Geschrieben am 18. Juli 2009 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

KOPFSCHUSS N°12 von Uta-Maria Heim

Die Bekräftigung des Bestehenden

„Was bleibt mir denn noch?“
Adam Davies: Goodbye Lemon

Diese Frage stellt sich der junge Literaturdozent Jack Tennant, als sämtliche Gewissheiten hinüber sind. Alles, was er je gedacht hat über die Tragödie seiner Familie, über seine Herkunft und Heimat, ist falsch. Sämtliche Erinnerungen an die Kindheit sind verlogene Irrtümer. Seine Geschichte entpuppt sich nach und nach als eine Summe von Leerstellen. Er weiß nur: Er muss nochmals ganz von vorne anfangen. Mit Goodbye Lemon hat der amerikanische Autor Adam Davies ein Meisterwerk verfasst, das kein Psychothriller sein will, aber auf der Klaviatur des Spannungsgenres virtuos spielt. Selten wurde ein Mikrokosmos verzweifelter ausgeleuchtet, in einer entlegenen Provinz akribischer nach authentischem Material gesucht.

Natürlich hinkt der direkte Vergleich, aber dieses Buch weist auf bestürzende Weise darauf hin, was am fundamentalistischen Regionalkrimi so verkehrt und weshalb es höchste Zeit ist, über diesen Schmarotzer, der sich wie eine Mistel auf den Stammbaum der Kriminalliteratur gesetzt hat, kritisch zu reflektieren.

Ziel ist nicht, die mangelnde Qualität von Regionalkrimis anzuprangern. Sie sind längst nicht alle schlampig geschrieben, keineswegs. Was sie jedoch in Reinkultur eint: dass sie gar keine Krimis sind. Sondern diesen Titel nur behaupten. Ein Krimi ist ein Stück Spannungsliteratur, das den Sprung wagt ins Unwägbare, hinein in jene Gefilde, die bis dahin unbetretbar sind. In ein Neuland, das grob ist, komisch, das Angst macht. Aus einer Unruhe und einer Bedrohung heraus wächst ein waghalsiger Entwurf, der diesen fantastischen und grauenhaften Kosmos letztlich doch nicht zu überwinden vermag. Kriminalliteratur baut eine Kunstwelt auf, die unsere wirkliche Welt transzendiert, aber dennoch auf den eigenen Gesetzen beharrt. Das hat sie mit jeder anderen Form von Literatur gemein, bloß dass sie sich dabei noch an ein paar Regeln halten muss, die variieren und sich weiterentwickeln.

Der fundamentalistische Regionalkrimi möchte das Gegenteil leisten und befindet sich damit in der Gesellschaft eines ultrakonservativen Journalismus: Das Bestehende soll wieder erkannt und bekräftigt werden. Der Schritt hin zur ästhetischen Verfremdung wird erst gar nicht versucht, geschweige denn geleistet. Die Katharsis wird nicht (wie im klassischen Kriminalroman) auf dialektischem Wege hergestellt, sondern steht a priori als Behauptung bereit. Es dreht sich, um es mal weniger elaboriert zu sagen, einfach um die Eroberung eines neuen Markts mit plakativen Mitteln. Und weil dies gelingt, ist dieses Subgenre, das ein verfressenes Antigenre ist, so erfolgreich. Das neu rekrutierte Massenpublikum, das freudig Regionalkrimis kauft, wendet sich von „echten“ Krimis entsetzt ab. (Im Irrglauben, es handele sich um bodenlosen Dreck.) Ziel ist nicht, gespannt in (erfundene) Abgründe zu blicken, sondern in die Scheiben des Nachbarhauses. Sie sollen mit genau dem gleichen Mittel geputzt sein, das die Nachbarin nimmt, und auch der Aufdruck auf ihrem T-Shirt sollte stimmen.

Ganz wichtig ist dann noch, dass die sympathische Ermittlerfigur, die es in Serie geben muss, blöder ist als der Leser oder die Leserin. Das ist dann witzig. Nicht mehr witzig ist, dass dem guten alten Kriminalroman so der Saft abgedreht wird, weil eine breit aufgestellte Käuferfamilie beschlossen hat, sich als zukunftsfähige Schicht der Krimikonsumenten zu definieren. Möchte man diese Spießer nicht verprellen, heißt es mitmachen im System. Keine selbst geschöpften Irritationen mehr! Schluss mit der Subversion! Das schlägt sich dann natürlich auch in der Sprache nieder: Wir fordern lückenlose Verständlichkeit bis zum letzten Dachmarkenprädikat!

Dies ist keinesfalls ein Pamphlet gegen präzise verortete Krimiliteratur, die es hoffentlich in allen Verlagen und Buchhandlungen gibt und die großartig sein kann. Und mit allen Mitteln unter die Leute gebracht werden muss, zur Not unter der Marke Regionalkrimi. Ja! Hier schießt auch keiner gegen einen sauberen Realismus. Es geht lediglich darum, ein Missverständnis aufzudecken: Eine Pandemie von ultralokalisiertem Identifikations-Trash infiziert derzeit das Genre. Von der Criminale bis zur abgelegensten Kriminacht sind wir besessen davon, ob ein Fall in Saarbücken oder im Unterland spielt. Ist das denn nicht eigentlich egal? Meistens ist das Wesentliche eh austauschbar. Doch die heimischen Sponsoren klatschen Beifall, die betroffenen Gemeinden strahlen und das Publikum johlt vor Wonne. Das darf alles sein, wenn es Spaß macht und die Konjunktur ankurbelt, aber bringt hier bitte nichts durcheinander. Der fundamentalistische Regionalkrimi ist nicht die Kinderkrankheit, er ist die Autoimmunkrankheit des Corpus Krimi.

Uta-Maria Heim

Adam Davies: Goodbye Lemon.
Zürich: Diogenes 2008. 345 Seiten. 21,90 Euro.