Geschrieben am 4. Oktober 2015 von für Crimemag, Film/Fernsehen, Kolumnen und Themen

Max Annas: Filmschau – On Dangerous Ground (1)

Jagd ohne Gnade-Poster-web1On Dangerous Ground: Film, Verbrechen und ungleiche Mittel (1)

Max Annas über Pietro Germis „La città si difende“

Max Annas wird auf CrimeMag künftig regelmäßig je einen Film auf seine Idee von und seine Haltung zu Crime, Abweichung, Ordnung und im Zweifelsfall ihre Wiederherstellung untersuchen. Diese Serie beginnt mit einem Film des italienischen Regisseurs Pietro Germi, mit „La città si difende“ von 1951. In der BRD trug er den Titel „Jagd ohne Gnade“, in der DDR hieß er „Bis zum bitteren Ende“, auf Englisch er „Four Ways Outund in Frankreich „Traqué dans la ville„.

Als Pietro Germi „La città si difende“ drehte, war Rom schon lange keine offene Stadt mehr. Der Neorealismus hatte als Genre sein Ende gefunden zu jener Zeit, 1951 – wenn er überhaupt je ein Genre gewesen war. Das Interesse des filmischen Neorealismus war der Blick auf Armut und ihre Opfer in Italien gewesen, sowohl in den letzten Kriegstagen als auch in der Zeit nach dem Ende des 2. Weltkriegs, und war eher politisch als ästhetisch motiviert gewesen. 1951 hatte sich die Welt verändert. Verbrechen hatte ein neues Gesicht erhalten. In den USA war der film noir entstanden, eine Reaktion auf den fernen Krieg und was er in den heimischen Köpfen ausgelöst hatte. Und in Italien hatte die Democrazia Cristiana die Wahlen gewonnen. Hier setzt Pietro Germi an mit seinem fünften Spielfilm an.

annas_überfall 1 vlcsnap-00009annas_flucht 1Ein Arbeiter ohne Arbeit

Vier Männer überfallen das Büro eines großen Fußballstadions in Rom und entkommen mit der Beute, mit zwei Koffern voller Geld. Zweien der Drei, die den Überfall ausführen, der Vierte ist der Fahrer, sind Stress und Panik ins Gesicht geschrieben. Das Publikum weiß sofort, dass hier keine Profis am Werk sind. Einer ist Künstler, eine Art Anführer, das zeigt Germi, als er den jüngsten im Quartett erzieht, der den Koffer, prall mit Geld, nicht zu schließen vermag, indem er einen Teil des Geldes auf den Boden wirft. Zeigen statt reden. So macht man das. Der Junge ist der jüngste der vier Männer, er wohnt bei seinen Eltern, bei denen die Bilder der Radrennfahrer Coppi und Bartali an der Wand hängen. Der dritte ist ein ehemaliger Fußballer, der von Kindern auf der Straße erkannt wird. Und Luigi, der Fahrer, ist derjenige, dem von allen die Verzweiflung am tiefsten eingeschrieben ist. Er ist ein Arbeiter ohne Arbeit.

Künstler, Ex-Fußballer, Verzweifelter und Junge

Die Geschichtsschreibung des Italienischen Kinos setzt den Regierungsantritt der DC in einen Zusammenhang mit dem Niedergang des Neorealismus oder der Verwässerung seiner Stoffe. Die Politik wollte, dass der italienische Film einen optimistischeren Ton anschlug. Das trifft mit Sicherheit zu. Auf der anderen Seite hatte sich das Publikum aber mit seiner Zeit entwickelt und sehnte sich nach anderen Stoffen und Bildern. Das konnte Germi bieten. In „La città si difende“ erzählt er eine Geschichte, die den Blick auf jene ohne Hoffnung wirft, einen hochmodernen Genrerahmen anbietet und auch noch einen so bitteren wie vorausschauenden politischen Kommentar auf das frühe demokratische Italien formuliert.

Das Publikum erfährt fast nichts über die vier Männer, die den Überfall begangen haben. Künstler, Ex-Fußballer, Verzweifelter, Junge. Der Künstler kriegt eine Backstory in Bildern, die des Ex-Fußballers wird im Dialog angedeutet, die beiden anderen verbleiben als jene, als die sie in der Aktion gezeigt werden. Vor allem einer drängenden Frage verweigert sich der Film. Wie zum Teufel kommen diese vier zusammen? Wie können diese vier so unterschiedlichen Gestalten gemeinsam einen Raubüberfall ersinnen und durchführen? Der Film verrät es nicht.

Jagd ohne Gnade-lc-web2aDer Bruch der Normen

Germi hat Genre im Italienischen Nachkriegskino etabliert. Die meisten seiner frühen Filme, die er seit 1946 drehte, beschäftigten sich mit crime im weitesten Sinne – der Aufstieg der Mafia, die Arbeit der Justiz, der Zusammenhang zwischen sozialer Lage und dem Bruch der Normen: Du sollst nicht überfallen. In „La città si difende“ zeigt er unter anderem auch, woran er nicht interessiert ist. Polizeiarbeit zum Beispiel: Die Bullen sind gesichtslose Roboter, die ihren Job stoisch erledigen und wissen, dass sie irgendwann zum Zug kommen werden. Sie werden gezeigt, damit das Publikum weiß, dass der Druck, den die vier Männer auf der Flucht verspüren, real ist. Der Fußballspieler als konfusester des Quartetts, wird als erster in Gewahrsam genommen, weil er diesem Druck nicht standhält. Keinem der Polizisten wird über karge Ermittlungstätigkeiten irgendetwas zugeschrieben, das ihn zu einer Person macht. Allerdings sind auch alle in einem Alter, das nahelegt, dass sie schon im alten Regime gedient haben. Mit ihnen kann man weder Politik noch einen Film machen.

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Nur eines: Wie kam man dem entkommen?

Das Publikum sieht die vier Räuber nicht ein einziges Mal zusammen in einem Bild. Zuerst sind es drei, die beim Überfall agieren. Bei der schlecht geplanten Flucht bleibt einer auf der Strecke und schafft es nicht zum Fluchtfahrzeug. Er muss allein entkommen. Später treffen sich Künstler und Fußballer, Künstler und Junge sowie Fußballer und Junge, doch je nur kurz. Getrieben von ihrer eigenen Besinnungslosigkeit und vor sich her getrieben von der Polizei, sind diese kurzen Treffen Eingeständnisse der eigenen Unfähigkeit. Keiner ist in der Lage, dem anderen beizustehen, der Künstler schickt zuerst den Fußballer weg und dann den Jungen. Der Fußballer schlägt den Jungen, der so ratlos war, einen der Koffer mit dem Geld in einem öffentlichen Brunnen zu versenken. Und auch hier: Nie ein einziges Wort darüber, was die vier miteinander verbindet, weil sich alle Gespräche nur darum drehen, wie man – möglichst auf sich allein gestellt – entkommen kann.

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Das Lachen als ausgrenzende Praxis

Die Stadt ist längst aufgeteilt 1951. Der Künstler bekommt das am eigenen Leib zu spüren, im Wortsinne. Ausgerechnet er, der zunächst so besonnen gewirkt hatte, setzt eine Waffe ein, um der Polizei, die ihn verfolgt, zu entkommen. Den zweiten Geldkoffer, den er am Bahnhof geparkt hatte, in seiner Hand, erschießt er einen Gepäckträger, der ihn aufhalten wollte. Damit liefert er sich endgültig jenen aus, die beherrschen, was er so dilettantisch angefangen hat. Verbrechen. Die Szene, in der er diese Leute um Hilfe bittet, ist die grausamste des Films. Der Chef im Raum, den Mund voller Spaghetti, fragt ihn, ob er einen Pass habe. Die Frage hat allein den Zweck, dem Künstler klar zu machen, wer das Geschäft kennt und wer nicht. Und der Künstler kennt es nicht. Alle Anwesenden außer ihm brechen in hämisches Lachen aus, als ihm keine Antwort auf die Frage einfällt. Später werden die richtigen Verbrecher den Imitator erschlagen wie den sprichwörtlichen tollen Hund. Der Koffer und mit ihm das Geld ist bei ihnen in guten Händen. Das Lachen als ausgrenzende Praxis hat Pasolini später in seinen Filmen immer wieder eingesetzt. Nie jedoch wirkte es so schäbig und gemein wie in der oben beschriebenen Szene. Ein Todesurteil, lachend vorgetragen.

annas_Pietro_Germi Pietro Germi war an anderen Konfliktlinien interessiert als die reinen Neorealisten vor ihm. Vittorio de Sica hatte 1948 in „Ladri de biciclette“ ein Drama um zwei Fahrraddiebstähle herum entwickelt, ohne je den Anschein erwecken zu wollen, als handelte es sich bei den Diebstählen um illegale Akte, geschweige denn Verbrechen. Nur ein Jahr nach de Sica variierte Germi das Thema radikal. „In nome della legge“ zeigt den Raub zweier Maultiere, wie das Fahrrad als Mittel zum Transport eingesetzt. Die beiden Angreifer stoßen den Besitzer der Tiere vom Karren und befehlen ihm, das Gesicht am Boden zu halten. Als er sich aber wehrt und einen von beiden erkennt, ermorden sie ihn kaltblütig. Wir sehen in der Szene, dass sie das nicht zum ersten Mal tun, einem Menschen das Leben zu nehmen. Der eine ist schnell mit einem Stein in der Hand zur Stelle, der andere schaut kaum hin, als er eine Flinte in den Mann hält. Lesen wir die beiden Film in einer Chronologie, dann muss viel geschehen sein in Italien in diesem Jahr.

Woran denn ist Pietro Germi interessiert?

Ganz anders die Situation in „La città si difende“. Um das zu erläutern, gehen wir am Besten noch einmal zurück zu den Dingen, an denen Germi nicht interessiert ist. Wie oben schon angedeutet, gehört dazu die Polizeiarbeit. Außerdem ist er auch nicht am Verbrechen selbst interessiert. Klar, die brillante Eröffnungsszene gehört dem Überfall selbst. In wenigen Bildern und Schnitten sehen wir ein volles Stadion und viele Fans, die gekommen sind, um Lazio gegen Juventus zu sehen. Deshalb sind die Kassen voll, und darum sind die vier Männer ja dort. Aber die Angestellten sind schon gefesselt, als der Film beginnt. Das eigentliche Verbrechen ist schon in der Abmoderation. Das Desinteresse an der Polizeiarbeit betrifft auch so etwas wie Spurensuche und Aufklärung. Lediglich in der Sequenz, in der das Leben des Künstlers kurz angerissen wird, folgt die Polizei einigen Hinweisen – allerdings mehr für das Publikum als zum eigenen Nutzen. Und dann ist Germi auch nicht am Psychogramm der Täter interessiert, ebenso nicht an ihrer sozialen Verwurzelung und in der Folge auch nicht an der Unausweichlichkeit, die jedes der vier Individuen in diese Situation getrieben hat, von der Linie abzuweichen, die die Gesellschaft vorgegeben hat. Aber woran denn?

Dann muss es übel stehen …

Der Kitt, der diese vier Männer zusammenhält, ist ihre Perspektivlosigkeit. Jede weiter gehende Individualisierung würde der Gruppe diese Repräsentation nehmen. Wenn in Italien nicht ein Einzelner dieser Vier, sondern alle aus dem Quartett, der Künstler wie der Junge, der Ex-Fußballer wie der arbeitslose Arbeiter, wenn alle vier als letztes Mittel einen Job sehen, von dem sie nichts verstehen und in dessen Folge einige von ihnen sterben können und werden, dann muss es übel stehen um die italienische Gesellschaft.

Germi war jemand, der seine Nase immer am Geschmack des italienischen Kinopublikums hatte. In der zweiten Hälfte seiner Karriere wurde er für seine bitteren Komödien bekannt, erhielt für sein Drehbuch zu „Divorzio all´italiana“ 1962 sogar einen Oscar. Vielleicht ist es angebracht, seine Inkorporation von noir in die neorealistische Maske nicht simpel als Antwort auf Hollywood zu lesen. Sein Erstling „Il testimone“ beschäftigte sich 1946 mit Mord und Todesstrafe und dem schmalen Grat zwischen Verurteilung und Schuldspruch. Bis 1959, als er den großartigen Whodunit „Il maledetto imbroglio“ drehte, in dem er ein Wohnhaus in Rom als Miniatur der italienischen Gesellschaft benutzt, interessierten ihn die Verfehlungen der kleinen Leute sowie die Reaktionen der Gesellschaft darauf.

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Der Unterschied zum klassischen noirs Hollywoods

Der film noir Hollywoods hatte einen ganz anderen Fokus. „The Asphalt Jungle“ wird hier und da als Referenzpunkt für Germis Film genannt. Aber John Huston hatte ein Jahr früher ein klassisches heist movie gedreht: Gangster treffen sich, planen, überfallen, verschwinden, werden gejagt. Viele der klassischen noirs Hollywoods interessieren sich für die Dinge, die Germi so laut ignoriert hat, die Psychologie der Figuren, die Aufklärung des Verbrechens. Sie beschäftigen sich mit Organisiertem Verbrechen oder wenigstens mit leidlich gut organisierten Verbrechen – und zumeist enden sie auf der Note, dass es, das Verbrechen, sich nicht lohnt, weil es sich nicht lohnen darf. Viele der Gangster des Film Noir – nicht alle – stehen so außerhalb der Gesellschaft. Oder vielleicht wäre es geschickter, zu formulieren: Sie werden in einen Bereich außerhalb der Gesellschaft gestellt.

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Germi klappt ein ganz anderes Bild auf. Verbrechen kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Und dass seine Protagonisten keine Chance haben, durch die am nächsten liegende Abweichung ihr Glück zu finden, nämlich Geld sich zu nehmen, das ihnen nach dem Buchstaben des Gesetzes nicht gehört, hat seine Gründe. Verbrechen lohnt sich nur, wenn es sich in den richtigen Händen befindet. Germi umarmt die Zukunft Italiens.

Max Annas

La Cittá si difende; Regie: Pietro Germi; Italien 1951, Story und Drehbuch: Federico Fellini, Tullio Pinelli, Pietro Germi, Guiseppe Mangione, Luigi Comencini; Kamera: Mario Montuori; Musik: Carlo Rustichelli; DarstellerInnen: Paul Muller, Renato Baldini, Fausto Tozzi, Enzo Maggio jr., Cosetta Greco.

Max AnnasMax Annas forscht zu südafrikanischem Jazz an der University of Fort Hare in East London, Südafrika, lebt aber in Berlin, Deutschland. Er hat zu viel zu vielen Themen publiziert, konzentriert sich nun ein wenig auf Fiktion und Konflikte, die gewalttätig gelöst werden. Der erste Roman, „Die Farm“, gewann 2014 den 3. Platz des Deutschen Krimi-Preises. Sein zweiter Roman, „Die Mauer“, erscheint im Frühjahr 2016.

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