Sherlock Holmes
oder: Ist Conan Doyle noch zeitgemäß? Überlegungen anlässlich des 150. Geburtstags – Ein Essay von Peter Münder.
Wirkt Sherlock Holmes nicht meistens wie ein autoritärer, oberschlauer, selbstgefälliger wilhelminischer Oberlehrer? Mit einem Blick auf einen Spazierstock, einen Hut oder auf eine Taschenuhr kann er fast die komplette Biografie der Besitzer erschließen, die Scotland-Yard-Inspektoren Lestrade und Gregson deklassiert er mit seinen messerscharfen Kombinationen als inkompetente Laien und die hohe Kunst der deduktiven Lösung schwierigster Kriminalfälle hat er offenbar, wie sein Gefährte und Helfer Watson anerkennend registriert, zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin perfektioniert. Und immer betätigt sich Holmes als penetranter PR-Manager in eigener Sache. Vom viel gepriesenen britischen Understatement hat der Mann offenbar nie etwas gehört. Selbst über Edgar Allan Poes cleveren Kombinierer Dupin mokiert er sich höhnisch – der sei als langsamer Brüter nicht so recht ernst zu nehmen. Immerhin ist Holmes aber kein Snob: Die Zusammenarbeit mit heruntergekommenen Straßenjungen, die er als Informanten und Botenjungen anheuert, sei „wesentlich produktiver als mit Dutzenden von Polizeibeamten“.
Null
Trotzdem hätte der Meisterdetektiv den Pisa-Test wohl mit Glanz und Gloria vergeigt, auch die Mittlere Reife nie erreicht. Watson ist jedenfalls nicht nur verblüfft, sondern geradezu entsetzt über die gigantischen Wissenslücken von Sherlock Holmes, als er diesen vor der Gründung ihrer Junggesellen-WG in der Baker Street 221B bei Mrs. Hudson trifft, um ihn kennenzulernen. Wir erinnern uns: Der verletzte, nicht allzu liquide Militärarzt und Afghanistan-Heimkehrer John H. Watson, M.D., muss sich nach einem längeren, kostspieligen Hotelaufenthalt in London eine billigere Bleibe suchen und erhält vom ehemaligen Studienfreund Stamford den Tipp, sich doch mit Holmes zusammenzutun. Watson wird nicht richtig schlau aus dem scharfsinnigen Fachidioten Holmes: Einerseits kennt der die obskursten chemischen Substanzen, er hat ein Traktat über 130 unterschiedliche Typen von Ascheresten veröffentlicht, neue Untersuchungsmethoden zur Identifizierung von Blutspuren entwickelt und ist bestens informiert über kontroverse aktuelle Kriminalfälle in Frankreich, Deutschland oder Belgien.
Andererseits hat Holmes noch nie etwas vom berühmten britischen Literaten Thomas Carlyle oder von Kopernikus gehört. Solche Einzelheiten, erklärt er, würde er auch gar nicht behalten, sondern sofort wieder vergessen. „Aber das Sonnensystem!“ protestiert Watson. „Was interessiert mich denn, ob sich die Erde um die Sonne dreht“, blafft Holmes seinen Gefährten an, „selbst wenn wir uns um den Mond drehen würden, wäre das für mich genauso belanglos“. Holmes verweist auf seine begrenzten mentalen Speicherkapazitäten, die einem Zimmer ähnelten, das auch regelmäßig entrümpelt werden müsste. Der irritierte Watson, der sich während seines Treffens mit Holmes ein Bild über diesen merkwürdigen Forscher machen will, stellt ihm also (in der ersten Holmes-Story A Study in Scarlet von 1887) verschiedene Testfragen mit irritierenden Resultaten, die er auf seiner Liste („Sherlock Holmes – Seine Schwächen“) feinsäuberlich notiert:
1) Literaturkenntnisse: Null
2) Philosophie: Null
3) Astronomie: Null
4) Politik: Dürftig
5) Botanik: Sehr gemischt – äußerst kenntnisreich hinsichtlich Belladonna, Opium und allen Giften, weiß aber nichts über allgemeine Gärtnerei
6) Geographie: praktische, aber begrenzte Kenntnisse
7) Chemie: allumfassend
8) Anatomie: sehr genaue, aber unsystematische Kenntnisse
9) Literatur über Kriminalfälle: Immens, er scheint jedes Detail aller Horrorgeschichten dieses Jahrhunderts zu kennen
10) Kann gut auf der Violine spielen
11) Ist ein extrem guter Boxer und Schwertkämpfer
12) Hat gute Kenntnisse der britischen Rechtssprechung
Oxbridge
Diese Einschätzung des Meisters als einseitig spezialisierter Fachidiot ist wahrlich ein geschickter Kunstgriff, mit dem Conan Doyle (1859–1930) seinen vermeintlich so oberschlauen Helden Holmes vom Sockel holt. Denn oft genug wirkt der Detektiv ja mit seinem theatralischen Auftrumpfen als allwissender Deduktionskünstler oder als egomanischer Hüter seines Herrschaftswissens, in das er die Betroffenen erst bei der Lösung aller Probleme einweiht, absolut penetrant. Aber der Technokrat Holmes, immer auf der Höhe neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse, ist eben auch seiner Zeit voraus. Er wäre heute mit den neuesten DNA-Tests oder Wanzeninstallationen ebenso vertraut wie mit dem Ausspähen von PCs und hätte sich wohl auf das Ausmerzen der organisierten Kriminalität spezialisiert.
Aber Pisa hin, dürftiges Allgemeinwissen her – für die eingeschworene britische Holmes-Gemeinde sind diese kritischen Erörterungen bildungsbeflissener Kulturträger offenbar überflüssig und lächerlich. Stattdessen spekuliert man unter Holmesianern schon seit Jahrzehnten darüber, an welcher Uni und an welchem College der kluge Kopf Holmes wohl studiert hat: Oxford oder Cambridge? Dutzende von Autoren, darunter auch die Oxford-Absolventin Dorothy Sayers, haben sich mit dieser eminent bewegenden Frage mit einer mehr oder weniger ironischer Attitüde beschäftigt und ihre Ergebnisse, je nach eigenem akademischen Hintergrund, in Büchern und Broschüren veröffentlicht. In Oxford findet man in den meisten Buchläden Nicholas Utechins 27-Seiten Pamphlet Sherlock Holmes at Oxford worin er für das University College als Holmes’ alma mater plädiert. In Cambridge hält man es dagegen eher mit der Broschüre von Trevor Halls Sherlock Holmes – Ten Literary Studies. Für den Cambridge-Alumnus steht natürlich fest, dass der Super-Detektiv auch in Cambridge studiert hat. Schließlich sei die akademische Hochburg naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auch für den an Medizin und Chemie stark interessierten Holmes enorm attraktiv gewesen, argumentiert Trevor Hall. Wahrscheinlich hätten solche Debatten über den potenziellen Oxbridge-Absolventen Holmes den ohnehin schon von seinem Helden entnervten Conan Doyle in den totalen Wahnsinn getrieben.
Größenwahn
Übrigens fand Watson Holmes’ latenten Größenwahn und seine theatralischen Gesten, mit denen er seine omnipotente Deduktionskunst anpries, mitunter so abstoßend, dass er ihm seine Taschenuhr als Testobjekt überließ: Was könnte ihm die Uhr über den Vorbesitzer aussagen? Natürlich gar nichts, vermutete Watson – endlich würde er den allzu selbstgefälligen Detektiv als eloquenten Schaumschläger demaskieren. Als Holmes dann unverdrossen über den alkoholsüchtigen, verarmten Bruder von Watson schwadroniert, dessen Lebensstationen sozusagen in der Taschenuhr eingraviert seien, wird es Watson zu bunt: Diesmal sei er zu weit gegangen und habe sich als weit unter seinem üblichen Niveau schwadronierender Scharlatan entlarvt – diese Details könne er nie und nimmer aus der Betrachtung der Uhr gewonnen haben! Natürlich kann Holmes ihn eines Besseren belehren: Nur ein Alkoholsüchtiger zerkratzt beim Aufziehen der Uhr mit zittriger Hand die silberne Uhr mit dem Schlüssel, die Stationen des langsamen finanziellen Ruins seien im Deckel eingraviert: Die Registriernummern der Pfandhäuser seien dafür ein sicheres Indiz- wieder einmal triumphiert der clevere Meisterdetektiv.
War es diese coole, unbeirrbare Souveränität des Groß-Deduktionisten, die zum Begeisterungstaumel der Holmes-Leser führte und ihn in unsicheren Zeiten als Hüter traditioneller Werte und als Garanten sicherer Verhältnisse so populär machten? Wohl kaum. Vielmehr war es wohl der Mix von überlegenem Kombinationstalent, brillanter Recherche und den diversen exzentrischen Marotten (inklusive Drogenkonsum), die dieses Superhirn so menschlich und sympathisch mit seinen Schwächen erscheinen ließ, dass der Meisterdetektiv sich in den Herzen seiner Leser einen festen Platz eroberte. Was dann ja prompt zum furiosen Proteststurm führte, als der entnervte Autor seinen Helden 1893 bei den Reichenbach-Fällen in den exitus jagte. Der bekennende Nietzscheaner und Viktorianer Doyle, der sich so begeistert für die klassische imperialistische Intervention im Burenkrieg aussprach, hatte mit seiner nach dem ehemaligen Medizin-Professor Joseph Bell modellierten Figur des Meisterdetektivs Sherlock Holmes offenbar einen nietzscheanischen Übermenschen produziert, der nicht nur intellektuell gut aufgestellt war, sondern auch noch für spannendes Entertainment sorgte.
Und heute?
Aber ist dieses Faszinosum heute noch aktuell? Offenbar ja: „Mich hat immer die Atmosphäre seiner Geschichten fasziniert“, erklärte der Sherlock-Holmes-Spezialist Peter Neugebauer alias Zeus Weinstein während einer gelungenen Hamburger Veranstaltung anlässlich des 150. Geburtstags von Conan Doyle in der historischen Kaffeerösterei in der Speicherstadt. Weinstein hat das jetzt neu aufgelegte große Holmes-Kompendium verfasst und schwärmt immer noch für die präzise Figurenzeichnung der Holmes-Romane, mit denen eben auch Atmosphäre und Lebensgefühl des hegemonialen Empire authentisch vermittelt werden. Den Holmes-Abend mit Lesung des „Holmes-Enkels“ Michael Koglin und Saxophon-Einlagen von Eberhard Michaely hatte der Krimi-Spezialist Michael Friederici organisiert, der jeden Monat Krimi-Autoren zu „Schwarze Nächte“ – Lesungen in die Eimsbütteler Kneipe „Sonnenseite“ einlädt. Der mit eindrucksvollem schauspielerischem Talent gesegnete Friederici konnte übrigens in seiner Lesung die atmosphärische Dichte und das heimelig Kauzige der Dialoge wunderbar herausarbeiten.
Unverwechselbar, ungehobelt, unverschämt: Im wunderbaren Fan-Magazin „Sherlock“, das leider im letzten Jahr eingestellt wurde, hatte der Kolumnist Moriarty (sic!) die ambivalente Haltung vieler Holmes-Fans gegenüber ihrem Helden auf den Punkt gebracht, als er über einige unerträgliche Holmes-Marotten wie die Qualmerei, den Drogenkonsum, die ewige Besserwisserei u.a. schrieb: „Ich hätte ihm an Watsons Stelle gern einen Kinnhaken verpasst, ihm die Zähne ausgeschlagen und mit dem Ruf: „Schönen Gruß an den Zahnarzt!“ zum Teufel gejagt – aber ist Holmes nicht gerade wegen seiner Schwächen und Marotten ein so liebenswerter, großartiger Typ? Yes, indeed, wer wollte da widersprechen?
Exit Holmes
„Wenn ich Holmes jetzt nicht umbringe, dann erledigt er mich!“ soll der völlig entnervte Conan Doyle angesichts der grassierenden Holmes-Heldenverehrung genervt geäußert haben. Er hatte sich ja, nachdem sein Sohn Kingsley während des Ersten Weltkriegs gefallen war, immer mehr dem Spiritismus zugewandt und war ohnehin davon überzeugt, mit seinen historischen Romanen die wirklich bedeutenden Werke geschaffen zu haben. Schwer vorstellbar, dass sich heute Tausende empörter Leser mit Trauerflorbinden auf den Straßen zusammenrotten, um für die Wiederauferstehung ihres Helden und gegen die Indifferenz eines Autors gegenüber seiner Lesergemeinde zu protestieren. Aber ist dies nicht die wahre, höchste Anerkennung, die einem Autor überhaupt ausgesprochen werden kann?
Check
Mein Fazit: Die Einfädelung des plots mag oft ziemlich umständlich sein, die aus unscheinbaren Indizien abgeleiteten Schlussfolgerungen des Meisterdetektivs aus der Baker Street sind mitunter doch sehr spitzfindig. Aber die Lektüre ist immer noch ein Hochgenuss, weil man eintaucht in eine Welt, die noch simple Gruseleffekte wie einen mit Phosphor eingeriebenen Höllenhund oder eine durchs Ventilatorgitter kriechende Schlange bereithält. Und die Erzählperspektive des naiven Beobachters Watson ermöglicht genau den kritisch-sympathischen Balanceakt, den der Leser selbst als ideal empfindet – all dies ist keineswegs elementary, sondern geradezu brillant. So verzeiht man dem kombinierenden Oberlehrer mit der kümmerlichen Allgemeinbildung, der uns immer noch so großartig unterhält, eben doch seine irritierenden Marotten.
Peter Münder
Arthur Conan Doyle: Sherlock Holmes Geschichten.
Diogenes Verlag. 254 Seiten. 8,90 Euro.
Zeus Weinstein: Das umfassende Sherlock Holmes-Handbuch.
Zürich: Kein & Aber. 264 Seiten. 22,90 Euro.
John Dickson Carr: The Life of Sir Arthur Conan Doyle.
New York: Carroll & Graf. 304 Seiten.14 US-Dollar.
Sir Arthur Conan Doyle: Memoirs & Adventures.
London: Wordsworth Editions. 352 Seiten. 8,90 Pfund.
Nicholas Utechin: Sherlock Holmes at Oxford.
Oxford: Robert Dugdale Books. 28 Seiten (brosch.). 1,25 Pfund.
Daniel Stashower: Sir Arthur Conan Doyle. Das Leben des Vaters von Sherlock Holmes (Teller of Tales: A Life of Sir Arthur Conan Doyle, 1999). Biografie.
Deutsch von Michael Ross und Klaus Peter Walter.
Köln: Baskerville Bücher 2008. 511 Seiten. 36,90 Euro.
| Sherlock Holmes Walk/London
| The Sherlock Holmes Society Journal. Hrsg. von der Sherlock Holmes Society London.