Nicht, dass wir nicht auf der Höhe der Zeit wären – Herr Puigdemont ist ein Thema, das dringend der Bearbeitung bedarf. Den richtigen Blick dafür hat ohne Zweifel Robert Rescue, der „Ur-Brauseboy“ und exzellente Vertreter des „organsisierten Vorlesens“ in Berlin. Wir sind sehr stolz, seinen Text im CrimeMag präsentieren zu dürfen:
The real Neumünster Shit
von
Robert Rescue
Herzhaft biss Joe in das Steinkohle Brikett und kaute die Brocken langsam und mit Wonne. Die Geräusche, die er dabei von sich gab, waren beeindruckend und ließen Freund und Feind bis ins Mark erzittern. Leider gab es Steinkohle nur wenige Male im Jahr zu Festen wie Ostern und Weihnachten. Den Rest des Jahres musste er sich mit Braunkohle begnügen, die, nach Joes kulinarischer Einschätzung, trocken schmeckte und schwer im Magen lag. Die anderen Gefangenen begnügten sich an Ostern mit Milchreis mit Zimt und Zucker, aber Joe war ein Sonderfall und wurde von der Gefängnisleitung der JVA Neumünster entsprechend bedacht.
Joe war 24 Jahre jung, und hatte schon 198 Menschen auf dem Gewissen. Der Richter, der ihn verknackt hatte, kam auf 103, aber Joe hielt das für einen Rechenfehler. Mathematik war nicht sein Steckenpferd, aber über seine Opfer hatte er Buch geführt. Wie viele werde ich bis zur Rente schaffen?, ging es ihm jetzt durch den Kopf. Er blickte zur Seite. Umringt war er von den Mitgliedern seiner Gang „The real Neumünster Shit“, alles bullige Schlägertypen, die den ganzen Tag im Kraftraum verbrachten. Nur der Mann neben ihm, drei Köpfe kleiner als Joe, fiel aus dieser Garde raus. Er trug eine Brille, war alt und hässlich. Eugen-Uwe von und zu Grafenbach, sein Berater und Gehirn, an den er alle Gedanken, die nicht mit Mordlust oder Sehnsucht nach Steinkohle Briketts zu tun hatten, auslagerte.
„Eugen-Uwe“, wandte er sich an ihn. „Wenn ich, jetzt mit 24, 198 Leute umgenietet habe, wie viele werden es dann sein, wenn ich mit 65 Jahren in Rente gehe?“
„Exakt 8967, Boss“, sagte der Angesprochene sofort. Er war ein Ex- Banker, der seine Bank um mehrere Millionen betrogen hatte. In der JVA war er anfangs der Spielball für alle gewesen, die größer und stärker waren als er. Joe aber hatte das Potenzial entdeckt, dass Eugen-Uwe bot, nämlich seinen Intellekt und nutzte ihn für sich. Eugen-Uwe wusste, dass sein Boss keine große Leuchte war und mit ausformulierten Gedankengängen wenig anzufangen wusste. Deshalb war eine deutliche und positive Antwort stets besser für seine Stellung. Aber die Sache war so: Sein Boss würde noch eine ganze Weile hierbleiben und in der Zeit nur wenige zur Strecke bringen. Auch wusste er nicht, ob es Joe überhaupt bis zur Rente schaffen würde und welches Renteneintrittsalter dann gelten würde.
„Krass“, antwortete Joe und biss in sein Brikett. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf den älteren Mann einige Meter von ihm entfernt. Dieser lehnte an einer Mauer und rauchte eine Zigarette.
„Was macht Jogi Löw hier im Knast?“, schmatzte Joe.
„Das ist nicht Jogi Löw, Boss“, sagte Eugen-Uwe. „Das ist der Neuzugang, der Katalane.“
„Der Kata … was?“
„Der Spanier.“
„Dann hat er den gleichen Friseur wie Löw.“ Joe betrachtete den älteren Mann genauer. „Was macht ein Spanier in der JVA Neumünster?“
„Er war auf der Durchfahrt.“
„Zu schnell gefahren? Dafür kommt man nicht hierher.“
„Nicht zu schnell gefahren, Boss. Er wurde mit einem europäischen Haftbefehl gesucht und von der Polizei geschnappt. Er ist ein Politiker, ein Präsident. Ein Ist er mal gewesen-Präsident oder ein Noch nicht so richtig Präsident.“
„Ich habe noch nie einen Präsidenten umgelegt. Interessant. Weshalb ist er hier?“
„Er hat versucht, sein Land, Katalonien, in die Unabhängigkeit zu führen. Die Zentralregierung in Madrid hat das verhindert und er ist geflüchtet. Er ist unter anderem wegen Rebellion angeklagt.“
„Spannend. Rebellion, sagst du? Ich habe da ne Idee. Hol den mal her.“
Eugen-Uwe setzte sich in Bewegung und drei der bulligen Gardisten folgten ihm. Kurz darauf kehrten sie in Begleitung zurück.
Der ältere Mann streckte die Hand aus: „Buenos Dias, Carles Puigdemont mein Name.“ Joe starrte auf die Hand. Der letzte Mensch, der ihm die Hand ausgestreckt hatte, war sein Vater gewesen, nachdem er ihm das Messer ins Herz gerammt hatte. Zögerlich reichte er die Hand, die zuvor das Brikett gehalten hatte, rüber. Sein Gegenüber wischte sich anschließend die Hand an der Hose ab. Eugen-Uwe wandte sich an den Spanier: „Das ist Joe Unstrut, der gefährlichste Mörder der Welt. Aktuell auf Platz 11 der Weltrangliste der unmotivierten Entleibungen. Er ist der Boss der Inhaftierten hier. Wenn du ihm irgendwo auf dem Gelände begegnest, dann trittst du zwei Schritte zurück, schließt die Augen und betest, dass heute dein Glückstag ist. Jetzt sprichst du nur, wenn er dich was fragt. Ansonsten hältst du die Klappe und lauschst seinen weisen Worten.“
„Ich habe gehört, du weißt, wie man eine Rebellion macht?“, fragte Joe.
„Nun ja“, antwortete Puigdemont augenblicklich. „Es ist keine Rebellion, das behauptet nur der spanische Staat. Ich stehe für eine Unabhängigkeitsbewegung ein. Einer friedlichen und angesichts der politischen Umstände gerechtfertigten.“
„Politisch ist mir scheißegal“, rief Joe. „Ich will hier eine Revolte machen. Die Umstände hier beschränken uns und das kann nicht länger so weitergehen.“
Puigdemont sah ihn fragend an. „Ist das nicht Sinn und Zweck eines Gefängnisses, dass man eingeschränkt wird?“
„Wehe!“, rief jetzt Eugen-Uwe. „Wage es nicht, Joe Unstrut eine Frage zu stellen. Schon gar nicht eine rhetorische.“
“Okay, okay“, lenkte Puigdemont ein. „Hier in der JVA Neumünster verlaufen einige Dinge nicht nach ordentlichen rechtlichen Maßstäben und Joe möchte, in seiner Funktion als Wortführer der Insassen, auf die Mißstände aufmerksam machen und sie aus der Welt schaffen.“
„Ich weiß zwar nicht, was du da redest“, sagte Joe. „Aber genau so ist es.“
Puigdemont nickte.
„Um welche Missstände handelt es sich? Ist es das Essen? Die Behandlung durch die Wärter? Fehlende rechtliche Betreuung?“
Joe beugte sich nach vorne. „Über das Essen kann ich mich nicht beklagen, gerade an Ostern. Die Wärter sind nicht das Problem. Mein Anwalt hat eine Affäre mit meiner Frau. Jedes Mal, wenn er hierher kommt, sitze ich da und überlege, was ich mit ihm machen werde, wenn ich hier raus komme. Ich denke, es wird eine ganz neue Todesart oder eine Mischung aus allen bekannten. Die Sache ist: Hast du mal den Fernseher in deiner Zelle angemacht?“
„Am Anfang, ja“, antwortete Puigdemont. „Aber es lief natürlich nur deutsches Fernsehen.“
„Das Problem ist“, sagte Joe langsam. „Hier läuft nur ARD und ZDF. Kein RTL, kein PRO 7. Und vor allem kein Netflix. Ich will Netflix haben! Jedes Mal, wenn der Anwalt kommt, labert er mich eine halbe Stunde voll, was gerade auf Netflix läuft und das bringt mich noch mehr zur Weißglut.“
Puigdemont atmete hörbar aus.
„Also Fernsehprogramm. Mangelnde Verbreitung von Informationen durch das bestehende Fernsehprogramm. Ihr solltet Flugblätter anfertigen, die ihr allen Insassen zukommen lasst um auf eure, äh, Sache aufmerksam zu machen. Dann konfrontiert die Anstaltsleitung mit euren Forderungen. Wenn ihr Kanäle nach außen habt, versucht die Presse und Sympathisanten für euer Anliegen zu gewinnen. Bleibt friedlich, denn nur dann ist euch Sympathie für eure Forderung sicher.“
Joe nickte wohlwollend.
„Das klingt nach einem guten Plan. Eugen-Uwe, mach dich an die Arbeit!“
„Halt!“, rief Puigdemont. „Darf ich um eine kleine Gegenleistung für meine bescheidene Hilfe bitten?“
„Lass hören“, meinte Joe.
„Wenn ihr diese Revolte jetzt macht, dann wird schnell ein Verdacht auf mich fallen und das wird mir schaden. Meine Gegner werden sagen: ‚Sieh an, jetzt revoltiert er in einem deutschen Gefängnis’. Mein Anliegen für das katalanische Volk nimmt damit enormen Schaden. Meine Anwesenheit hier ist nur von kurzer Dauer, vielleicht bin ich nach Ostern wieder draußen. Wäre es daher möglich, wenn ihr eure Revolte macht, wenn ich entweder an Spanien ausgeliefert wurde oder zurück in Belgien bin?“
Eugen-Uwe meldete sich zu Wort: „Übermorgen läuft eine neue Serie auf ZDF, die ziemlich gut sein soll. Es geht um einen Serienmörder.“
„Serienmörder sagst du?“, rief Joe. „Das klingt nach Bildungsfernsehen. Okay, wir verschieben die Revolte, bis die Serie vorbei ist.“
Carles Puigdemont entfernte sich von der Gruppe um Joe und ging zurück zu der Mauer. Seine Zukunft mochte ungewiss sein und vielleicht drohten ihm lange Jahre Haft in Spanien, aber eines wusste er jetzt mit Sicherheit – er wollte keine Sekunde länger mit diesem Typen und seinen Kumpanen eingesperrt sein.
Zu Robert Rescues Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.