen Teenagern, verzogenen Bälgern und mir.

Gibt es eigentlichen einen zeitlichen Unterschied, wenn eine Tür manuell oder automatisch geöffnet wird? Laut BVG scheint es so zu sein. Vielleicht kann eine automatisch geöffnete Tür vom Triebfahrzeugführer nicht mehr geschlossen werden, außer er steigt aus, steckt irgendwo eine Kurbel rein und betet 50 Ave Marias. Das würde eine Auskühlung erklären und hätte auch Änderungen im Zeitplan zur Folge. Aber was spricht dagegen, etwas Luft in die Abteile zu lassen, vor allem, da einige U-Bahn-Linien über die Stadtgrenzen hinaus bekannt sind für olfaktorische Einschränkungen, die die BVG auch offensiv bewirbt, wenn sie der U8 den Geruch von „Schweiß-Sternburg“ zuschreibt, was in diesem Fall eher eine Untertreibung sein dürfte.

Inzwischen, es ist jetzt Juni, hat sich bei der BVG was geändert. In jeder von mir genutzten Linie kleben an den Türen die Aufkleber. Hat sie die Technik nachgerüstet oder neue Baureihen eingekauft? Wohl kaum, dazu wird ihr das Geld fehlen. Mein Blick fällt auf den Aufkleber „Tür kann automatisch öffnen“ und ich denke „na ja, na ja, kann, muss aber nicht“, bevor ich blitzschnell die Hand eines neben mir stehenden ergreife und sie gegen den Taster drücke. In einer Stadt wie Berlin muss man lernen, zu überleben. Besonders in Notzeiten. Und gerade dann darf man nicht zögerlich sein, denn sonst erwischt es einen selbst.

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