Geschrieben am 15. Februar 2017 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Klassiker-Check: George Orwell

Download-horzFAKE NEWS, DOUBLE THINK UND NEWS SPEAK: ORWELLS KAMPFANSAGE AN VULGÄR-FASCHISTOIDE VERDUMMUNGSSTRATEGIEN

Dass man George Orwells Romane „1984“ und „Animal Farm“ im „Orwell-Jahr“ als Schul-Lektüre las und seine Warnungen vor einem diktatorischen Überwachungsstaat intensiv diskutierte, ist nachvollziehbar. Nun scheint die Wut auf eine chauvinistische, vulgär-radikale Trump-Rhetorik einen neuen Orwell-Boom ausgelöst zu haben: Double-Speak, „Alternative Fakten“, ein mit dreisten Lügen operierender Propagandafeldzug: All diese Versatzstücke aus Trumps Horror-Ideologie erinnern an Orwells düstere „1984“-Dystopie. In den USA und hierzulande sind Orwell-Titel wieder auf den Beststellerlisten vertreten, aber auch Romane wie Philip K. Dicks „The Man in the High Castle“, Sinclair Lewis´ „It can´t Happen here“ und Aldous Huxleys „Brave New World“ werden wieder mit großem Interesse gelesen. Der idealistische Einzelgänger und Sprachartist Orwell (eigentlich Eric Blair, 1903-50) kämpfte vor achtzig Jahren auch im spanischen Bürgerkrieg in der sozialistischen POUM-Brigade gegen die Franco-Faschisten. Ein Rückblick auf den Mahner und Kämpfer George Orwell. Von Peter Münder.

Dass der egomanische Donald Trump seine Aufgabe darin sieht, einen Feldzug gegen kritische Medien zu führen, war ja schon während seines Wahlkampfes deutlich geworden. Nun wird das komplette Debakel mitsamt  seiner dumpfbackigen Hetze und einer kleinkarierten, verlogenen Detailhuberei auch in grotesken Details sichtbar, über die sich Donald Furioso so furchtbar aufregen kann, dass er seinen Pressesprecher zu „Richtigstellungen“ vorpreschen lässt, die sich dann als „alternative Fakten“, bzw. als dreiste Lügen entpuppen. Bei der Inaugurationsfeier sollen laut Trump mehr Zuschauer präsent gewesen sein als je zuvor, Washingtons Boutiquen hätten kaum noch Festkleider im Angebot gehabt, ließ der Spezialist für raffinierte Deals verlauten – was von der New York Times mit Nachfragen bei mehreren Modehäusern überprüft wurde: Die präsidialen  Behauptungen stellten sich als Unfug heraus, doch diese plumpen Lügen dürfen im Dunstkreis des neuen Präsidenten nicht als solche entlarvt werden. Sie wurden von Pressesprecher Sean Spicer als Bestandteil einer üblen medialen Kriegsstrategie gegen Trump dargestellt. Der cholerische Narzisst Trump, der offenbar nur bewundernde Groupies in seinem Umfeld tolerieren kann, hatte Journalisten ja bereits als „unehrlichste Menschen auf der Welt“ bezeichnet. Und Ende Januar noch hämisch getwittert: „jemand mit Eignung und Überzeugung sollte die LÜGENPRESSE und erfolglose @nytimes kaufen und sie entweder in Ordnung bringen oder sie in Würde schließen lassen!“

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Nach dem kritischen Bericht der New York Times zur entspannten Lage an der gut bestückten Boutiquenfront verstieg sich die Trump-Beraterin Kellyanne Conway zu der Behauptung, es handle sich hier einfach nur um „alternative Fakten“. Und außerdem sollte der NBC-Reporter das alles „nicht so dramatisch“ darstellen. Der hatte Conway nur kritisch gefragt, weshalb Pressesprecher Spice bei seinem ersten öffentlichen Auftritt unbedingt so eine plumpe Lüge fabrizieren musste. Offenbar ist fast alles im Umkreis dieses Präsidenten „trumped up“: Also aufgeblasen, übertrieben oder gefälscht.

518BX6meSBL._SX362_BO1,204,203,200_„Alternative Fakten“: Der Ausdruck ähnelt dem Newspeak-Jargon aus Orwells Negativ-Utopie 1984. Im Sinne der totalitären Big Brother-Diktatur werden darin historische Fakten der jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Lage „angepasst“, so dass es trotz aller politisch-militärischen Irrungen/Wirrungen keine Widersprüche mehr hinsichtlich der drei gegeneinander Krieg führenden Supermächte Ozeanien, Eurasien und Ostasien gibt. Winston Smith, der aufmüpfige 1984-Protagonist, der dann doch zum umgedrehten Brainwashing-Opfer und Big Brother-Fan wird, ist ja im „Ministerium für Wahrheit“ ausschließlich damit beschäftigt, widersprüchliche Angaben und Entwicklungen so zu verändern und der gerade angesagten Big Brother-Perspektive anzupassen, dass politische Kurswechsel und unangenehme Wahrheiten nicht mehr erkennbar sind. Mit Hilfe dieser „alternativen Fakten“ kann Big Brother auch die erbärmliche Lage der dahinvegetierenden „Proles“ erklären: Die brisante militärische Konfrontation mit den mächtigen Gegnern erfordere eben gewisse ökonomische Opfer …

Die Debatte über den Zuschauerandrang bei Trumps Inaugurations-Show, auch der Disput um angeblich ausverkaufte Edel-Klamotten wegen des gigantischen Interesses mag ja so lächerlich sein, dass die New York Times fragte, ob der Präsident diese kleinkarierte rechthaberische Erbsenzählerei überhaupt nötig hätte. Offenbar ja – denn dem profilneurotischen Egomanen geht es zuerst um seine eigene Denkmalpflege, um seine unantastbare Aura. Politik ist für den Fan vulgärer protziger Goldschmiedearbeiten eine Art Baseballspiel, bei dem die meisten Homeruns zählen, nicht die Kompromisse, die mit politischen Kontrahenten zu einer erfolgreichen Lösung führten. „America First“ hat für ihn denselben Stellenwert wie „Trump First“. Und für die realistische Darstellung dieser einfachen Ausgangssituation eignet sich das kompakte Twitter-Eindampfverfahren eben am besten – so kann man kritische Differenzierungsprozesse vermeiden und knackige Phrasen produzieren, die benebeln und Widersprüche verschleiern, die sonst schnell als Lügen entlarvt würden.

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Fotos Wigan (c) Peter Münder

IMG_0613Doch Trumps Sprechblasen und die Hasstiraden gegenüber politischen Gegnern wirken vor allem banal, peinlich und grotesk, wenn man Orwells radikales Erkenntnisinteresse, sein Gerechtigkeitsempfinden und seine aufopferungsvollen Versuche betrachtet, den miserablen Lebensbedingungen der „Down and Out“-Außenseiter und ausgebeuteten Arbeiter auf den Grund zu gehen. Für seine Analyse der Situation der Grubenarbeiter in Nordengland („The Road to Wigan Pier“) kroch er trotz seiner lädierten Lunge mit den Hauern in den Kohleschächten herum und wohnte in ihren von Ungeziefer wimmelnden Gemeinschaftsunterkünften. Wo er es allerdings nicht allzu lange aushielt, weil ihm der volle Nachttopf unter dem Frühstückstisch „dann doch den Rest gab“. Nach den Schichten mussten ihn die Kumpel aus dem Schacht heraustragen, weil Orwell aufgrund extremer Rückenprobleme nicht mehr laufen konnte. Er entdeckte bei seinen Recherchen, wie skrupellos die Minenbetreiber eine hohe Sterberate der Kumpel in Kauf nahmen und einen Teil ihres Lohns für Bestattungskosten einbehielten. Heutzutage will man in Wigan George Orwell für eine Art Disneyland instrumentalisieren und hat am Kanal eine Museums-Mall mit einem Orwell-Pub eingerichtet. Eine „Pier“ hat es ja nie gegeben, “Wigan Pier“ ist eine höhnisch-sarkastische Umschreibung für einen Steg, an dem Kohleschuten in den 1920er Jahren ihre Lasten für den Transport auf dem Kanal nach Liverpool verluden. Als ich mich vor einigen Jahren in Wigan auf Orwells Spuren begab, war es äußerst deprimierend, dass dieser  asketische, altruistische Chronist des Arbeiter-Alltags in der Stadt entweder völlig vergessen war oder von vielen Einheimischen immer noch als „widerlicher Nestbeschmutzer“ beschimpft wurde – wie  schon 1937 in zahlreichen Leserbriefen nach der Veröffentlichung von „The Road to Wigan Pier“. Inzwischen hat sich die Orwell Society jedoch um sein Vermächtnis gekümmert und organisiert Diskussionen über Orwells Werke. In diesem Jahr, 80 Jahre nach der „Wigan Pier“-Veröffentlichung, sogar in Wigan selbst (Vgl. „Spanish Civil War and Wigan – The Battle of Jarama“ am 28. Februar sowie Vortrag Stephen Armstrong im Museum of Wigan Life; 7. März: „The Road to Wigan Pier at 80“).

BESTSELLER-NEUAUFLAGEN UND BÜHNENVERSION VON 1984

„Welcome to Dystopia“ hieß jetzt ein Bericht der englischen Orwell-Society über den neuen Orwell-Boom, den auch der Guardian ausführlich würdigte. Bemerkenswert ist nicht nur, dass es diverse Neuauflagen der Orwell-Bestseller 1984 und Animal Farm in den USA gibt (9500 Prozent (!) mehr Orwell-Titel wurden innerhalb weniger Tage laut NY Times den USA verkauft) sondern nun auch wieder Bühnenversionen von 1984 aufgeführt werden: Nach den Produktionen des American Repertory Theater in Cambridge, Mass. und am Shakespeare Theater Washington soll am New Yorker Hudson Theater ab Juni eine 1984-Inszenierung der beiden Produzenten Sonia Friedman und Scott Rudin zu sehen sein. In England gab es 1984-Aufführungen bereits in den letzten Jahren, u.a. in Nottingham und am Londoner Almeida Theatre. Nach all den präsidialen Eskapaden, Invektiven und Peinlichkeiten des vulgären US-Immobilien Tycoons scheint nun „Orwell First“ die Devise der Trump-Kritiker  zu lauten. Good news in weird times!

1984

1984 (Film, deutsch 1956)

OLDSPEAK, NEWSPEAK, DUCKSPEAK, BASIC ENGLISH

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Ausschnitt: 1984

Orwell ging es vor allem auch um den Zusammenhang von Brainwashing und Sprachverstümmelung: Wie wirkt sich der Gebrauch von Abkürzungen auf die Auseinandersetzung mit komplizierten Zusammenhängen aus? In 1984 werden Abweichler im „Joycamp“ bestraft und umerzogen – es ist ein KZ, wie man es heute wohl auch in Nordkorea betreiben würde. Dieser Verharmlosungs-Jargon ist Bestandteil der Big Brother-Indoktrination. Orwell hat sich im 1984-Nachwort zu den Newspeak-Prinzipien über die  Auswirkung dieser Terminologie auf kognitive Fähigkeiten geäußert und auf Verständnisprobleme im Vergleich zu Oldspeak hingewiesen: „All men are equal“ würde von einem Newspeak-User nur so verstanden werden, dass alle Menschen gleich groß, schwer oder stark seien – keineswegs könnte damit das Konzept von Freiheit oder politischer  Gleichberechtigung angesprochen werden – so etwas würde nämlich gar nicht mehr in das Wahrnehmungsraster passen oder in der ursprünglichen Bedeutung erinnerlich sein. Sprachverkürzung und das Vergessen ursprünglicher Bedeutungen würden laut Orwell unmittelbar zusammenhängen. Deswegen hatte er wohl auch die Unterstützung des Basic-English-Programms aufgegeben, das im Rahmen einer Sprachreformbewegung um 1930 von C.K. Ogden mit Regierungshilfe initiiert wurde. Mit den 850 Wörtern und einer vereinfachten Grammatik des Basic English sollten rudimentäre Englischkenntnisse schneller vermittelt werden als mit konventionellen Lernmethoden, außerdem sollte es auch als 1984agemeinsamer Code mit den Aliierten gebraucht werden, wofür Premierminister Churchill um 1940 ein spezielles Komitee eingesetzt hatte. Sogar bei der BBC experimentierte man mit Basic English-Sendungen. Die negativen Aspekte einer behördlich kontrollierten Sprache hatte Orwell aber schnell erkannt – wie er später mit dem Newspeak-Jargon demonstrierte. Er konnte sich mit dieser linguistischen Problematik so intensiv auseinandersetzen, dass er auch „Duckspeak“ für denkbar hielt: Das entenähnliche Quaken, in Verbindung mit einem begrenzten Vokabular, nur von der Larynx abgesondert ohne dass irgendwelche Regionen aus dem Gehirn involviert sind, erklärt Orwell im 1984-Nachwort, wäre die ideale  Kommunikationstechnik in einem totalitären Staat. Ein von der Times gelobter „doubleplusgood duckspeaker“ wäre folglich ein verdienstvoller Redner und Big Brother-Anhänger, dem das höchste Lob gebührt.

Orwells Allergie gegenüber einem auf Verdummung abzielendem Sprachgebrauch und seine Sensibilisierung hinsichtlich jeder Form der Zensur war durch seine einjährige BBC-Tätigkeit beim Indien-Dienst 1941-43 als Textredakteur stark beeinflusst worden. Er konnte zwar literarische Debatten in Gang setzen, die man in Indien über Kurzwelle empfangen konnte, doch Eingriffe in seine Texte und kleinkarierte bürokratische Vorschriften enragierten ihn dermaßen, dass er seinen Job kündigte und Literatur-Redakteur bei der Wochenzeitung Tribune wurde, wo er sich in seiner Kolumne „As I like it“ mit allen Themen beschäftigen  konnte, die ihn interessierten.

wiganVOM TELLERWÄSCHER ZUM VISIONÄR

Nach dem fünfjährigen Polizeidienst in Burma (1922-27) hatte Orwell oft selbstkritisch über seine Funktion als Repräsentant eines imperialistischen Unterdrücker-Apparats reflektiert. Er war von Schuldgefühlen geplagt worden und stürzte sich nach der Rückkehr aus Asien während seiner „Down and Out“-Phase in London und Paris ins andere Extrem: Nun wollte er als obdachloser Trunkenbold zur Weihnachtszeit in London unbedingt verhaftet werden und einige Tage im Knast verbringen, um das Leben am untersten Rand der Gesellschaft aus erster Hand beschreiben zu können. Doch den indifferenten Bobbies erschien der 1,90 Meter große Hagestolz eher als unauffällig-harmlose Figur denn als Ruhestörer. Daher kam Orwell nur einmal in den „Genuss“ eines kurzen Ausnüchterungsprozesses in einer Wache. Trotzdem hat er die Lebensbedingungen Londoner Obdachloser und Pariser Kellner so einfühlsam und als intensive und aufrüttelnde Erfahrung beschrieben, als wäre er wie weiland Maxim Gorki im Petersburger Nachtasyl untergetaucht.

Über die „natürliche Anständigkeit“ in den Dickens-Romanen schwärmte Orwell während seiner „Mutual Friend“-Lektüre in Marrakesch, wo er 1938/39 während seines mehrmonatigen Genesungsurlaubs möglichst viel von Dickens lesen wollte. Neben dem extrem ausgeprägten Gerechtigkeitsempfinden, über das sich Cyrill Connolly gern mokierte („Orwell kann sich nicht die Nase putzen, ohne die bedauernswerte Lage englischer Arbeiter in Taschentuchfabriken zu beklagen“), war dieses Engagement für natürliche Anständigkeit und seine Empathie für Außenseiter das entscheidende Leitmotiv in Orwells Vita. Dies ist eine Dimension, die jetzt in der Werte-Diskussion mit amerikanischen Plutokraten oder chauvinistischen Rednecks zwangsläufig ausgeblendet bleibt.

In seinem Nachruf auf den nach einer schweren TB 1950 verstorbenen George Orwell konstatierte Bertrand Russell damals: „Menschen wie Orwell, die dem Satan seine Hörner und Hufe geben, ohne die er eine Abstraktion bleibt, kann ich nur dankbar sein“.

Peter Münder

orwellBiographische Daten:
ERIC BLAIR/ GEORGE ORWELL

1903 Eric Arthur Blair am 25. Juni in Motihari, Bengalen geboren. Vater Richard Blair ist als britischer Beamter beim Opium Department angestellt und zuständig für die Qualitätskontrolle von Opium. Die rund 4000 Tonnen Opium, die jährlich produziert wurden, stellten mit einem Profit von 6,5 Millionen Pfund eine enorme Einnahmequelle dar

1904 Rückkehr nach England mit der Mutter und Schwester Marjorie

1911-16 St. Cyprian´s Prep School, Eastbourne. Harter Drill; er gewinnt ein Stipendium für Eton

1917-21 King´s Scholar Stipendiat in Eton

1922-27 Dienst in der Imperial Police in Burma

1927 Austritt aus dem Kolonialdienst

1928-29 Englischlehrer, Journalist, Tellerwäscher in Paris

1933 Down and Out in Paris and London erscheint bei V. Gollancz unter dem Pseudonym George Orwell

1934 Burmese Days  bei Harper & Brothers, USA

1937 Als Reporter in Spanien, Teilnahme am span. Bürgerkrieg in der POUM-Brigade. „The Road to Wigan Pier“ veröffentlicht, nach Halsdurchschuß zurück nach London

1938 Homage to Catalonia bei Secker & Warburg veröffentlicht. Sanatoriumsaufenthalt wegen TB, Mitglied der Independent Labour Party

IMG_06121941 Redakteur bei BBC/Indischer Dienst

1943 Redakteur beim „Tribune“

1944 Adoption des Sohnes Richard

1945 Animal Farm

1946 Critical Essays

1949 veröffentlicht Nineteen Eighty Four

19150 George Orwell stirbt am 21. Januar in London

 

Literatur:

1. Orwell: The Road to Wigan Pier. Penguin Books

Ders.: Down and Out in Paris and London

Ders.: Homage to Catalonia. Penguin Books 2003

Ders.: Burmese Days. Penguin 1989

Ders.: 1984. Signet Publ. New York 1959

Ders.: Animal Farm. Penguin

Stefan Howald: George Orwell. Rowohlt Monogr. 1997

Michael Shelden: George Orwell. Eine Biographie. Aus dem Amerikan. von Matthias Fienbork. Diogenes Zürich, 1993

Raymond Williams: Orwell. Fontana Books 1978

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