Geschrieben am 16. Februar 2013 von für Crimemag, Krimigedicht

Krimigedicht: Heinrich Heine – Jammertal

Heinrich Heine (Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim, 1831)

Heinrich Heine (Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim, 1831)

Jammertal

von Heinrich Heine

Der Nachtwind durch die Luken pfeift,
Und auf dem Dachstublager
Zwei arme Seelen gebettet sind;
Sie schauen so blaß und mager.

Die eine arme Seele spricht:
Umschling mich mit deinen Armen,
An meinen Mund drück fest deinen Mund,
Ich will an dir erwarmen.

Die andere arme Seele spricht:
Wenn ich dein Auge sehe,
Verschwindet mein Elend, der Hunger, der Frost
Und all mein Erdenwehe.

Sie küßten sich viel, sie weinten noch mehr,
Sie drückten sich seufzend die Hände,
Sie lachten manchmal und sangen sogar,
Und sie verstummten am Ende.

Am Morgen kam der Kommissär,
Und mit ihm kam ein braver
Chirurgus, welcher konstatiert
Den Tod der beiden Kadaver.

Die strenge Wittrung, erklärte er,
Mit Magenleere vereinigt,
Hat beider Ableben verursacht, sie hat
Zum mindestens solches beschleunigt.

Wenn Fröste eintreten, setzt‘ er hinzu,
Sei höchst notwendig Verwahrung
Durch wollene Decken; er empfahl
Gleichfalls gesunde Nahrung.

(1848/56)

Porträt Heinrich Heine: Wikimedia Commons/CC-PD-Mark

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