Geschrieben am 1. Oktober 2020 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2020

Robert Rescue: Klaus Pelzer und die wilde Jagd

La chasse, Henri Julien, Musée du Québec © Wiki Commons

Ein neuer Fall für den Geisterjäger

Klaus Pelzer ist ein Geisterjäger. Keiner der Sorte wie John Sinclair, der den Teufel und seine höllischen Dämonen in Diskotheken, Spukhäusern oder in verfluchten Klosterruinen jagt. Klaus Pelzer ist vorzugsweise im Internet unterwegs, in den Augen mancher die Hölle von heute. Hin und wieder jagt er auch alte Götter in Kleingartenkolonien oder exorziert ans Internet angeschlossene Mädchenpuppen, die von einem Hacker übernommen wurden. Und manches Mal entpuppt sich ein scheinbar paranormales Phänomen als Kriminalfall …

TEIL 1: DER AUFTRAG

Wann immer jemand das Büro des Geisterjägers Klaus Pelzer betrat, versuchte dieser anhand der äußeren Erscheinung abzuschätzen, ob die Person etwas von ihm wollte oder sich in der Tür geirrt hatte. Manchmal war das einfach. Bei einem Paketboten war klar, dass er nur etwas abgeben wollte. Bei einem Totengräber dagegen war es eindeutig, dass dieser ein Anliegen auf dem Herzen hatte, dass etwas mit paranormalen Phänomenen zu tun hatte. Bei den meisten Leuten, die im Anzug, im Business-Kleid oder in Jeans sein Büro betraten, war die Einschätzung schwierig und er musste warten, bis sie sich erklärten.

Bei der Person, die jetzt vor seinem Schreibtisch stand, schien die Sache einfach. Der hatte sich in der Tür geirrt. Er trug einen Blaumann bzw. Grünmann, ein Holzfällerhemd, ein Käppi und in der Hand einen Handspaten. Ein Gärtner.

„Ich komme wegen Odin“, sagte er zu Klaus Pelzer.

„Odin?“, fragte dieser zurück. „Ist das ihr Haustier? Das Gartenmaskottchen? Hund, Katze oder Meerschweinchen? Nein, bei dem Namen „Odin“ kann es sich nicht um Katze oder Meerschweinchen handeln. Odin! Das klingt nach einem furchteinflößenden Kampfhund. Tut mir leid, ich bin ein Geisterjäger, kein Tierarzt oder Tierfänger.“

„Es geht nicht um Tiere“, sagte der Kleingärtner. „Es geht um den Gott Odin.“

„Den Gott Odin?“, wiederholte Pelzer. 

„Ja, der“, bestätigte sein Gegenüber. „Mein Name ist Thomas Weingart und ich bin von der Kolonie „Neuland I“. Diese befindet sich südlich vom Flughafen Tegel und entlang des Berlin-Spandauer Schifffahrtskanals.“

„Und der Gott Odin ist in ihrem Garten?“, fragte Pelzer interessiert und deutete auf den Besucherstuhl. Der Gärtner setzte sich.

„Gewissermaßen“, sagte er.

Pelzer legte die Handflächen zusammen und dachte einen Moment nach. Dann wandte er sich wieder dem Gärtner zu, der erstaunlicherweise keineswegs aufgeregt schien.

„Ich glaube, der Kern dieses überaus paranormalen Falls scheint mir die Frage zu sein: Was will Odin in einer Kleingartenanlage zwischen Wedding und Spandau?“

„Jagen“, sagte der Gärtner leidenschaftslos.

„Jagen?“, wiederholte Pelzer.

„Jagen ist nicht der richtige Begriff. Er ist nicht unbedingt auf Beute aus. „Jagen“ müssen sie wie eine Bewegung verstehen“, erklärte sein Gegenüber. „Wir haben seit einer Woche damit zu tun und müssen uns wappnen, um nicht von der schädlichen Wirkung der wilden Jagd betroffen zu werden.“

„Wilde Jagd?“, fragte Pelzer nach.

„Haben Sie studiert oder sich irgendwie mit nordischer Mythologie beschäftigt?“, fragte der Gärtner zurück.

„Nein, beides nicht“, gab Pelzer zu.

Der Gärtner nickte abfällig.

„Die wilde Jagd findet normalerweise am Himmel statt und in der Zeit von ungefähr Weihnachten bis 6. Januar. Bei uns ist sie auf dem Zufahrts- und Durchgangsweg zugange und das im Sommer. Es gibt vielfältige Interpretationen dieser „Volkssage“, wenn man so will. Kurz gefasst: Eine Gruppe von Wesenheiten, zumeist die Geister Verstorbener, die einen gewaltsamen oder unglücklichen Tod gefunden haben, ziehen am Himmel entlang und machen Geräusche. Sind es scheppernde Geräusche und Schreien, Jaulen, Gejammer, so kündigen sich schlechte Zeiten an. Ist liebliche Musik zu hören, so ist dies als gutes Omen zu verstehen.“

„Und was macht die wilde Jagd in ihrem Fall?“, fragte Pelzer nach.

„Schreien, Jaulen, Gejammer“, antwortete der Gärtner.

„Wundert mich nicht“, sagte Pelzer. „Angesichts der Lage in der Welt. Corona, Trump und der Bayern München besiegt jeden Gegner.“

„Auf jeden Fall nervt diese Erscheinung“, rief der Gärtner. „Und den Gartenfreund Koslowski haben die vor zwei Tagen mitgenommen. Seitdem ist er jeden Abend dabei und fleht um Hilfe, um da rauszukommen.“

„Wie? Was?“, fragte Pelzer nach. Der Gärtner atmete vernehmlich aus. Vermutlich war er davon ausgegangen, dass Klaus Pelzer über jedes Detail der wilden Jagd informiert war.

„Wer die wilde Jagd beobachtet, wird gewissermaßen „eingezogen“ und muss die Meute begleiten, bis er irgendwann befreit oder freigelassen wird. Man muss sich auf den Boden werfen und Odin Respekt zollen. Man darf die Meute nicht verspotten. So schützt man sich.“

Klaus Pelzer nickte bloß.

„Der wilden Jagd voraus befindet sich ein Reiter, ein Anführer. In unserem Fall ist es ein Hühne mit wallendem weißen Bart, mit nur einem Auge und auf seinen Schultern sitzen Raben. Das ist Odin, der Hauptgott der nordischen und germanischen Mythologie. Gartenfreund Koslowski hat, gegen meinen Rat, die Meute aufgehalten und sie aufgefordert, den Weg zu räumen und den Lärm zu unterlassen. Das hat Odin erzürnt und er hat ihn mitgenommen. Das ist stark vereinfacht alles, was ich ihnen über die wilde Jagd berichtet kann. Sie müssen wissen, ich bin Germanist mit dem Schwerpunkt Mythologie. Ich könnte ihnen noch stundenlang von der wilden Jagd erzählen, aber ich habe den Eindruck. dass sie das wenig interessiert.“

Pelzer nickte. „Da liegen sie richtig.“

„Wir von der Kolonie“, so fuhr der Gartenfreund fort, „dachten uns, dass sie als Geisterjäger vielleicht eine Möglichkeit wissen, wie man sich die Meute vom Hals schaffen kann. Daher habe ich sie aufgesucht.“

Klaus Pelzer beugte sich vor. „Habe ich sie richtig verstanden, dass sich die wilde Jagd am Boden abspielt? Also auf dem Durchfahrtsweg in Richtung Spandau?“

„Richtig“, antwortete der Gartenfreund. „Wäre sie am Himmel, so wie üblich, dann wäre das ja auch ein Fall für die Berliner Flugaufsicht. Dann wäre ich nicht hier.“

„Polizei?“, fragte Pelzer.

„Sie können sich vorstellen, was die Polizei davon halten würde, wenn ich von der wilden Jagd berichte.“

Pelzer dachte nach und dann hatte er eine Idee. Sie war verrückt, aber sie schien ihm geeignet, um eine Gottheit damit zu konfrontieren. Er verabredete mit dem Gärtner, dass er um 23 Uhr in der Kleingartenkolonie erscheinen würde. Als sein Klient gegangen war, machte sich Pelzer auf zur Bibliothek.

Johann Wilhelm Cordes: DieWilde Jagd © Wiki Commons

TEIL 2: GESETZ VERSUS GOTT

Der Weg, der am Schifffahrtskanal in Richtung Spandau entlangführte, wurde tagsüber und in geringem Umfang auch am Abend von Fußgängern, Fahrradfahrern sowie Rollschuhläufern genutzt. Pelzer wusste, dass man nicht mehr „Rollschuhläufer“ sagte, aber er weigerte sich, sich auf die jährlich wechselnden trendigen neuen Begriffe einzulassen und blieb bei der Bezeichnung, seit er 1980 den Film „Xanadu“ mit Olivia Newton John gesehen hatte. Die Kleingärtner durften als einzige den Weg mit dem Auto nutzen. Jetzt war es ruhig. Ein paar Fahrzeug parkten am Wegesrand und die Gartenfreunde saßen in ihren Gärten, grillten und beobachteten ihn. Sein Klient Thomas Weingart winkte ihm kurz zu und verzog sich dann in seine Hütte. 23:15 Uhr. Die wilde Jagd, so hatte Pelzer noch erfahren, begann jeden Abend pünktlich. Auf seiner Uhr war es 23:14 Uhr. Pelzer stand alleine auf dem Weg und blickte in Richtung Wedding. Weit vor sich sah er etwas näher kommen. Es war eine Menge, eine große Menge und sie bewegte sich schnell. Wind kam auf und er hörte das erwähnte Geheule. Ganz vorne konnte er die Umrisse eines großen Mannes erkennen, der mit riesigen Schritten auf ihn zukam und schließlich einen halben Meter vor ihm anhielt. Pelzer blickte in das eine Auge. Wer bist du, jämmerlicher Mensch, dass du die Meute aufhältst?“, hörte Pelzer in Gedanken eine donnernde Stimme. 

„Pelzer, Klaus Pelzer ist mein Name. Ich bin gewissermaßen der Ordnungshüter hier.“

Ein Ordnungshüter? Odin lachte auf. Es gibt nichts und niemanden, der die wilde Jagd in ihrem Treiben aufhalten kann. Du wirst dich einreihen und mir dienen, 1000 Jahre lang.

Pelzer spürte ein Ziehen. Eine unsichtbare Kraft zog ihn in Richtung der Meute. Rasch griff er in seine Jackentasche und holte das Buch hervor, dass er in der Bibliothek besorgt hatte und hielt es in Richtung des Gottes. Im selben Moment wich der Druck und er fiel hin. Odin hatte wohl Interesse zu erfahren, was Pelzer von ihm wollte.

Ein Buch?, hörte er Odins Stimme. Du stellst dich mir mit einem Buch entgegen. Das hat noch kein Sterblicher gewagt.

„Dies ist ein Gesetzbuch“, erklärte Pelzer und erhob sich. „Es gilt in diesem Land als das wichtigste. Jeder, auch ein Gott, hat sich den Regeln dieses Buches zu unterwerfen. Die Regeln dieses Buches betreffen den Boden, auf dem du stehst. Nur wer in den Lüften ist, ist befreit von der Herrschaft dieses Gesetzeswerkes.“

Was soll das heißen? Was ist das für ein Gesetz?, hörte er von Odin.

„Das ist die Straßenverkehrsordnung der Bundesrepublik Deutschland“, rief Pelzer. „Sie beinhaltet die Regeln für sämtliche Teilnehmer am Straßenverkehr auf Straßen, Wegen und Plätzen. Du und deine Meute seid Teilnehmer des Straßenverkehrs. Wer gegen die Straßenverkehrsordnung verstößt, begeht ein Verbrechen, das nur mit der ewigen Verdammnis geahndet werden kann. Das gilt auch für einen Gott.“

Odin blieb stumm.

Pelzer wollte jetzt seinen großen Trumpf ausspielen. Doch wenn ein einziger Fahrradfahrer, Rollschuhläufer oder Fußgänger vorbeikam, würde sein Bluff auffliegen und sein Schicksal wäre besiegelt. 

„Die Straßenverkehrsordnung besagt, dass dieser Weg nur von Anliegern genutzt werden darf, also Personen, die hier Grundstücke haben. Allen anderen Personen ist die Benutzung untersagt. Zuwiederhandlungen werden strengstens bestraft.“ Klaus Pelzer war gespannt, was passieren würde.

Und was nun?, hörte er von Odin. Dieses Gesetz war mir unbekannt. Die Rechte dieser sogenannten „Anlieger“ leuchten mir ein. Ich wusste nicht, dass dieser Weg besonderen Bestimmungen unterliegt.

„Ihr dürft euch hier nicht aufhalten. Sucht euch einen anderen Ort für die wilde Jagd.“ Pelzer drehte sich um und zeigte mit dem ausgestreckten Arm in Richtung Westen. „Reitet oder geht oder wälzt euch diesen Weg lang, bis ihr auf Spandau trefft. Ihr werdet spüren, wenn ihr in Spandau seid. Dort könnt ihr tun und machen, was ihr wollt, denn dort gelten keine Gesetze.“

Er trat beiseite und lehnte sich gegen einen Gartenzaun. Die Meute setzte sich wieder in Bewegung und verschwand in Richtung Westen. Die Gartenfreunde kamen aus ihren Datschen.

„Ich denke, das Problem ist gelöst“, sagte Pelzer zu Thomas Weingart.

„Nicht ganz“, sagte dieser. „Ich ging eigentlich davon aus, das sie unseren Gartenfreund Koslowski aus der Knechtschaft der wilden Jagd befreien.“

„Ach Scheiße“, rief Pelzer. „Das habe ich total vegessen. Aber der ist jetzt in Spandau und die Nummer mit der Straßenverkehrsordnung ist verbrannt. Außerdem: ich und Spandau – never.“

Der Gartenfreund sah betrübt drein.

„Hören Sie“. Pelzer wandte sich an ihn. „Die Parzelle von dem Koslowski. Lohnt sich die?“

„Ja, schon. Sie ist die größte von allen. Und sehr ertragreich. Viel Sonne und er hat einen Brunnen.“

„Klingt gut“, Pelzer klopfte ihm auf die Schulter. „Dann kümmern Sie sich mal drum.“

Pelzer wandte sich ab und ging den Weg zurück in Richtung Wedding. Unterwegs fiel ihm ein, dass er auch vergessen hatte, einen Vertrag mit dem Gartenfreund zu machen und ein Honorar zu fordern. Klaus, du musst professioneller werden, sagte sich Pelzer und tröstete sich mit dem Gedanken, dass ihn die Gartenfreunde vielleicht aus Dankbarkeit zu einer Grillparty einladen würden.

Robert Rescue bei CrimeMagZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.