Geschrieben am 14. April 2018 von für Crimemag, CrimeMag April 2018

Peter Münder über „Die 69 Stationen des Kisokaido“

xl-hiroshige_kisokaido-cover_01159On the Road von Edo nach Kyoto:
Big Shogun Is Watching You!

Die beiden  neben Hokusei (1760-1849) bekanntesten japanischen Holzschnitt-Künstler Utagawa Hiroshige (1797-1858) und  Keisai Eisen (1790-1848) produzierten  zwischen 1835-1838  Drucke mit Impressionen vom 543 Kilometer langen  Kisokaido zwischen der  1603 neugegründeten  Hauptstadt Edo (dem heutigen Tokyo) und der Kaiserstadt Kyoto. Diese Epoche der Frühmoderne war eine isolationastische  Phase, die geprägt war  von diktatorischer  Restauration der  herrschenden  Shogune und  allmählich zunehmendem wirtschaftlichem Wachstum. Der prächtige Bildband  „Hiroshige & Eisen“ zeigt 70 faszinierende  Drucke im Großformat:  Souvenirverkauf an Kiosken, Naturstudien, Bordellbetrieb, Raststättentrubel,  imperiale Machtdemonstrationen herrschender Eliten sowie den Kontrollbetrieb  an  69 Stationen dieser berühmten Straße – Von Peter Münder.

Zwei Wanderer hocken mit  ihren abgenommenen Strohhüten am Straßenrand, während sie in devoter Haltung die bombastische Daimyo-Prozession mit Standartenführern und Dutzenden bewaffneter Samurai  des mächtigen Lehensfürsten an sich vorbeiziehen lassen. An zwei hohen Lanzen werden die Insignien des Daimyo präsentiert,  der  rechts am Bildrand   in einer Sänfte transportiert wird.  Diese von Hiroshige  am Kisokaido an Station 50 vor Kano festgehaltene Szene ist eine der begeisternden Reise-Impressionen aus dem großartigen Kisokaido-Bildband mit den Holzschnitten von  Hiroshige  und Keisai Eisen, die beide zwischen 1835-1838 anfertigten.  Der auf diesen Tafeln gezeigte  Kisokaido mit seinen Kontrollposten, Trägern, Herbergen, Pilgern, Bettlern und Lastpferden  entfaltet seine Faszination so für den Bildbetrachter  fast wie in einem Road Movie . Eindrucksvoll ist die Vielfalt dieses Panoptikums ,  weil sie weder übermächtige Naturgewalten wie die Hokusei- Riesenwelle vor der Küste von Kanagawa dämonisieren noch verklärend eine  Harmonie von  Mensch und grandioser Natur  vorgaukeln wollen, worauf sich der Ukiyo-e –Spezialist („Bilder einer fließenden Welt“) Hokusei in seinen Naturbildern ja meistens kaprizierte.

 Da sich Hiroshige und Eisen auf  Alltags-Details  konzentrieren, die sie wie mit einer Lupe vergrößern und dem Betrachter oft auch mit ironischem Augenzwinkern und  viel Empathie vorführen, werden  Stimmungen, Aktivitäten und  komische Effekte akribisch ausgeleuchtet und wirkungsvoll dargestellt: Da steigt ein Reisender etwa unbeholfen vom Pferd und kann sich vor dem Sturz  gerade noch festhalten, oder herumkaspernde Kinder toben begeistert zwischen Erwachsenen herum: Immer betrachten Eisen oder Hiroshige diese Szenen mit extremer Detailfreude und Sympathie.

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Fünfsterne-Herberge und Holzklasse, Werbung für Schönheitspuder, den der Künstler verkauft

Der wunderbare, ebenso einfühlsame wie kenntnisreiche Kommentar von Andreas Marks  eröffnet  dem Laien viele  Perspektiven und Zusammenhänge: Die Schriftzeichen auf den Pferdedecken verweisen  auf den Verleger Takenouchi Magohachi , die  über den Kopf der Bettelmönche gestülpten Bastkörbe, die das gesamte Gesicht verbergen, sollen für Anonymität sorgen, die einfachen Bastschuhe der Träger wurden auch den Pferden um die Hufe gebunden, weil  geschmiedete Hufeisen damals viel zu exklusiv und  teuer waren und der Untergrund für Mansch und Tier zu beschwerlich. Räderkarren waren verboten, weil sie den Straßenbelag beschädigten. Gut betuchte Reisende  mieteten sich teure Packpferde und  ließen sich in einer Sänfte tragen. Von allen Stationen auf der 543 Kilometer langen Route war Otsu mit 14 892 Einwohnern damals die größte, Unuma mit 246 Bewohnern die kleinste.  Die Herbergen am Kisokaido  waren in  drei Klassen eingeteilt: Honjin waren Fünfsterne-Luxus-Unterkünfte für die herrschende Klasse und hohe Funktionäre, Waki-Honjin für die reisende Mittelklasse und Hatagoya für alle anderen Reisenden  vorgesehen. Außerdem gab es etliche primitive „Kichin Yado“-Etablissements, in denen man sich mit mitgebrachten Lebensmitteln selbst verpflegen konnte.  Die auf vielen Bildern von Eisen sichtbaren,  an den Stationen vertikal angebrachten Namen waren laut  Marks  schon erste Versuche von Product Placement: Sie warben  nämlich für den  Schönheitspuder  „Bien Senjoku“. Das  überwältigende, umtriebige Multitalent Eisen war neben seinen vielen künstlerischen Aktivitäten   auch noch als Verkäufer dieses Puders im Einsatz.

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Erotik-Maler, Kabuki-Schreiber, Roman-Illustator, Trinker und Bordellbetreiber: der fabelhafte Multi-Tasker Eisen

In seinen eigenen biographischen Angaben hatte Keisai Eisen  immer Wert auf  seine enorme Vielseitigkeit gelegt: Der  Sohn des berühmten Kalligraphen Iseda Masakei, entwarf ca. 1900 Holzdrucke und 400 Buchillustrationen, er  produzierte Texte für Kabuki-Dramen, malte schlüpfrig-erotische „Bijin-ga“-Ansichten schöner Frauen, war als hartnäckiger Trinker in den Freudenvierteln von Edo unterwegs, betrieb nebenher noch ein Bordell und veröffentlichte die populären „Essays eines namenlosen Alten“. Sein Verleger Takenouchi wusste genau, was für ein einmaliges Talent er mit Eisen gefunden hatte. Und Eisen signalisierte seine Hochachtung vor dem Verleger , indem er auf den  Stationsansichten die Decken der Lastenpferde mit den  Takenouchi-Verlags-Symbolen dekorierte.   Ursprünglich hatte Takenouchi  den Druck der Kisokaido-Ansichten  nur mit Hiroshige geplant. Als sich die Fertigstellung  des anvisierten  Projekts aber  wegen Hiroshiges längerer Reisen und anderer Arbeiten verzögerte, lieferte Eisen die ersten Ansichten- darunter auch das Bild  der Nihonbashi-Brücke (Station 1) in Edo, die den Ausgangspunkt der Kisokaido- Landstraßenverbindung nach Kyoto bildet.  Insgesamt 24  Ansichten lieferte Eisen, die restlichen  Blätter produzierte Hiroshige, der als Sohn eines Feuerwehr-Offiziers mit 12 Jahren Vollwaise wurde und dann zuerst den Posten des Vaters übernahm, bis er dann  beim Maler  Toyokuni in die Lehre ging und seine Künstlerkarriere begann . Seine gesamte Holzschnittproduktion belief sich auf ca. 4500 Drucke, für 150 Bücher fabrizierte er Illustrationen. Berühmt wurde Eisen mit seinen „100 Ansichten von Edo“ und der Serie „Die 53 Stationen des Tokaido“ um 1830.

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Sein Kollege Hiroshige hatte sich als Kachago-Künstler   anfangs auf Vögel- und Pflanzenbilder spezialisiert und dann Reise-Impressionen  vom Tokaido und dem Kisokaido  angefertigt. Der eher bodenständige Eisen  hat dagegen ein stärkeres Faible für den direkten Kontakt zum einfachen Volk: Er setzt sich  mitten unter die  mit Pferd und Gepäck in der einfachen  Holzboot-Fähre hockenden Fährgäste (Vgl. Tafel 3/ Station Warabi), beobachtet aus der ersten Reihe  sozusagen in Großaufnahme die fünf vor ihm auf Kunden wartenden Kurtisanen (Station 10/Fukaya) oder er porträtiert  die vor den Herbergen versammelten Reisenden. Er zeigt blinde Bettler, spielende oder herumplanschende Kinder, Lastenträger an der Nihonbashi-Brücke, die schwere Karren bewegen und trotz verschneiter Wege halbnackt sind.  Bei Hiroshige spielt die Natur-Szenerie eine größere Rolle; der Kontrollposten von Fukushima etwa (Bild 38) ist zwar eingezäunt , aber die hohen mit Gras bewachsenen Böschungen und die Akazien umgeben die herumlaufenden Lastenträger und  das am Boden vor den Beamten knieende Paar  mit ihrer sanften Pracht, als sollte diese natürliche Kulisse den einschüchternden Kontrollvorgang abfedern.       

Wie Marks im Kommentar erläutert, waren Vergnügungsreisen auf dem Kisokaido  vom mißtrauischen Shogun  verboten- er befürchtete unkontrollierbare Exzesse, Waffenschmuggel oder Attentate; Reisende mussten daher ihre Ausweispapiere an den Kontrollstationen  vorzeigen und den Zweck der Reise erklären.  Da Pilger sich  aber unbehelligt  auf die Reise begeben konnten, gaben sich die meisten Reisenden  trotz inniger Zech-Exzesse und  Freudenhausbesuche als Pilger aus.  Die 500 Kilometer von Edo nach Kyoto absolvierte man damals in rund zwei Wochen.

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 Einschüchtern und Herrschaft stabilisieren: Der Shogun verhängt Residenzpflicht zur Rundum-Kontrolle

Als der Shogun Tokugawa Ieyasu (1543-1616) in der Schlacht von Sekigawara  1600  Hideyori, den Sohn von Hideyoshi besiegt hatte und zum mächtigen Herrscher avanciert war,  verlegte  er 1603 die Zentralregierung nach  Edo (heute Tokyo) und trieb den Ausbau eines umfassenden Straßensystems  voran.  Tokugawa hatte eine Dynastie begründet, die mit 15 Shogunaten  über 250 Jahre lang diktatorisch-einschüchternd und vom Ausland abgeschottet herrschte. So prägte sie diese Epoche der Vormoderne  ganz entscheidend.  Bewaffnete Kontrollposten an den Straßen und eine spezielle Anwesenheitspflicht  in Edo für die Daimyo- Lehensfürsten und ihre Familien sollte  die Stabilität des Herrschaftssystems  gewährleisten. Mit dieser Residenzpflicht war eine raffinierte Geiselhaft  installiert, die Putschversuche und Revolten aufmüpfiger Daimyos verhindern sollte.

münder 41HIgHHCc3L._SX346_BO1,204,203,200_Mit einem Netzwerk von fünf großen Hauptstraßen wollte der Shogun  den Kontakt  aus Edo zu entlegenen Regionen sowie deren Kontrolle  erleichtern:  Ausgangspunkt  für diese Routen war jeweils die malerische  Holzbrücke Nihonbashi. Der 534 Kilometer lange Kisokaido führte landeinwärts  durch die Berge  zur Sanji Ohashi-Brücke in Kyoto. Entlang dieser Strecke waren 69 Poststationen und Gasthäuser eingerichtet,  Pferde und Lastenträger  standen für Transporte ebenfalls bereit. Den bei Reisenden so beliebten  Fuji konnte man nur in der Nähe von Edo sehen, häufiger konnte man den damals aktiven Vulkan Asama erblicken. Nach dem verheerenden Vulkanausbruch von 1783 war der Kisokaido allerdings weniger beliebt als andere Straßen wie etwa der über weniger hohe Gebirgspässe führende Tokaido, der außerdem den Vorteil hatte, näher am Meer zu liegen und den Reisenden die Ernährung mit frischem Fisch zu ermöglichen. Holzschnitte und Ansichten mit Szenen dieser Reiserouten waren damals sehr beliebt, wie der deutsche Geograph Johannes Justus Rein (1835-1918) konstatierte, der den Kisokaido zwischen 1874 und 1875 zweimal begeistert bereiste.

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Wer diesen grandiosen, so liebevoll edierten Prachtband im Großformat  mit Reprints aus der Sammlung Leskowicz (44×30 cm, mit Fadenbindung in einer herrlichen seidig schimmernden  Box)  betrachtet, kommt aus dem Staunen nicht heraus: Die  Holzschnitte  vermitteln einen überwältigenden Zauber japanischer  Alltags-Situationen, der  ja schon van Gogh und viele französische Impressionisten beeinflusste.  Eine Gesamtübersicht aller Abbildungen im Anhang sowie die   exzellenten Kommentare des auf Asiatica spezialisierten Kunsthistorikers Andreas Marks und der Kunsthistorikerin und Expertin für asiatische Textilien und Brettspiele Rihannon Paget runden dieses künstlerisch-editorische Glanzlicht ab. Für mich – und sicher auch für viele andere Kunstliebhaber- ist es  jedenfalls das  Buch des Jahres. 

münder gogh 325089-1Aktuell  und spannend scheint die Kunst der  beiden japanischen Holzschnitt-Großmeister ja immer noch zu sein. Das gigantische Besucher-Interesse am Amsterdamer van Gogh-Museum, wo man gerade die Ausstellung „Van Gogh und Japan“ (noch bis 24. Juni zu sehen) eröffnet hat, überrascht mich jedenfalls  überhaupt nicht: „Ich sehe überall Japan und fühle Japan“, schrieb van Gogh an seinen Bruder Theo, nachdem er  Holzschnitte von Hiroshige und Eisen gesehen und  quasi intravenös absorbiert hatte. Die Motive des genialen Duos beeindruckten ihn  jahrelang ebenso intensiv wie deren Technik: Van Gogh habe versucht, „mit einer japanisch beeinflussten idealisierten Vision die französische Landschaft darzustellen“, erklärte  der Amsterdamer Kurator der Ausstellung.

Utagawa Hiroshige & Keisai Eisen: Die neunundsechzig Stationen des Kisokaido. Mit Texten von Andreas Marks und Rhiannon Paget. Dreisprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch. Japanische Bindung in einer Box, in Leinen gebunden, Format 44 x 30 cm. Verlag Bendeikt Taschen, Köln 2017. 234 Seiten, in einem Karton mit Tragegriff, 100 Euro. Verlagsinformationen.

Siehe auch im selben Verlag: Hiroshige. Hundert berühmte Ansichten von Edo, 30 Euro.

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