
Ein neuer Fall für den Geisterjäger
Klaus Pelzer ist ein Geisterjäger. Keiner der Sorte wie John Sinclair, der den Teufel und seine höllischen Dämonen in Diskotheken, Spukhäusern oder in verfluchten Klosterruinen jagt. Klaus Pelzer ist vorzugsweise im Internet unterwegs, in den Augen mancher die Hölle von heute. Hin und wieder jagt er auch alte Götter in Kleingartenkolonien oder exorziert ans Internet angeschlossene Mädchenpuppen, die von einem Hacker übernommen wurden. Und manches Mal entpuppt sich ein scheinbar paranormales Phänomen als Kriminalfall …
Klaus Pelzer hatte sich schon öfter Gedanken über die Situation gemacht, in der er sich gerade befand. Das Leben neigt sich dem Ende zu und Gevatter Tod erscheint, um ihn irgendwohin zu führen. Ein Teil des Szenarios war jetzt eingetreten, er stand der Inkarnation des Todes gegenüber. Allerdings gab es einen kleinen aber feinen Unterschied: Der Tod kam nicht zu ihm, sondern er zum Tod.
Pelzer starrte in den Schädel, der von einer Kapuze umrahmt wurde und schluckte. Die Zähne waren bräunlich und schief. Okay, dachte sich Pelzer, gepflegte Zähne hätte er bei Gevatter Tod auch nicht erwartet. Die Gestalt trat einen Schritt zurück und öffnete die Tür ganz. Pelzer trat in die Wohnung ein und folgte dem Tod durch den Flur.
„Ich hätte nicht erwartet, das sie in einer Mietwohnung im Wedding leben“, plapperte Pelzer. „Und gerade hier in der Koloniestraße, die nicht gerade als schöne Ecke gilt.“
„Hier sind wir unauffällig“, sagte der Tod. „Und die Miete ist günstig.“
„Ich hätte sie eher in einem gewaltigen, düsteren Schloß erwartet oder in einer Penthouse Wohnung in New York“, meinte Pelzer.

Der Tod schwieg.
Sie kamen an der Küche vorbei. Sie wirkte karg, beinahe so, als würde sie nicht benutzt. Er konnte keinerlei Vorräte entdecken. Keine Nudelpackungen, kein Kaffee, kein Reis. Was ihm aber auffiel, war die kleine Biomülltonne und daneben ein Plastikständer samt Mülltüte, die Plastikmüll enthielt.
„Eine gepflegte Küche“, sagte der Geisterjäger. „Keine Spur von Schmutz, kein benutztes Geschirr, nicht einmal eine Spur von Lebensmitteln überhaupt.“
„Dafür ist Hunger verantwortlich“, erklärte der Tod. „Er hat was gegen Lebensmittel, wie sie sich denken können. Wir müssen alle Nahrung sofort konsumieren und haben dabei ein schlechtes Gewissen, weil wir überhaupt was essen.“
Pelzer nickte. „Ich habe nie das Bedürfnis gehabt, in einer WG zu wohnen. Da muss man Rücksicht auf andere nehmen oder es gibt Streit. Ich kann mir vorstellen, dass es in der WG der Reiter der Apokalypse eine Menge Konflikte gibt, die in anderen, äh, „normalen“ WGs nicht auftreten.“
„Womit wir beim Thema wären“, stimmte der Tod zu. „Wir haben sie gerufen, damit sie sich um Umweltverschmutzung kümmern, der ein merkwürdiges, nicht zu akzeptierendes Verhalten angenommen hat.“
„Umweltverschmutzung?“, fragte Pelzer.
„Pest hat seinen Namen geändert. Er schreckt keinen Menschen mehr. Die Pest ist fast ausgerottet und eine so herrliche Pandemie wie der mittelalterliche Schwarze Tod wird sich nicht mehr wiederholen. Umweltverschmutzung ist ein zeitgemäßer Schrecken.“
„Okay, kann ich nachvollziehen“, sagte Pelzer. „Und was ist das Problem bei Umweltverschmutzung?“
„Er ist Befürworter der Zero Waste Bewegung.“
Pelzer lachte auf.
„Sie meinen, Umweltverschmutzung will die Umweltbelastung durch Reduzierung der eigenen Müllproduktion verringern und zwar in diesem Fall auf annähernd Null?“
„Exakt.“
„Aber das ist doch eine gute Sache!“
Der Tod trat auf ihn zu und legte eine knochige Hand auf Pelzers Schulter. Der Geisterjäger spürte, wie ihm plötzlich kalt wurde. Der Tod nahm seine Hand wieder weg. „Wir sind die 4 Reiter der Apokalypse. Hunger, Umweltverschmutzung, Krieg und Tod. Die vier Übel der Menschheit. Wenn der Antichrist volljährig ist, beginnt die Apokalyse, die große Schlacht zwischen Himmel und Hölle, zwischen Gut und Böse. Es ist nicht vorgesehen, dass einer von uns, in gewisser Weise, die Seiten wechselt und dadurch die Erfüllung unserer Aufgabe in Gefahr gerät. Unsere Mission ist es, ein Viertel der Menschheit zu vernichten, so wie es von Johannes in der Offenbarung prophezeit wurde, also etwa … etwa …also etwa ungefähr …“
„Gilt das für die Population zu Zeiten von Johannes oder heute?“, fragte Pelzer.
„Zu Beginn der Apokalypse selbstverständlich.“
„Wann ist die nochmal genau?“
„Vorgestern in 18 Jahren, wenn der Antichrist volljährig wird.“
„Ach, der ist gerade geboren worden?“
„Ja, Satans Sohn heißt Kevin Yoda Indiana Jones Kasulke.“
„Oh, mit einem solchen Namen muss man ja Antichtist werden. Und warum in 18 Jahren?“
„Weil Satan vor einigen Jahrzehnten einen Disput mit einem deutschen Verfassungsrichter und Theologen in ebendieser Frage hatte und verlor. Der Sieger entschied, dass eine Apokalypse nur ausgelöst werden kann, wenn der dafür Verantwortliche die Volljährigkeit erreicht hat.“
„Kann man das irgendwo nachlesen? Steht das im BGB?“

Der Tod nickte.
Pelzer griff nach seiner Tasche und holte eine Ausgabe des BGB heraus. Seit es ihm gelungen war, mit einer Ausgabe der Straßenverkehrsordnung Gottvater Odin davon abzuhalten, im Wedding seine wilde Jagd zu veranstalten, hatte er die übernatürliche Wirkung von Gesetzbüchern erkannt und trug die wichtigsten bei seinen Aufträgen stets bei sich. „Ich nehme an, der entsprechende Paragraph trägt die Nummer 666, richtig?“
Der Tod nickte abermals.
„Hier haben wir es: § 666 Auskunfts- und Rechenschaftspflicht:
Der Beauftragte ist verpflichtet, dem Auftraggeber die erforderlichen Nachrichten zu geben, auf Verlangen über den Stand des Geschäfts Auskunft zu erteilen und nach der Ausführung des Auftrags Rechenschaft abzulegen.“
Pelzer sah den Tod irritiert an.
„Sie müssen es rückwärts lesen“, riet dieser ihm.
Pelzer nickte, klappte das BGB zu und verstaute es wieder in der Tasche. Er wandte sich an den Tod.
„Und sie freuen sich darauf, einem Haufen Menschen, also dem prophezeiten Viertel der Menschheit das Lebenslicht auszublasen? Das wären bei einer ungefähren Population von 8 Milliarden Menschen in 18 Jahren etwa …puh …also ungefähr … ich würde sagen, eine ganze Menge.“
„Richtig. Also treiben sie Umweltverschmutzung diese blödsinnigen Anwandlungen aus. Nach derzeitigem Stand werden allein 90% der verherrenden Auswirkungen auf sein Konto gehen.“
Sie betraten das Wohnzimmer. Auf der Couch saß eine weißgekleidete Gestalt vor einem Fernseher. Angespülte Wale waren zu sehen, aus deren aufgeschnittenen Gedärmen Plastikmüll quoll.
Die weißgekleidete Gestalt futterte dazu lieblos aus einer knisternden Tüte Chips.
„Wo sind die anderen?“, fragte Pelzer. „Hunger und Krieg?“

„Hunger ist in Venezuela. Lebensmittelknappheit. Krieg pendelt im Nahen Osten umher und schaut, was Israel, der Gaza-Streifen, der Jemen und Iran so machen.“
„Das ist schrecklich“, rief jetzt Umweltverschmutzung und zerknüllte die Tüte Chips. „Das kann so nicht weitergehen. Ich muss etwas dagegen tun.“
„Dann fangen sie am besten damit an, das sie keine Chips mehr essen“, mahnte Klaus Pelzer.
„Dieser Ratschlag scheint mir nicht zielführend zu sein“, flüsterte ihm der Tod zu.
Pelzer hörte nicht auf ihn.
„Ungesundes Essen noch dazu“, fuhr Pelzer fort. „Gönnen sich einen Apfel, das sorgt für weniger Müll.“
„Aber Äpfel sind in einer Verpackung“, rief Umweltverschmutzung. „Gleich, ob mit einem Pappkarton mit Plastiküberzug oder in einer Tüte. Es gibt einfach keinen Ausweg aus dem Dilemma.“
„Sie sollten ihre Erwartungen nicht zu hoch ansetzen“, meinte Pelzer. „Weniger Müll ist ein wichtiger Schritt. Wenn alle Menschen ihrem Beispiel folgen, dann hat das spürbare Auswirkungen. Reduzieren sie ihren Müll weiter und sammeln sie Weggefährten um sich. So werden sie zu einer Bewegung, die die übrige Menschheit, die Politik und die Wirtschaft nicht ignorieren kann.“
Pelzer fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er hatte mit etwas anderem gerechnet. Eine Dämonenaustreibung oder die Verbannung eines Poltergeistes.
Auf eine flammende Rede zur Müllvermeidung und das gegenüber der Inkarnation der Umweltverschmutzung war er nicht vorbereitet.
„Ich denke, sie haben ihren Job nicht erfüllt“, sagte jetzt der Tod und streckte seine knochige Hand nach ihm aus.
Pelzer brauchte eine Idee, um sich aus dem Schlamassel zu befreien. Ihm kam eine. Er betrachtete es als ein Wink des Schicksals, dass er sich vor ein paar Wochen mit der Offenbarung des Johannes beschäftigt und auch viel Sekundärliteratur gelesen hatte. Als Geisterjäger hatte man Interesse an einem solchen Stoff.

Er drehte sich zu dem Tod um.
„Ist denn überhaupt die Umweltverschmutzung oder sagen wir besser, der erste, der weiße Reiter der Apokalyse böse?“
Die Hand des Todes erstarrte.
„Ist es nicht vielmehr so“, fuhr Pelzer fort, „dass die Auslegung der Offenbarung bis heute Zweifel lässt, was die Rolle des ersten Reiters anbetrifft?“
„Johannes war absolut zugedröhnt“, behauptete der Tod. „Er hatte einen ganzen Strauch Stechäpfel gefuttert. Er war auf einem Trip, den kein Mensch vor ihm und nach ihm jemals hatte.“
„Das sollten sie nicht behaupten“, hielt Pelzer entgegen. „Denn das könnte bedeuten, dass die ganze Offenbarung erstunken und erlogen ist und ihre Existenz damit nichtig.“
Der Tod knurrte.
„Schon immer“, so fuhr Pelzer fort, „hat die theologische Auslegung des ersten Reiters ihn als Symbol für Sieg, Reinheit und Gerechtigkeit gesehen. Sicher, es gab anderslautende Meinungen und genau diese Leute haben aus dem ersten Reiter die Pest gemacht. Was aber passiert jetzt? Der erste Reiter erkennt seine wahre Bedeutung und verändert sich. Er will die Lebensgrundlage der Menschen nicht zerstören, sondern erhalten.“
„Genau“, rief die weiße Gestalt. „Und ihr wollt mich daran hindern. Das lasse ich mir nicht länger bieten. Ich verlange, dass ab sofort Glasflaschen gekauft werden statt Plastikflaschen. Oder wir trinken nur noch Leitungswasser. Und keine Süßigkeiten mehr wie deine verdammten Schokopops.“
„Was?“, rief der Tod. „Du willst mir meine Schokopops verbieten? Das ist ja wohl die Höhe.“
„Da ist jede einzeln verpackt“, rief Umweltverschmutzung. „30 Schokopops in 30 Plastiktütchen. Ich kriege jedes Mal das Kotzen, wenn ich das sehe. Und du stopfst das Zeug in dich rein wie ein Mähdrescher.“
„Du weißt genau, dass ich das wegen Hunger mache!“
Der Tod trat auf Umweltverschmutzung zu und beachtete Pelzer nicht länger. Die beiden Reiter der Apokalypse fingen an, sich wild zu streiten.
Pelzer ging langsam aus dem Zimmer, eilte durch den Flur und verließ die Wohnung.
Draußen angekommen hielt er Ausschau nach einem Wettbüro. Eines, dass nicht nur Sportwetten anbot, sondern auch Tipps ermöglichte auf irgendwelche Ereignisse, die irgendwann mal eintreten mochten. Vorgestern in 18 Jahren hatte der Tod gesagt. Abrupt blieb Pelzer stehen. Und wie sollte er seinen Gewinn bei einer Apokalypse auf den Kopf hauen? Er fluchte. Was aber war, so kam ihm ein neuer Gedanke, wenn die übrigen Reiter sich der Veränderung anschlossen? Wenn aus Hunger Nahrung wurde, aus Krieg Frieden und aus Tod Leben. Dann konnte der Antichrist nicht mehr auf sie zählen und die Apokalypse fiel aus. Eine tröstliche Vorstellung, aber kein Szenario, auf das er wetten konnte. Er schlug den Nachhauseweg ein und dachte jetzt an die eine Sache, die seine Arbeit als Geisterjäger immer wieder erschwerte.
Honorar, ich muss mir angewöhnen, dass ich bei meinen Klienten auf Vorkasse bestehe, falls die Sache aus dem Ruder läuft.
Mal Geld zu verdienen wäre nicht schlecht.
Robert Rescue bei CrimeMag. Zu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.
