On the Road von Edo nach Kyoto:
Big Shogun Is Watching You!
Die beiden neben Hokusei (1760-1849) bekanntesten japanischen Holzschnitt-Künstler Utagawa Hiroshige (1797-1858) und Keisai Eisen (1790-1848) produzierten zwischen 1835-1838 Drucke mit Impressionen vom 543 Kilometer langen Kisokaido zwischen der 1603 neugegründeten Hauptstadt Edo (dem heutigen Tokyo) und der Kaiserstadt Kyoto. Diese Epoche der Frühmoderne war eine isolationastische Phase, die geprägt war von diktatorischer Restauration der herrschenden Shogune und allmählich zunehmendem wirtschaftlichem Wachstum. Der prächtige Bildband „Hiroshige & Eisen“ zeigt 70 faszinierende Drucke im Großformat: Souvenirverkauf an Kiosken, Naturstudien, Bordellbetrieb, Raststättentrubel, imperiale Machtdemonstrationen herrschender Eliten sowie den Kontrollbetrieb an 69 Stationen dieser berühmten Straße – Von Peter Münder.
Zwei Wanderer hocken mit ihren abgenommenen Strohhüten am Straßenrand, während sie in devoter Haltung die bombastische Daimyo-Prozession mit Standartenführern und Dutzenden bewaffneter Samurai des mächtigen Lehensfürsten an sich vorbeiziehen lassen. An zwei hohen Lanzen werden die Insignien des Daimyo präsentiert, der rechts am Bildrand in einer Sänfte transportiert wird. Diese von Hiroshige am Kisokaido an Station 50 vor Kano festgehaltene Szene ist eine der begeisternden Reise-Impressionen aus dem großartigen Kisokaido-Bildband mit den Holzschnitten von Hiroshige und Keisai Eisen, die beide zwischen 1835-1838 anfertigten. Der auf diesen Tafeln gezeigte Kisokaido mit seinen Kontrollposten, Trägern, Herbergen, Pilgern, Bettlern und Lastpferden entfaltet seine Faszination so für den Bildbetrachter fast wie in einem Road Movie . Eindrucksvoll ist die Vielfalt dieses Panoptikums , weil sie weder übermächtige Naturgewalten wie die Hokusei- Riesenwelle vor der Küste von Kanagawa dämonisieren noch verklärend eine Harmonie von Mensch und grandioser Natur vorgaukeln wollen, worauf sich der Ukiyo-e –Spezialist („Bilder einer fließenden Welt“) Hokusei in seinen Naturbildern ja meistens kaprizierte.
Da sich Hiroshige und Eisen auf Alltags-Details konzentrieren, die sie wie mit einer Lupe vergrößern und dem Betrachter oft auch mit ironischem Augenzwinkern und viel Empathie vorführen, werden Stimmungen, Aktivitäten und komische Effekte akribisch ausgeleuchtet und wirkungsvoll dargestellt: Da steigt ein Reisender etwa unbeholfen vom Pferd und kann sich vor dem Sturz gerade noch festhalten, oder herumkaspernde Kinder toben begeistert zwischen Erwachsenen herum: Immer betrachten Eisen oder Hiroshige diese Szenen mit extremer Detailfreude und Sympathie.
Fünfsterne-Herberge und Holzklasse, Werbung für Schönheitspuder, den der Künstler verkauft
Der wunderbare, ebenso einfühlsame wie kenntnisreiche Kommentar von Andreas Marks eröffnet dem Laien viele Perspektiven und Zusammenhänge: Die Schriftzeichen auf den Pferdedecken verweisen auf den Verleger Takenouchi Magohachi , die über den Kopf der Bettelmönche gestülpten Bastkörbe, die das gesamte Gesicht verbergen, sollen für Anonymität sorgen, die einfachen Bastschuhe der Träger wurden auch den Pferden um die Hufe gebunden, weil geschmiedete Hufeisen damals viel zu exklusiv und teuer waren und der Untergrund für Mansch und Tier zu beschwerlich. Räderkarren waren verboten, weil sie den Straßenbelag beschädigten. Gut betuchte Reisende mieteten sich teure Packpferde und ließen sich in einer Sänfte tragen. Von allen Stationen auf der 543 Kilometer langen Route war Otsu mit 14 892 Einwohnern damals die größte, Unuma mit 246 Bewohnern die kleinste. Die Herbergen am Kisokaido waren in drei Klassen eingeteilt: Honjin waren Fünfsterne-Luxus-Unterkünfte für die herrschende Klasse und hohe Funktionäre, Waki-Honjin für die reisende Mittelklasse und Hatagoya für alle anderen Reisenden vorgesehen. Außerdem gab es etliche primitive „Kichin Yado“-Etablissements, in denen man sich mit mitgebrachten Lebensmitteln selbst verpflegen konnte. Die auf vielen Bildern von Eisen sichtbaren, an den Stationen vertikal angebrachten Namen waren laut Marks schon erste Versuche von Product Placement: Sie warben nämlich für den Schönheitspuder „Bien Senjoku“. Das überwältigende, umtriebige Multitalent Eisen war neben seinen vielen künstlerischen Aktivitäten auch noch als Verkäufer dieses Puders im Einsatz.
Erotik-Maler, Kabuki-Schreiber, Roman-Illustator, Trinker und Bordellbetreiber: der fabelhafte Multi-Tasker Eisen
In seinen eigenen biographischen Angaben hatte Keisai Eisen immer Wert auf seine enorme Vielseitigkeit gelegt: Der Sohn des berühmten Kalligraphen Iseda Masakei, entwarf ca. 1900 Holzdrucke und 400 Buchillustrationen, er produzierte Texte für Kabuki-Dramen, malte schlüpfrig-erotische „Bijin-ga“-Ansichten schöner Frauen, war als hartnäckiger Trinker in den Freudenvierteln von Edo unterwegs, betrieb nebenher noch ein Bordell und veröffentlichte die populären „Essays eines namenlosen Alten“. Sein Verleger Takenouchi wusste genau, was für ein einmaliges Talent er mit Eisen gefunden hatte. Und Eisen signalisierte seine Hochachtung vor dem Verleger , indem er auf den Stationsansichten die Decken der Lastenpferde mit den Takenouchi-Verlags-Symbolen dekorierte. Ursprünglich hatte Takenouchi den Druck der Kisokaido-Ansichten nur mit Hiroshige geplant. Als sich die Fertigstellung des anvisierten Projekts aber wegen Hiroshiges längerer Reisen und anderer Arbeiten verzögerte, lieferte Eisen die ersten Ansichten- darunter auch das Bild der Nihonbashi-Brücke (Station 1) in Edo, die den Ausgangspunkt der Kisokaido- Landstraßenverbindung nach Kyoto bildet. Insgesamt 24 Ansichten lieferte Eisen, die restlichen Blätter produzierte Hiroshige, der als Sohn eines Feuerwehr-Offiziers mit 12 Jahren Vollwaise wurde und dann zuerst den Posten des Vaters übernahm, bis er dann beim Maler Toyokuni in die Lehre ging und seine Künstlerkarriere begann . Seine gesamte Holzschnittproduktion belief sich auf ca. 4500 Drucke, für 150 Bücher fabrizierte er Illustrationen. Berühmt wurde Eisen mit seinen „100 Ansichten von Edo“ und der Serie „Die 53 Stationen des Tokaido“ um 1830.
Sein Kollege Hiroshige hatte sich als Kachago-Künstler anfangs auf Vögel- und Pflanzenbilder spezialisiert und dann Reise-Impressionen vom Tokaido und dem Kisokaido angefertigt. Der eher bodenständige Eisen hat dagegen ein stärkeres Faible für den direkten Kontakt zum einfachen Volk: Er setzt sich mitten unter die mit Pferd und Gepäck in der einfachen Holzboot-Fähre hockenden Fährgäste (Vgl. Tafel 3/ Station Warabi), beobachtet aus der ersten Reihe sozusagen in Großaufnahme die fünf vor ihm auf Kunden wartenden Kurtisanen (Station 10/Fukaya) oder er porträtiert die vor den Herbergen versammelten Reisenden. Er zeigt blinde Bettler, spielende oder herumplanschende Kinder, Lastenträger an der Nihonbashi-Brücke, die schwere Karren bewegen und trotz verschneiter Wege halbnackt sind. Bei Hiroshige spielt die Natur-Szenerie eine größere Rolle; der Kontrollposten von Fukushima etwa (Bild 38) ist zwar eingezäunt , aber die hohen mit Gras bewachsenen Böschungen und die Akazien umgeben die herumlaufenden Lastenträger und das am Boden vor den Beamten knieende Paar mit ihrer sanften Pracht, als sollte diese natürliche Kulisse den einschüchternden Kontrollvorgang abfedern.
Wie Marks im Kommentar erläutert, waren Vergnügungsreisen auf dem Kisokaido vom mißtrauischen Shogun verboten- er befürchtete unkontrollierbare Exzesse, Waffenschmuggel oder Attentate; Reisende mussten daher ihre Ausweispapiere an den Kontrollstationen vorzeigen und den Zweck der Reise erklären. Da Pilger sich aber unbehelligt auf die Reise begeben konnten, gaben sich die meisten Reisenden trotz inniger Zech-Exzesse und Freudenhausbesuche als Pilger aus. Die 500 Kilometer von Edo nach Kyoto absolvierte man damals in rund zwei Wochen.
Einschüchtern und Herrschaft stabilisieren: Der Shogun verhängt Residenzpflicht zur Rundum-Kontrolle
Als der Shogun Tokugawa Ieyasu (1543-1616) in der Schlacht von Sekigawara 1600 Hideyori, den Sohn von Hideyoshi besiegt hatte und zum mächtigen Herrscher avanciert war, verlegte er 1603 die Zentralregierung nach Edo (heute Tokyo) und trieb den Ausbau eines umfassenden Straßensystems voran. Tokugawa hatte eine Dynastie begründet, die mit 15 Shogunaten über 250 Jahre lang diktatorisch-einschüchternd und vom Ausland abgeschottet herrschte. So prägte sie diese Epoche der Vormoderne ganz entscheidend. Bewaffnete Kontrollposten an den Straßen und eine spezielle Anwesenheitspflicht in Edo für die Daimyo- Lehensfürsten und ihre Familien sollte die Stabilität des Herrschaftssystems gewährleisten. Mit dieser Residenzpflicht war eine raffinierte Geiselhaft installiert, die Putschversuche und Revolten aufmüpfiger Daimyos verhindern sollte.
Mit einem Netzwerk von fünf großen Hauptstraßen wollte der Shogun den Kontakt aus Edo zu entlegenen Regionen sowie deren Kontrolle erleichtern: Ausgangspunkt für diese Routen war jeweils die malerische Holzbrücke Nihonbashi. Der 534 Kilometer lange Kisokaido führte landeinwärts durch die Berge zur Sanji Ohashi-Brücke in Kyoto. Entlang dieser Strecke waren 69 Poststationen und Gasthäuser eingerichtet, Pferde und Lastenträger standen für Transporte ebenfalls bereit. Den bei Reisenden so beliebten Fuji konnte man nur in der Nähe von Edo sehen, häufiger konnte man den damals aktiven Vulkan Asama erblicken. Nach dem verheerenden Vulkanausbruch von 1783 war der Kisokaido allerdings weniger beliebt als andere Straßen wie etwa der über weniger hohe Gebirgspässe führende Tokaido, der außerdem den Vorteil hatte, näher am Meer zu liegen und den Reisenden die Ernährung mit frischem Fisch zu ermöglichen. Holzschnitte und Ansichten mit Szenen dieser Reiserouten waren damals sehr beliebt, wie der deutsche Geograph Johannes Justus Rein (1835-1918) konstatierte, der den Kisokaido zwischen 1874 und 1875 zweimal begeistert bereiste.
Wer diesen grandiosen, so liebevoll edierten Prachtband im Großformat mit Reprints aus der Sammlung Leskowicz (44×30 cm, mit Fadenbindung in einer herrlichen seidig schimmernden Box) betrachtet, kommt aus dem Staunen nicht heraus: Die Holzschnitte vermitteln einen überwältigenden Zauber japanischer Alltags-Situationen, der ja schon van Gogh und viele französische Impressionisten beeinflusste. Eine Gesamtübersicht aller Abbildungen im Anhang sowie die exzellenten Kommentare des auf Asiatica spezialisierten Kunsthistorikers Andreas Marks und der Kunsthistorikerin und Expertin für asiatische Textilien und Brettspiele Rihannon Paget runden dieses künstlerisch-editorische Glanzlicht ab. Für mich – und sicher auch für viele andere Kunstliebhaber- ist es jedenfalls das Buch des Jahres.
Aktuell und spannend scheint die Kunst der beiden japanischen Holzschnitt-Großmeister ja immer noch zu sein. Das gigantische Besucher-Interesse am Amsterdamer van Gogh-Museum, wo man gerade die Ausstellung „Van Gogh und Japan“ (noch bis 24. Juni zu sehen) eröffnet hat, überrascht mich jedenfalls überhaupt nicht: „Ich sehe überall Japan und fühle Japan“, schrieb van Gogh an seinen Bruder Theo, nachdem er Holzschnitte von Hiroshige und Eisen gesehen und quasi intravenös absorbiert hatte. Die Motive des genialen Duos beeindruckten ihn jahrelang ebenso intensiv wie deren Technik: Van Gogh habe versucht, „mit einer japanisch beeinflussten idealisierten Vision die französische Landschaft darzustellen“, erklärte der Amsterdamer Kurator der Ausstellung.
Utagawa Hiroshige & Keisai Eisen: Die neunundsechzig Stationen des Kisokaido. Mit Texten von Andreas Marks und Rhiannon Paget. Dreisprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch. Japanische Bindung in einer Box, in Leinen gebunden, Format 44 x 30 cm. Verlag Bendeikt Taschen, Köln 2017. 234 Seiten, in einem Karton mit Tragegriff, 100 Euro. Verlagsinformationen.
Siehe auch im selben Verlag: Hiroshige. Hundert berühmte Ansichten von Edo, 30 Euro.