Alles alter Stoff, aber hochaktuell
„The Prize of Peril“, eine Kurzgeschichte des genialen Robert Sheckley, trat eine ganze Lawine von motivisch ähnlichen Narrativen von Stephen King bis John Woo los – blutige Menschenjagd als Unterhaltungsevent. Wolfgang Menges Adaptionen (in der Regie von Tom Toelle) unter dem Titel „Das Millionenspiel“ aus dem Jahr 1970 ist und bleibt ein Meilenstein der deutschen Fernsehunterhaltung. Anna Veronica Wutschel hat sich das Spektakel noch einmal angesehen.
„Guten Morgen meine Damen und Herren“, begrüßt eine freundlich lächelnde TV-Sprecherin die Zuschauer zu „Das Millionenspiel“, einer zynischen Reality-Show, in der ein Kandidat von einer Mörderbande live vor laufenden Kameras durch Deutschland gejagt wird. Eine spannende, aber auch risikobehaftete Show, schließlich kann den Kandidaten jederzeit der Tod ereilen, da muss für den Ernstfall ein Alternativprogramm vorbereitet sein. „Sollte der Kandidat jedoch vorzeitig den Tod finden“, beruhigt die Sprecherin dann auch sogleich die Zuschauer, „erwartet Sie ein umfangreiches Unterhaltungsprogramm mit vielen beliebten Künstlern.“ Letztlich ist es für den fiktiven Privatsender Transeuropa-TV und seinen Partner, den Stabilelite-Konzern, völlig irrelevant, was über den Bildschirm flimmert, solange die Quote stimmt.
Der Film „Das Millionenspiel“ basiert auf der Kurzgeschichte „Prize of Peril“, die Robert Sheckley bereits 1958 verfasste. Die TV-Inszenierung stammt aus dem Jahr 1970 und gelang dem Autor Wolfgang Menge und dem Regisseur Tom Toelle so rigoros provokativ, so authentisch, dass sich nach der Ausstrahlung begeisterte, oder auch finanziell verzweifelte Zuschauer meldeten, um sich als Kandidat für die nächste Runde zu bewerben. Trotz oder gerade wegen des beißenden Zynismus, der menschenverachtenden Hetze, trotz oder wegen der kontrovers inszenierten Kritik am Quotenfernsehen, die sich als Reality-Show selbst als Quoten-TV präsentierte, war „Das Millionenspiel“ bei der Erstausstrahlung ein echter Straßenfeger und entzweite die Nation. Denn neben den begeisterten oder einfach verwirrten Zuschauern, die selbst Kandidat werden oder Karten für die Live-Sendung erstehen wollten, gab es weitaus mehr, die sich über derartig miserables Fernsehen empörten. Ein Skandalfilm, so schien es, war im Fernsehen gelaufen, und – das als kleiner weiterer Skandal am Rande – auch nur, weil der WDR lediglich dachte, die Filmrechte zu besitzen. Da diese Annahme jedoch auf einem Irrglauben beruhte, durfte „Das Millionenspiel“ dann über 30 Jahre nicht mehr im Fernsehen gezeigt werden.

Jörg Pleva (Foto: Udo Grimberg/Wikimedia Commons 3.0)
Geschmacksverschiebung
Die Verbannung vom Bildschirm schadete indes wenig, die Kritik feierte den Film zu Recht immer wieder als „visionär“, als nahezu „prophetisch“. Schließlich kann der so überspitzt provokante Blick in die Zukunft als eine Vorwegnahme späterer Trash-Kulturphänomene wie „Big Brother“ und Co. sowie dem reinen Kommerz-TV betrachtet werden. Und auch wenn eine derart mörderische Menschenjagd-Show es als Format bislang (noch) nicht auf den Bildschirm geschafft hat, scheint die Debatte über Quotendiktatur, Konsum, Voyeurismus, Moral und Selbstdarstellungswahn unerlässlich akut. Angesichts der rasanten Sinn-, Geschmacks- und Werteverschiebung, die das Fernsehen seit der Etablierung der Privatsender erlebt, ist es durchaus erstaunlich, dass „Das Millionenspiel“ auch nach über 40 Jahren verdammt frisch, in seinem Anliegen so dringlich wirkt. Vom zynisch bös pointierten, temporeichen Skript über die grandios besetzten Schauspieler, den abgründig unterhaltsamen Sound von „Can“-Keyboarder Irmin Schmidt bis hin zur stilsicheren Inszenierung stimmt alles, passt alles perfekt ins Bild und könnte heutzutage kaum besser neu komponiert werden.

Robert Sheckley (Foto: John Henley/Wikimedia Commons 3.0)
Geniales Casting
Vor allem die Besetzung kann als Geniestreich bezeichnet werden. Als Show-Moderator keinen Schauspieler zu wählen, sondern den abgebrühten Banal-Quassler Dieter Thomas Heck, der damals gerade durch die Moderation der ZDF-Hitparade zu einem der bekanntesten und beliebtesten Moderatoren im deutschen Fernsehen wurde, darf als überaus cleverer Schachzug bezeichnet werden, und trug einen großen Anteil zu der angestrebten, vermeintlichen Authentizität des Gezeigten bei. Dieter Hallervorden als Chef der Mörderbande zu wählen, mag aus heutiger Sicht vielleicht überraschen, dass Hallervorden indes einen tauglichen Bösewicht abgeben konnte, hat er kurze Zeit später noch einmal als psychopathischer Anhalter in dem bizarren Kurzthriller „Der Springteufel“ bewiesen, bevor er sich dann vornehmlich in wohl finanzstärkere „Nonstop Nonsens-“Gefilde blödelte.
Und auch der Todeskandidat ist mit Jörg Pleva perfekt besetzt, scheint er doch so durchschnittlich, so unscheinbar, dass sich der Zuschauer nur schwer entscheiden können wird, ob er den Gejagten sympathisch findet, Mitleid für ihn empfindet, oder eben nicht. Die Fernsehreporter Heribert Fassbender, Arnim Basche oder Gisela Marx spielen sich selbst, und unter die im Dokustil gezeigten Fernsehzuschauer, die von Laiendarstellern gemimt werden, mischen sich Profis wie Elisabeth Wiedemann mit famosen Kurzauftritten.
Sex ’n’ Crime
Auch sonst liefert das Skript hinreißende Mixed Pickles aus Real Life und TV-Wahnsinn. Die Show zeigt, wie eine ganze Fernsehnation zum Täter, zum Helfershelfer, zum Voyeur oder schweigenden Wegschauer im Sinne der propagierten „aktiven Freizeitgestaltung“ wird. Ein obskures Fernsehballett tanzt zu der Musik von Can im avantgardistischen Stil, und die seltsam deftig sexualisierten Werbespots für die Nullpille, die Antibabyspritze sowie für ein Potenzmittel zerhacken die Sendung in feinster aktueller TV-Manier.
Nach der ersten Auflage von 2009, ist „Das Millionenspiel“ jetzt als Doppel-DVD erneut mit „Smog“ (1973, Buch: Wolfgang Menge, Regie: Wolfgang Petersen) als Bonusfilm erschienen. Jener Mix aus Spielfilm und Pseudo-Doku über die titelgebende Umweltkatastrophe wurde nach der Erstausstrahlung ebenfalls als effektheischende Science Fiction geschasst, das im Film dargestellte Szenario war aber bereits wenige Jahre später schon von der Realität überholt worden.
„Smog“ besitzt zwar nicht den Unterhaltungswert des „Millionenspiels“, hätte dank seines ebenso cleveren wie prophetischen Charakters aber eigentlich auch eine Soloveröffentlichung verdient.
Als Extras gibt es eine sehenswerte 45-minütige Dokumentation über Wolfgang Menge, ein eher mäßig spannendes 20-minütiges Interview mit Menge und einen Audiokommentar mit Jörg Pleva. Alles alter Stoff, alles Retro, aber eben vom Feinsten und, das ist der Clou – hochaktuell. Und so passt es dann auch wunderbar ins Bild, dass Didi Hallervorden angesichts seiner jüngsten Filmrollen momentan als Charakterdarsteller gefeiert wird. War eben einfach seiner Zeit voraus – dieses „Millionenspiel“.
Anna Veronica Wutschel
Das Millionenspiel: 2 DVDs. Genre: Thriller. Produktionsjahr: 1970, 1973. Laufzeit: 180 Min. + 63 Min. Bildformat: 4:3. Tonformat: DD 2.0 Stereo. Sprache: Deutsch. FSK: ab 12 Jahren. Studio: Hamburg enterprises. Darsteller: Dieter Hallervorden, Jörg Pleva, Dieter Thomas Heck u. a. Erscheinungstermin: 21.11.2014. 12,99 Euro.
Den Blog von Anna Veronica Wutschel finden Sie hier.