Die poetische Osmose der Polizeiarbeit
Pieke Biermann über ihre Kriminalreportagen aus der Hauptstadt. Ein Interview von Ulrich Noller
In Deinen Reportagen begegnet uns eine Fülle an bemerkenswerten, besonderen Figuren. Zum Beispiel – pars pro toto – Zsanett. Ohne Dich gäbe es keine Spuren mehr von ihr, ohne sie gäbe es keine Reportagen von Dir…
Das ist ein bisschen zuviel der Ehre, zumindest was Zsanett betrifft – ihre Spuren sind von zwei Mordkommissionen, dem Staatsanwalt und der Richterin sehr, sehr sorgfältig gesichert worden, und obwohl ihre zerstückelte Leiche trotz einiger Hubschraubereinsätze über Müllkippen nie gefunden wurde, war ihr Tod am Ende immerhin ausschlaggebend dafür, dass der Mörder sein Restleben nicht mehr frei gestalten kann. Viele andere Menschen in den Reportagen dagegen werden nie Teil der narration, mit der eine Gesellschaft sich ständig überprüft und ihrer selbst versichert. Ich empfinde das als traurig, als Indiz für mutwillige Verarmung, weil damit (Über-)Lebenserfahrungen verloren gehen.
Hast Du eigentlich die Geschichten gesucht – oder die Geschichten Dich?
Beides. Obwohl – selbst wenn am Anfang ich mich für eine Geschichte interessiert habe, hat die Geschichte vielleicht doch eher mich gefunden? Wie kommt man an sein Interesse? Die Recherchen gehen immer vor allem furchtbar „unökonomisch“ vonstatten, ich sauge mich voll mit allem, was irgendwie dafür wichtig sein könnte, und sitze dann da mit einem Himalaja von Fakten und vor allem Emotionen – aber was am Ende das Licht des Inforadios und des Tagesspiegels erblicken darf, liegt irgendwo zwischen einem Prozent und einem Promille…
Gibt es bestimmte Straftaten, die Dich besonders interessiert haben? Oder hast Du mit den Reportagen die Polizeiarbeit repräsentativ zu erfassen versucht?
Mich interessiert grundsätzlich alles, wovon nicht die öffentliche Rede ist. Also logischerweise auch all das, was man über Polizeiarbeit hierzulande nicht weiß.
Du erzählst die Geschichten hinter den Delikten. Was interessiert Dich mehr: Die Geschichte des Deliktes oder die Geschichten einzelner Personen?
Die Menschen. Immer. Und bei einzelnen Delikten die humane, soziale, kulturelle, politische Dimension – zum Beispiel bei den „Firmenbestattern“ und bei „Geld, Gier, Gewalt“. Wir haben ein Vierteljahrhundert der Kohlschen „geistich-moralichen Wende“ hinter uns, die sich sehr bald als Prinzip „Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren“ entpuppt hat. Was das für die Veränderung der Kriminalität in unserem Land bedeutet hat und wie es sich übersetzt in individuelle Leben, das interessiert mich nicht nur, das treibt mich um und immer wieder zu Zornausbrüchen.
Wenn Du drei Menschen nennen dürftest: Wer ist Dir in all der Zeit besonders in Erinnerung geblieben?
Michael Müller, der Polizist aus „Lichtenrader Vormärz“ wegen seiner Haltung und seines Mutes, seine tiefste Wunde nicht zu verleugnen oder wegzuschwadronieren, sondern dem Schmerz schweigend, mit Tränen in den Augen seinen Platz zu lassen. Barbara und Franko Koch, Zsanetts Eltern aus „Lebenslänglich“, die geschafft haben, ihre Beziehung zu erhalten. Martina Schneider aus „Selbst schuld und tschüs“. Aber eigentlich würde ich gern ein paar Dutzend nennen dürfen.
Wer hat Dein Menschenbild gehörig in Frage gestellt – oder sogar verändert?
Niemand. Alle haben es erweitert, vertieft, mit feineren Pinselstrichen versehen und mich Widersprüche aushalten gelehrt.
Polizisten reagieren auf Journalisten aufgrund schlechter Erfahrung eher abweisend. Wie ist das, wenn eine Kriminalschriftstellerin auf sie zukommt?
Leichter! Bei Journalisten glaubt man als Polizist: Die kenn ich, ich weiß, wie die ticken. Schriftsteller sind exotisch. Nicht weil Polizisten keine Bücher lesen – das tun sie sehr wohl, mehr als mancher andere -, sondern weil sie selten leibhaftigen Schriftstellern begegnen. Von schüchterner Neugier bis kessem Spott („Biste schon wach?“ bei Anrufen gegen den späteren Nachmittag), von Unterschätzung (der/die hat ja zum Glück keine Ahnung von Realität) bis Abschottung (der/die kuckt ja viel tiefer in uns rein und sieht womöglich was, was wir selber lieber nicht wissen möchten), ist dann alles drin, und das meiste davon macht Riesenspaß!
Wie schafft man es aber, wirklichen Zugang zu finden, etwa zu den Mitgliedern eines SEK? Ist das nicht völlig unmöglich?
Erstens durch Vertrauen, zweitens durch Vertrauen, drittens durch Vertrauen.
Und wie hast Du es geschafft, dieses Vertrauen, Vertrauen, Vertrauen zu erwerben?
Erstens durch „offenes Visier“ – à la „Lenin auf den Kopf gestellt“: Vertrauen wird umso besser, je weniger Probleme man mit Kontrolle hat. Ich bin mir nie zu schade, jedem und jeder zu zeigen, wer ich bin, warum ich was will und wozu das führen soll und führt. Zweitens durch Empathie und Neugier auf das, was jemand wirklich ist und kann und gut macht und worauf er/sie stolz ist. Drittens durch konstantes „Operieren auf Augenhöhe“ (ich kann nichts anderes, ich bin unfähig zu hierarchischen Beziehungen unter Menschen, seit ich denken kann), das bedeutet zum Beispiel auch, dass ich PolizistInnen mit meiner Arbeit und ihren Bedingungen behellige… Ach ja, richtig, fast hätt ich’s vergessen: Ein anständiger fester Händedruck ist natürlich der allererste Schritt…
Über Polizisten kursieren ja sehr unterschiedliche Bilder, bis hin zu der Zuschreibung, sie seien potenziell rechts und Vertreter eines Staates im Staate. Wie siehst Du das?
Über Polizisten, ihre Arbeit, ihr Selbstverständnis kursiert hierzulande vor allem Ignoranz. Ich bin von meiner ersten Reportageserie 1994, in der es um die von uns Steuerzahlern finanzierte „Innere Sicherheit“ ging, also zum großen Teil um Polizei, wiedergekommen mit einer Art Kulturschock: Ich war dort – ohne Vorwarnung, sozusagen – auf so viele schlicht liberale Leute gestoßen, dass ich anfangen musste, mir Fragen zu stellen: Wie tief sitzen alte und offenbar falsche Bilder noch in mir selbst fest? Wo kommen die her? Ich kannte Polizei vorher tatsächlich nur als „den Gegner“ – von Knöllchen an der Windschutzscheibe, einem Knüppel auf dem linken Schulterblatt und irgendwelchen Registern, in die man zu geraten drohte, wenn man sein Geld in der Sexindustrie verdiente -, hat sich da was verändert innerhalb der Polizei? Und warum weiß ich davon nichts? Warum ist das – siehe oben – nicht Teil der narration?
Ab da hab ich angefangen zu kapieren, wieso ich in meinen Kriminalromanen das „Prinzip Humanität“ ausgerechnet bei Polizisten andocke und meine Mordkommission aus lauter Menschen besteht, die ich jedenfalls gern als Nachbarn haben möchte.
Deine Geschichten werden im Tagesspiegel und beim rbb-Inforadio veröffentlicht. Bist Du denn nun letztlich als Journalistin oder als Autorin unterwegs?
Als Schriftstellerin – mit dem ganzen heillosen inneren Chaos und der durch keine Arbeitsökonomie zu bändigenden Produktionsweise, die zum Verfertigen von Literatur anscheinend gehört.
Warum sind literarische Mittel geeigneter als journalistische, um „die Geschichte hinter der Meldung“ zu erzählen?
Erstens weil Journalismus Ross und Reiter auch „Ross“ und „Reiter“ nennen muss, und das kann schnell justiziabel werden. Literatur (wenn man sie ernst nimmt und nicht mit persönlichem Rechnungsbegleichen in Gestalt von Schlüsselromanen mit Identifizierungsgarantie verwechselt) hat solche Grenzen nicht, die – wie ich sie nenne, weil mir kein treffenderer Begriff einfällt – poetische Osmose legt die tieferen Wahrheiten und komplexen Gestrüppe hinter und unter einem Geschehen frei: im Kopf derer, die lesen (oder hören, im Fernsehen und Kino sehen).
Was ist das für ein Ton, den Du mit Deiner narration zu treffen versuchst? Was ist das für eine Erzählerin, die da berichtet?
Der Ton, den diese bestimmte Geschichte braucht und den sie selbst (in mir) erzeugt. Die Erzählerin ist bloß der Katalysator.
Für eine Kriminalschriftstellerin ist so eine Serie von Reportagen natürlich eine tolle Recherchemöglichkeit. Was hast Du gelernt? Inwiefern wird Dein eigenes (literarisches) Schreiben sich durch diese Arbeit verändern?
Ich bin zum Platzen voll mit „Stoff“.
Oh! Heißt das, dass wir demnächst wieder Fiktionales von Dir erwarten dürfen? Was?
Kommt drauf an, wie Du „demnächst“ definierst bzw. ob ich demnächst im Lotto gewinne oder von einem/r Mäzen/in adoptiert werde. Mir persönlich würde schon eine kleine Kulturrevolution in diesem Land reichen, dank der Verlage endlich wieder vor allem das tun, was ihre Funktion ist: Schriftstellern das Schreiben zu ermöglichen…
Wie viel (fiktionale) Krimikultur findet man eigentlich bei solchen Recherchen bei der Polizei? Stichwort: Kommissar Rex, SEK-Rambo bzw. neurotischer Ermittler…
Aus deutscher Produktion: sehr wenig. Selbst „KDD“ scheint in der neuen Staffel doch mehr aufs herkömmliche Knallig-Spekulative zu setzen, nachdem die Serie so wunderbar angefangen hatte, das Alltägliche zum Knallen zu bringen. Was Polizei-Realität ausmacht, welche „Typen“ sich da mit welchem Wust an Problemen (von ekelerregenden Tatorten bis Steuererklärung, Beziehungskrisen inkl.) rumschlagen, das hat bisher nur eine Fernsehserie gezeigt, wenn auch nur anhand von Mordkommissaren und in US-amerikanischem Setting: Homicide von Barry Levinson, nach dem leider nie auf Deutsch erschienenen Buch von David Simon.
Wie groß sind eigentlich die Schnittmengen zwischen tatsächlicher Kriminalität und Kriminalkultur? Riesig groß? Verschwindend gering? Oder beides zugleich?
In einem Land, dessen „Kulturbetrieb“ sich für seine Polizei kaum interessiert? In so einem Land interessiert sich auch kaum einer, was die tatsächlich und alltäglich bekämpft, was seine Kriminalität tatsächlich ausmacht… Wie soll da eine Schnittmenge zustande kommen? Unser (auch Krimi-)Kulturbetrieb ist ja nicht mal neugierig, wessen Geld eigentlich in Fernsehproduktionen oder Buchverlagen steckt. Oder sollte ich sagen: gewaschen wird?
Vielen Dank!
My pleasure!
Mit Pieke Biermann sprach Ulrich Noller.
Foto: Pendragon Verlag