Geschrieben am 1. August 2020 von für Crimemag, CrimeMag August 2020

Max Annas: „MUK 2“

„Wir wissen, wozu die fähig sind“

Ein Textauszug aus dem neuen Roman von Max Annas

Am 23. Juli erscheint der neue Roman von Max Annas – CrimeMag-Lesern nicht nur bekannt durch seine Bücher „Die Farm“, „Die Mauer“, „Illegal“ und „Finsterwalde“ sondern auch mit seiner Kolumne On Dangerous Ground: Film, Verbrechen und andere Mittel
In Absprache mit dem Autor und mit freundlicher Genehmigung des Verlags präsentieren wir Ihnen hier exklusiv das Kapitel 44 aus „Morduntersuchungskommission. Der Fall Melchior Nikoleit“, nebenan in den „Bloody Chops“ besprochen von Thomas Wörtche.

«Der Robert kommt gleich», sagte Broti. Er fuhr sich durch den dichten Vollbart und setzte sich auf den vorletzten freien Platz im kleinen Stuhlkreis. Broti hieß eigentlich Ralf Bäcker, aber alle nannten ihn nur Broti, und seinen richtigen Namen wusste ich auch nur, weil ihn mal einer irgendwo erwähnt hatte. Er kannte alle und jeden in Jena. Und wenn es einmal ein Problem gab, konnte man zu ihm gehen. Ich war noch nicht bei ihm ge- wesen, aber dass er bei dem Treffen dabei war, wunderte mich nicht. Irgendwann war Brotis Trabant-Kombi einmal mitten in der Nacht in Flammen aufgegangen. Alle wussten, dass das die vom Ministerium für Staatssicherheit gewesen waren.

Wir saßen in der Sakristei der Johanneskirche, Melchior und ich, Broti und Britta, die auch immer dabei war, wenn es um irgendetwas Wichtiges ging. Sie band ihre langen schwar- zen Haare gerade zu einem Zopf. Wir trafen uns extra am spä- ten Nachmittag, damit die beiden dabei sein konnten. Britta war Krankenschwester, und Broti machte irgendetwas bei der Reichsbahn, aber ich wusste nicht genau, was. Alle waren ernst.

Robert, der Pfarrer, kam in den kleinen Raum und blieb kurz neben dem freien Stuhl stehen. Zu enge Jeans und Nicki, schulterlanges, gelocktes Haar zwischen braun und dunkelblond und dieses Funkeln in den Augen. Robert Tilgner hatte immer diesen Blick, der sagte, dass man auch die schwierigsten Situationen noch mit ein bisschen Humor nehmen muss. Und wenn er vom befreienden Hauch des Evangeliums redete, wur- den auch die Leute weich, die eigentlich gar nicht glaubten. Ich zum Beispiel.

Robert setzte sich hin, aufrecht, und das Funkeln in seinen Augen verschwand. Das war sein Ausdruck dafür, dass es sich um eine schwierige Situation handelte. Ich hatte das schon ein paar Mal gesehen, aber da war es nie um mich oder um Leute gegangen, die ich gut kannte. Jetzt war das anders. Außer Melchior und mir wussten nur Sohle und Biber von dem, was ein paar Tage zuvor passiert war. Und die drei Leute, die sich hier mit uns trafen.

«Das ist kein Spaß», sagte Robert. Er ließ eine Pause. «Das wisst ihr.» Dann sah er nacheinander jeden Einzelnen in der Runde an.

Melchior nickte hektisch. Broti und Britta guckten wissend. Ich weiß nicht, wie ich ausgesehen habe.

«Broti, du hast das vorgeschlagen.» Robert fixierte den Bär- tigen. «Willst du das noch einmal für alle …?»

Broti legte die Unterarme auf die Oberschenkel und holte Luft. «Der Melchior hat schon ein paar Leuten gesagt, dass er angesprochen worden ist», sagte er.

«Und unterschrieben hat», ergänzte Britta.

«Ja, und unterschrieben.» Broti sah kurz zu ihr hinüber. «Jetzt wissen das schon ein paar Leute. Und wenn Melchior vorgehabt hat, das eben nicht für sich zu behalten, dann ist das was, das sowieso irgendwann denen zu Ohren kommt, die ihn angesprochen haben. Also ist der Vorschlag, die Situation hier sozusagen umzuwidmen. Wenn Melchior das nicht verheimlicht und das nicht nur mit sich austrägt und eventuell über sein Umfeld, also seine Freunde oder auch über die Junge Gemeinde berichtet, dann machen wir daraus den Fall, dass wir die wissen lassen, dass wir wiederum davon wissen.»

«Wie soll das funktionieren?», fragte Britta. «Du willst ja nicht, dass Melchior auf der Bühne steht», sie drehte sich zu Melchior, «ihr seid ja schon mal aufgetreten als Band, oder? … Ach, noch nicht. Und dann sagt: Also, ich bin übrigens vom Ministerium für Staatssicherheit angesprochen worden, und weil ich das irgendwie blöd finde, will ich, dass ihr das alle wisst. So kriegen die das auf jeden Fall mit.»

Robert und Broti schüttelten beide die Köpfe mit den langen Haaren.

«Nee», sagte Robert. «Das meine ich ja, wenn ich sage, dass das kein Spaß ist. Die sind stärker als wir, jedenfalls wenn es um die Muskeln geht, und niemand von uns wird die unterschätzen. Wir wissen, wozu die fähig sind.»

Das war eigentlich eine Diskussion unter den Älteren. Broti und Britta waren schon über dreißig, und Robert bestimmt fast vierzig. Sie wussten, worum es ging. Ich glaube, ich habe so einen Ton gemacht, so ein halbes Räuspern, und alle drei sahen mich an.

«Ja?», sagte Robert schnell. «Julia?»

So war die generelle Stimmung bei solchen Versammlungen. Wenn einer was zu sagen hatte, sollte er es auch tun.

«Was ist denn das genaue Ziel von so einer Aktion?», habe ich gefragt.

Die drei haben sich angesehen und darauf gewartet, dass einer von ihnen das Wort ergreift. Es war dann Robert, der das erklärte. «Da fallen mir zuerst mal drei Sachen zu ein», sagte er. «Das eine ist natürlich, einfach zu zeigen, dass sie ihre Mittel haben und wir eben unsere. Sie haben jemanden angeworben, und wir wissen es. Ihnen das zu zeigen heißt, dass wir uns als Gruppe organisieren und dass wir uns nicht als Einzelne in die Ecke drängen lassen. Das ist das eine. Das Zweite ist, dass die Aktion natürlich sinnlos geworden ist. Melchior ist als offener IM nicht mehr zu gebrauchen. All die Pläne, die sie gemacht haben, sind umsonst. Und …»

«Das Dritte», übernahm Britta, «ist, ihrer Arbeit den Sinn zu nehmen. Wenn sie wissen, dass wir von Melchior wissen, dass sie ihn angeworben haben, dann müssen sie damit rech- nen, dass wir auch von anderen wissen, die sie unter Druck gesetzt haben. Das ist es ja auch, was ich eben gemeint habe. Dass man so was nicht von der Bühne aus sagt. Die sollen wis- sen, dass wir das wissen. Aber es soll ja nicht so aussehen, dass wir das demonstrieren. Sie sollen irgendwie mitkriegen, dass das mit Melchior durchgedrungen ist zu uns, aber halt auch nur irgendwie.»

«Ja», sagte Broti. «Wir wollen, dass sie es wissen, aber nicht, dass sie denken, dass wir wollen, dass sie es wissen. Verstehst du, was ich meine?» Er sah mich an.

Klar verstand ich das.

«Je beiläufiger das wirkt», sagte Robert, «desto gefährlicher ist es für das MfS. Sie sollen nicht wissen, was wir alles wissen. Deshalb darf es auf unserer Seite wirklich gar keine Geste des Triumphs geben. Es ist eher so, dass wir uns das genau überlegen müssen, wie wir denken, dass die das erfahren könnten.» Er machte eine Pause. «Und da gibt es natürlich noch etwas.» Jetzt hatte er wieder diesen ganz ernsten Ausdruck. Er richtete ihn auf Melchior. «Wenn das raus ist, wenn die davon erfahren, dass du dich uns gegenüber geöffnet hast, dann kann das auch deren Rachegefühle wecken.»

«Wie meinst du das?», fragte ich.

Britta sah mich an, als hätte ich eine blöde Frage gestellt. «Na, wer Macht hat, der benutzt sie auch. Und sie haben Macht.»

«Ich finde dich da etwas zu defensiv, Robert.» Broti guckte zwischen dem Pfarrer und Melchior hin und her. «Wenn sie mitkriegen, dass Melchior uns von der Anwerbung erzählt hat, dann werden sie sich irgendetwas ausdenken, um ihm zu schaden. Das ist doch klar. Sie werden verbreiten, dass er schon lange IM ist. Oder sie überlegen sich etwas, um ihn in den Knast zu bringen.» Er sah Melchior in die Augen.

«Das ist schon klar», sagte Robert. «Wir müssen uns genau überlegen, wie wir das jetzt nach draußen bringen. Hat jemand einen Vorschlag?»

Textauszug mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. Aus:
Max Annas, Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikoleit

Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg.   

Tags : ,