Geschrieben am 1. August 2020 von für Crimemag, CrimeMag August 2020

Peter Münder: Der neue Markaris

Die Sehnsucht des Kommissars nach Nestwärme, Souflaki und Anerkennung

Die Wonnen des familiären Glücks nach der Geburt des Enkels kann Kommissar Charistos nicht richtig auskosten, weil das „Heer der Nationalen Idioten“ sich mit Bombenterror an „Heuchlern“ rächen will. Der griechische Krimi-Altmeister Petros Markaris hat im neuesten Band „Zeiten der Heuchelei“ mal wieder das griechische Drama im Fokus, in dem verzweifelte Krisenverlierer und gutgläubige Ausgebeutete auf der Strecke bleiben. – Von Peter Münder. 

„Zahltag“ hieß der 2011 veröffentlichte Krimi von Petros Markaris, in dem ein selbsternannter „nationaler Steuereintreiber“ plutokratische Steuerhinterzieher aufforderte, ihre Steuerschulden zu begleichen – sonst würde der Sensenmann sie bald niedermähen. Tatsächlich sorgt der Steuereintreiber für den baldigen Exitus der Steuerbetrüger – mit eher antiken Waffen wie Pfeil und Bogen, Schierlings-Cocktail oder einer Machete. Keine Frage: Eigentlich könnte jeder Roman dieses faszinierenden Chronisten der griechischen Krise „Zahltag“ heißen. Denn meistens stehen gutsituierte Betrüger im Mittelpunkt, die beste  Beziehungen zur Politkaste haben und sich mit korrupten Machenschaften bereichern, während der griechische Durchschnittsbürger sich nur mühsam über die Runden quälen kann und die Arbeitslosenrate immer höher wird. 

Der Dramatiker Petros Markaris, 83, der Brecht und Goethe ins Griechische übersetzte, thematisiert auch in seinem zwölften Roman wieder einmal  Rache-Motive sowie Selbstjustiz. Die Täter fühlten sich vom überforderten, untätigen Staat und seinen indifferenten Beamten im Stich gelassen. In „Zeiten der Heuchelei“  ist sein bodenständig-sympathischer Kommissar Charitos  nun Großvater geworden und findet beim Anblick des goldigen Enkels Lambros einen  befreienden  Ruhepol – auch wenn ihm die Verwandten mit ihren Spekulationen über die zukünftige Karriere des Neugeborenen auf die Nerven gehen. 

Philanthrop oder Schurke?

Doch die brutalen  Attentate, die das „Heer der Nationalen Idioten“ verüben, lassen den Kommissar nur kurz zur Ruhe kommen. „Tod den Heuchlern“ verkünden sie nach den verübten Morden auf ihren an die Medien weitergeleiteten Bekennerschreiben. Aber wieso soll etwa der Hotelketten-Tycoon Fokidis, der mit einer ferngezündeten Autobombe umgebracht wurde, ein Heuchler sein, grübelt Charitos – der Unternehmer  hatte ja sogar eine Hotel-Fachschule für unterprivilegierte, begabte Studenten gegründet und wurde auch in den Medien eher als Philanthrop beschrieben. Auch Opfer Nummer zwei, ein Beamter des Statistik-Amts, passt nicht in das Bild eines bösartigen Schurken, obwohl die „Nationalen Idioten“ ihren Mord auch mit dessen Heuchelei rechtfertigen wollen. Als der Kommissar mit seinen Ermittlungen unter Arbeitslosen und Obdachlosen sowie bei ehemaligen Hotelfachschülern eine heiße Spur entdeckt, kommen noch zwei EU-Beamte und ein Grieche bei einem von den Nationalen Idioten eingefädelten Auto-Unfall ums Leben. 

„Ich hatte in all meinen Dienstjahren noch nie mit einem so nervtötenden Fall zu tun“, stöhnt der Kommissar. Jedenfalls hat Charitos mit den schwierigen Ermittlungen genauso große Probleme wie mit dem Beamten-Apparat, dem er am laufenden Band Bericht erstatten und möglichst zeitnah Fortschritte melden muss. Viel lieber wäre er jedoch bei seinem goldigen Enkel… Und zum beglückenden, Wonnen der Gewöhnlichkeit versprechenden  Verzehr eines simplen Supermarkt-Souflakis kommt er auch nur, als er unbeobachtet von seiner ganz auf selbstgemachte Hausfrauenkost fixierten Ehefrau Adriani diesen Tabu-Bruch begehen kann – die Plastikfolie aus dem Supermarkt muss er natürlich auch noch heimlich entsorgen. Immerhin erkennt er aber rechtzeitig, dass die „Nationalen Idioten“ die Mühseligen und Beladenen sind, die kaum über die Runden kommen, arbeitslos oder entlassen sind, nachdem sie jahrelang ausgebeutet wurden – also in die klassische Opfer-Rolle passen. 

Keine Frage: Markaris kann immer noch einen spannenden Plot fabrizieren und für komische Effekte sorgen. Aber der sympathische  Charitos ist nun, nach zwölf aufreibenden Fällen, zum Kuschel-Kommissar mutiert. Er will es dem Polizeipräsidenten und den jeweiligen betroffenen Ministern Recht machen und dafür ein Lob einheimsen. Für seinen vorauseilenden Beamten-Eifer winkt eine zwar lang ersehnte, nun aber doch völlig überraschende Beförderung. Das Happy End ist aber erst dann perfekt, als er endlich wieder seinen kleinen Enkel in den Arm nehmen kann: Sorry, aber ist das nicht allzu „oparettenhafter“ Kitsch?

Offenbar hat Charitos noch nie etwas vom „Kleinen Dienstweg“ gehört: Ähnlich wie der inzwischen verstorbene Karteikarten-Fetischist und Systemtheoretiker Niklas Luhmann banalste Büro-Abläufe als systemrelevante Prozesse darstellte, hat sich beim harmoniebeflissenen  Charitos anscheinend die fixe Idee eingenistet, naheliegende Ermittlungsschritte erstmal  erbsenzählerisch mit Kollegen, Vorgesetzten und höheren Chargen durchzukauen. Action wird so zur bürokratischen Aktenhuberei. Lautet die nach der schmerzlichen griechischen  Krise gewonnene Einsicht etwa „Nur keinen vor den Kopf stoßen“? Wäre das vielleicht der entscheidende, hellenische Erkenntnisgewinn? 

Peter Münder

  • Petros Markaris: Zeiten der Heuchelei. Ein Fall für Kostas Charitos. Aus dem Neugriechischen von Michaela Prinzinger. Diogenes Verlag, Zürich 2020. 390 Seiten, 24 Euro.

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