Geschrieben am 15. November 2016 von für Crimemag, Interview

Marcus Müntefering: Bloody Questions – The Crime Questionnaire (20)

charynHeute: Jerome Charyn

– Von Marcus Müntefering

– Im kommenden Jahr, am 13. Mai 2017, wird Jerome Charyn 80 Jahre alt. Und etwa zur selben Zeit wird das zwölfte und vermutlich letzte Abenteuer um seinen Lebenshelden Isaac Sidel erscheinen. Die unfassbarste Figur der Krimi-Geschichte war im bislang letzten Roman “Unter dem Auge Gottes” vom Cop aus der Bronx zum Präsidenten der USA aufgestiegen.

Kurz skizziert hatte ich diese sonderbare Heldenreise im meiner Rezension bei Spiegel Online: “Damals war sein Held noch ,ein kleiner Inspector’, mit einem zu großen Herzen und staunenden Augen. Ein jüdischer Junge aus der Bronx, fasziniert von den großen jüdischen Gangstern wie Arnold Rothstein – der dennoch Karriere bei der Polizei macht. Der immer eine Glock im Hosenbund trägt und nie einen Cent in der Tasche hat. Der bei jeder Gelegenheit in Tränen ausbricht und manchmal wochenlang verschwindet. Ein Ritter von der aberwitzigen Gestalt, der stolpert, sich aufrappelt, um sich schlägt, resigniert, weitermacht – und dabei, ohne wirklich zu wissen, wie ihm geschieht, immer höher steigt.“ Unwahrscheinlich? Bestimmt. Aber ist es unwahrscheinlicher, dass ein durchgeknallter Kindskopf-Cop zum Präsidenten wird als Donald Trump?

41cxekhacal-_sx300_bo1204203200_In Deutschland kennen und lieben wir Charyns Romane seit den Achtzigern, als Heyne den ersten Sidel “Blue Eyes” aus dem Jahr 1974 unter dem irrsinnigen Titel “Ping Pong Päng” veröffentlichte. Später erschienen seine Romane bei Rotbuch, Thomas Wörtche holte ihn zu Diaphanes. Es ist eine Serie wie keine andere im Genre, poetisch, halluzinatorisch, dunkel funkelnd, schreiend komisch. Und bei aller Abgedrehtheit kann man die Romane ganz wunderbar als Porträt seiner Heimat New York lesen: Indem er die Realität ins Fantastische verzerrt, vermittelt Chary uns die Essenz dieser Metropole. Wer heute nach New York reist, sieht nur noch die Disneyland- (oder Trump-) Version einer ehemals unvergleichlichen Stadt. In Charyns Romanen lebt das wahre New York weiter. Jerome Charyn for president!

  1. Haben Sie je darüber nachgedacht, ein Verbrechen zu begehen, oder gar schon mal eines begangen?

Ein Schriftsteller zu sein heißt Verbrechen zu verüben. Du zerstörst Menschen und ganze Gesellschaften, ohne die Absicht, sie je wieder zusammenzufügen. Mit jedem Wort, jedem Schritt kommst du dem Chaos näher.

  1. Wer ist der schlimmste Schurke (oder der beste Bösewicht) der Literaturgeschichte?

Der schlimmste Schurke der Krimi-Geschichte ist Dashiell Hammett, weil er dieses heillose Durcheinander angerichtet hat und wir uns nie von der wundervollen, tödlichen Posie seiner Sprache erholt haben.

  1. Erinnern Sie sich an Ihren ersten literarischen Mord?

Ich habe mich selbst getötet, in meinem ersten Meisterwerk, das ich mit zehn Jahren geschrieben habe. Irgendwie habe ich es geschafft, mich davon zu erholen und wieder aufzuerstehen.

  1. Die Beatles-oder-Stones-Frage: Hammett oder Chandler?

Hammett.

  1. Haben Sie schon einmal einen Toten gesehen? Und falls ja: Wie hat das Ihr Leben verändert?

Als ich für “Blue Eyes” recherchierte, war ich in der New Yorker Leichenschauhalle, und der Mann, der auf dem grässlichen Tisch lag, sah aus wie ein toter Indianer. Auf mein Leben hatte das keinerlei Auswirkungen, aber mein Bruder, ein Polizist, wurde beim Anblick der Leiche ganz grau.

  1. Wurden Sie jemals Zeuge oder Opfer eines Verbrechens?

Ja, aber ich möchte nichts dazu sagen.

  1. Gibt es irgendjemanden auf der Welt, dem Sie den Tod wünschen?

Das ist eine unglückliche Frage. Mir fallen da schon einige Namen ein, aber dann würde ich Gott spielen müssen. Und ich bin eher ein stiller Teufel.

  1. Welche Jobs hatten Sie, bevor Sie vom Schreiben leben konnten?

Schriftsteller sollten mit ihrer Arbeit kein Geld verdienen. Sie sind Poeten und Priester. Sie sollten so großzügig sein wie der heilige Franziskus und ihre Wörter verschenken. Aber es ist ihnen erlaubt, nach Brot zu betteln. Ich habe die meiste Zeit meines Lebens als Collegelehrer gearbeitet, und ich hatte jede Menge Spaß mit meinen Schülern. Ich habe lieber Film gelehrt als Literatur oder creative writing, und vielleicht sind meine Romane so etwas wie Filme in slow motion.

  1. Wären Sie nicht Schriftsteller – was würden Sie stattdessen tun (wollen)?

Es gibt nichts anderes, das ich tun möchte, und nichts anderes, dass ich getan habe oder tun könnte. Ich liebe meine Katze und eine menschliche Katze.

  1. Hören Sie beim Schreiben Musik? Und falls ja: welche?

Nein, aber gern danach. Ich liebe Leonard Cohen.

  1. Schreiben Sie lieber tagsüber oder nachts? Zu Hause am Schreibtisch oder wo immer Sie gerade sind?

Bei mir knirscht es ziemlich im Gebälk momentan. Ich arbeite, so viel ich kann, Tag und Nacht. Aber wenn ich die Sätze nicht gleich aufschreibe, purzelt die Poesie aus meinem Kopf.

  1. Was machen Sie, wenn Sie nichts Vernünftiges zu Papier bringen?

Wenn ich nicht schreiben kann, spiele ich mit meiner Katze.

  1. Was passiert nach dem Tod? Und was sollte nach dem Tod passieren?

Das große Mysterium, das schon Shakespeare beschäftigte und heute mich. Nichts passiert nach dem Tod. Wir hoffen, dass unsere Worte bleiben und die Menschen weiterhin erfreuen. Aber das werde ich nie erfahren.

  1. Verbrechen und Bestrafung: Was halten Sie vom Prinzip Auge-um-Auge/von der Todesstrafe?

Besonders schlimme Predatoren, vor allem solche, die sich von den Schwachen ernähren, sollten vielleicht niedergeschossen werden, aber ich möchte nicht ihr Henker sein.

  1. Ihr Kommentar zu dem Bert-Brecht-Zitat „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank“…

Ich verstehe, was Brecht gemeint hat, aber wir leben in dunkleren Zeiten als er. Heute sind es die Bankräuber, die Bank nach Bank gründen, bis in alle Ewigkeit.

  1. Was soll auf Ihrem Grabstein stehen?

Eine schwierige Frage. Vielleicht habe ich nie gelebt und werde auch nie leben. Daher bleibt mein Grabstein leer und stumm.

Marcus Müntefering

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