Geschrieben am 1. Dezember 2019 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2019

Kurzgeschichte von Robert Rescue (16)

Es muss schnell gehen

Ups, jetzt ist es passiert. Dabei achte ich doch jedes Mal genau darauf. Aber das neue Brotmesser, angeblich ein japanisches Shinzoku-Messer aus zwanzigfach gewalztem Stahl, vierzigfach gehärtet und fünfzehn Mal geschärft, trifft auf einen alten Brotlaib, dessen Beschaffenheit glauben lässt, dass man damit jemanden erschlagen könnte. Ergebnis: Die Klinge rutscht ab, schlägt auf meinen linken Zeigefinger und durchtrennt ihn. Ich spüre keinen Schmerz, noch nicht. Aber ich bin sehr, sehr verwundert und fühle mich beschämt, dass mir das passiert ist. Okay, das hat jetzt niemand mitbekommen, aber das Malheur wird Folgen haben, das kann ich nicht einfach so mit einem Zewa wegwischen. Die Leute werden fragen und ich werde Auskunft geben müssen. Es wird ein großer Spaß, nur nicht für mich. Andere würden jetzt aufschreien oder ohnmächtig werden, aber ich sitze ganz ruhig da und betrachte die Hand und den Finger. Normalerweise bilden sie eine Einheit, aber jetzt sieht das so merkwürdig aus und das macht mich nachdenklich. Der Blutkreislauf überlegt auch, was geschehen ist, aber ich bin sicher, er wird schneller und deutlicher auf das Ereignis reagieren.

Es spritzt und ich denke mir, was für eine Sauerei. Was soll ich tun? Aufwischen? Die Hand unter den Wasserhahn halten? Die Feuerwehr rufen? Deren Wache ist nur knapp 1500 Meter entfernt, aber kümmern die sich auch um abgetrennte Gliedmaßen? Was ist, wenn die mich abweisen und ich dadurch kostbare Zeit verliere? Mein Hausarzt? Ich schaue auf die Uhr auf dem Küchentisch. Der hat jetzt nicht geöffnet. Krankenhaus, kommt mir in den Sinn. Das scheint die Lösung zu sein. Soll ich anrufen und fragen, ob sie noch Kapazitäten frei haben? Ob sie, wenn ja, vielleicht einen Wagen schicken könnten, das würde mir jetzt sehr helfen. Anrufen geht nicht, die linke Hand ist zu nichts zu gebrauchen.

Ich höre den Nachbarn über mir durch die Wohnung laufen. Natürlich, ich werde ihn fragen, ob er mich hinbringen kann. Aber was mache ich mit dem Finger? Der liegt auf dem Tisch. Blut tropft aus ihm heraus. Die linke Hand dagegen fängt leicht an zu zittern, während das Blut immer noch spritzt. Die Küche sieht aus wie die Kulisse eines Kettensägenmassakers. Herrgott, wie lange dauert es, bis es lebensgefährlich wird? Soll ich den Finger mit Eiswürfeln transportieren? Geht nicht, ich habe zwar ein Gefrierfach, aber keine Eiswürfel. Einen Verband um den Finger machen? Quatsch, den brauche ich für die Hand. Verdammt, ich habe nicht einmal einen Erste-Hilfe-Kasten im Haus. Höchstens eine Packung Pflaster und ich weiß nicht, wo. Frischhaltefolie um den Finger und die Hand? Von der Bezeichnung her scheint das eine gute Lösung zu sein. Oder Alufolie für den Finger? Die würde warmhalten und das wäre doch sicherlich hilfreich, wenn es darum geht, den Finger wieder zu replantieren.

Mir fällt ein, dass mir meine Partnerin mal erzählt hat, dass es den Irrglauben gibt, in einem solchen Fall solle man sich den Finger in den Mund stecken.

Das sei, so meinte sie, gefährlich wegen den Keimen im Mund. Egal, den Finger kann ich zur Not verschmerzen oder lasse mir eine Prothese machen. Eine aus Titan oder Gold vielleicht. Das sieht bestimmt schick aus. Es muss schnell gehen. Ich habe keine Zeit, um den Computer hochzufahren und zu googlen, was ich tun muss. Ich nehme den Finger und stecke in mir in den Mund. Er schmeckt nach Zahnpasta, weil ich zuvor die Zähne geputzt habe. Außerdem wehrt sich die Zunge gegen den Fremdkörper.

Hoffentlich muss ich nicht kotzen und verliere den Finger. Ach, jetzt ist alles egal. Ich springe auf, stecke mir die linke Hand in die Hosentasche, öffnet die Tür und renne hoch zur Wohnung des Nachbarn.

„Hallo, Robert, wie geht es dir?“, begrüßt er mich. Ich hasse Floskeln generell und gerade jetzt ist am allerwenigstens Zeit und Anlass dafür. Schade, ich hatte gehofft, er hätte eine schnelle Auffassungsgabe.

„Hmbhmbmhhmbh“, erkläre ich in kurzen Worten.

„Was fehlt dir? Hast du dich verletzt?“

„Hmbhhmbhhmbh.“

„Ja, das leuchtet mir irgendwie ein. Was kann ich konkret tun? Ich brauche mehr Infos.“

„Hmbmhhmbhhmbh.“

„Robert, irgendwie machst du mir Angst mit deinem Gebrabbel. Also, ich weiß jetzt wirklich nicht, wo der konkrete Handlungsrahmen liegt.“

Er müsste nur auf meine Hose schauen, um das herauszufinden. Ein dunkler Fleck nässt alles bis zu den Knien ein. Er lässt mir keine Wahl. Ich nehme die Hand aus der Hosentasche und halte sie ihm entgegen. Blutspritzer verteilen sich auf seinem plötzlich erschrockenen Gesicht.

„O mein Gott“, höre ich ihn rufen. „So viel Blut. Das ertrage ich nicht.“

Dann sackt er vor mir zusammen.

Ach verdammt, was mache ich jetzt?

Soll ich es noch bei allen anderen Nachbarn im Haus probieren? Bei jedem einzelnen Klingeln und einen Moment warten, ob mir geöffnet wird?

Nein, das kostet zuviel Zeit. Es gibt nur noch eine Möglichkeit und ich ergreife sie zu spät. Ich renne die Stufen herab, runter in den Hof, dann auf die Straße. Das Virchow-Klinikum ist auch nur 2000 Meter entfernt. Was für ein Glück mit meiner Wohnlage, denke ich. Im Brandfall gibt es schnelle Hilfe und zum Krankenhaus kann ich laufen, sofern ich noch kann. Ein Taxistand vor dem Haus wäre jetzt die Krönung, aber man kann ja nicht alles haben im Leben. Ich presse den Ärmel des Pullovers auf den Fingerstumpf. Mist, den trage ich schon seit Wochen, der gehört eigentlich in die Wäsche. Ob der Keime hat? Ich hätte einen frischen anziehen sollen.

An der roten Ampel hupt ein Autofahrer. Ich strecke ihm den Mittelfinger der blutigen Hand entgegen. Ich hoffe, er erkennt das Zeichen. Mein Gang wird schwer, ich spüre Müdigkeit.

Ich schleppe mich, gegenüber des Virchow-Klinikums, entlang des Friedhofs Seestraße und denke mir, wie praktisch, dass die Gottesacker oftmals neben Krankenhäusern liegen. Da ist es ja nicht weit, wenn es keine Hilfe mehr gibt. Ich wechsele die Straßenseite und torkle die Einfahrt entlang. Ich glaube, die Wunde blutet nicht mehr. Es ist kein Blut mehr im Körper. Alles in der Küche, beim Nachbarn, im Hausflur, auf der Straße und an der dritten Ampel, wo ich beinahe aufgegeben habe. Mir wird schwarz vor Augen. Ich denke, in Zukunft kaufe ich nur noch Schnittbrot.

Dann denke ich: Wenn das mein letzter Gedanke auf Erden war, dann ein ziemlich blöder. Den finde ich besser. Ich sacke zusammen.

Seit November 2019 gibt es ein neues Buch von Robert Rescue. Es heißt„Das Leben hält mich wach“ und ist in der Edition MundWerk bei Periplaneta erschienen.
Robert Rescuebei CrimeMagZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

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