True Crime: Auftragskiller für „Ehrenmorde“
Auf rund fünftausend jährlich begangene „Ehrenmorde“ weltweit schätzt die aus einer arrangierten Ehe geflüchtete Somalierin Ayaan Hirsi Ali („Heretic“) – allein in Pakistan sollen es tausend pro Jahr sein. Dabei geht es nicht nur um Racheakte innerhalb islamisch geprägter Familien, sondern auch um Sikhs und Hindus, die gegen einen traditionellen Wertekanon verstoßen und sich nicht an patriarchalische Willkür, Zwangsehen, Verschleierungsgebote usw. halten. Den englischen Krimi-Autor Mark Billingham hatte ein in London verübter brutaler Mord an einer 20jährigen irakischen Kurdin so extrem aufgewühlt, dass er den Plot in seinem neuesten Krimi „Love Like Blood“ als ähnlich brutales Ehrenmord-Szenario gestaltete – mit seinen beiden überzeugenden Ermittlern Nicola Tanner und Tom Thorne. Von Peter Münder.
Mark Billingham, 55, ist immer für Überraschungen gut: Man kann ihn im BBC-TV in Kindersendungen oder auch als Komiker erleben, er schreibt Drehbücher und Thriller („Die Lügen der Anderen“, „Die Schande der Lebenden“) und hat sich nun auf das brisante Thema „Ehrenmord“ eingelassen, das ihn schon seit dem Mord an der jungen kurdischen Irakerin Banaz Mahmoud in London 2006 beschäftigte. Er musste einfach darüber schreiben, als er erfuhr, dass die zu einer Zwangsheirat gezwungene Frau von ihrem Mann regelmäßig mißhandelt und vergewaltigt wurde und vom Vater und ihrem Onkel bedroht wurde, als sie sich in einen Mann verliebte, den sie gegen den Willen des Familienclans heiraten wollte. Als ihr Vater Mahmoud umbringen wollte, versuchte sie fünfmal, die Polizei zu mobilisieren, was ihr nur Ärger einbrachte: Einige Londoner Beamte beschimpften sie, weil sie ihnen „nur die Zeit stehlen wollte“ und ihre Angaben in Zweifel zogen, obwohl Mahmout ihre bedrohliche und verzweifelte Lage sogar auf Youtube dargestellt hatte. „Für mich war das der aufwühlendste und schlimmste Fall, den ich je erlebt habe“, kommentierte Billingham diesen Skandal in einem Independent-Interview von 2017. „Nach ihrem Tod leistete die Polizei allerdings hervorragende Arbeit und überführte die Täter und Auftraggeber des „Ehrenmordes“. Die Hauptermittlerin hieß Caroline Goode – sie gab einfach keine Ruhe und blieb unbeirrt dran an diesem furchtbaren Fall“.
Und so stur und zielstrebig wie die True Crime-Ermittlerin Goode ist auch Billinghams Krimi-Figur DI Nicola Tanner, die ihren Kollegen Tom Thorne dazu bringt, mal wieder gegen die Vorschriften zu verstoßen und sich mit ihr zusammen um diesen Fall zu kümmern, der eigentlich außerhalb seiner Zuständigkeiten liegt.
Tanners Freundin/Geliebte war gerade ermordet worden – offenbar hatten die Täter es jedoch auf Tanner selbst abgesehen und die beiden verwechselt. Tanner lässt sich aber nicht einschüchtern, sie nervt Thorne mit ihrer Hartnäckigkeit und kann die Ermittlungen im Dreieck von drei Religions-Zentren der Muslime, Sikhs und Hindus auf die richtige Schiene bringen: Da die Familien der umgebrachten, von traditionellen Verhaltensmustern abgewichenen Opfer selbst die Morde in Auftrag gaben, ist das Duo Tanner-Thorne ganz auf zwei Auftragskiller fokussiert, die für ihren Job gut bezahlt werden und sich im Milieu auskennen. Sie tauchen auf einem Überwachungs-Video auf, haben offenbar das junge Liebespaar Amaya und Kamal ermordet, das den patriarchalischen Familienterror nicht mehr aushielt und durchbrennen wollte.
Siebzig Prozent für traditionellen Ehrenkodex
Eine BBC-Umfrage unter britischen Asiaten brachte 2013 ans Tageslicht, dass rund 70 Prozent aller Befragten (Moslems, Sikhs, Hindus) es für richtig halten, gemäß dem traditionellen „Ehrenkode“, „Izzat“ oder „Sharif“ zu leben. Sie nehmen offenbar in Kauf, dass jährlich 12 „Ehrenmorde“ im UK verübt werden und die britische Polizei davon ausgeht, dass es ca. 20 000 auf „Ehrverletzungen“ basierte Gewaltverbrechen pro Jahr gibt.
Billinghams Entsetzen und seine Empörung angesichts dieser Zustände übertragen sich während der Lektüre direkt auf den Leser – das macht die Lektüre so erschütternd und einmalig – „brillant“ und „almost unbearable“ nannte der „Independent“ den Roman ganz zu Recht. Er liefert keinen klassischen Whodunnit, sondern einen packenden Krimi, dessen Meta-Ebene soziale Fragen und kulturelle Konflikte im Visier hat: Wird das angeblich so „respektlose“ Verhalten gegenüber dem bevormundenden Vater, der über Freizeitverhalten, Kleidung, Umgang mit Freunden, Musikvorlieben usw. diktatorisch bestimmen will, etwa aus religiösen Gründen geächtet oder geht es einfach nur um faschistoide Mechanismen, die auf das Erzwingen von Gehorsam und Unterwürfigkeit gegenüber dem Familienoberhaupt abzielen? Und gibt es nicht auch „Ehrenmorde“ unter Juden und Christen, wie DI Tanner im Roman mit subtlem Zynismus anmerkt: „Anscheinend sind die einzigen Leute ohne Blut an ihren Händen Buddhisten, Jedis und Rastafarians“. Darf man überhaupt den Begriff „Ehre“ im Kontext brutaler Morde verwenden? Billingham zitiert dazu Shakespeares Falstaff: „Was ist Ehre? Was steckt in dem Wort Ehre? Was ist diese Ehre? Luft“. („Heinrich IV.“ ) Der Autor mit einem ausgeprägten Faible für die literarische Auseinandersetzung mit Serienmorden wollte ja kein Traktat für Sozialarbeiter fabrizieren. „Aber ab und zu muß ich auch soziale Fragen und Konflikte thematisieren, die viel zu wenig diskutiert werden“, erklärt er. „Trotzdem ist dieser Roman natürlich auch ein kommerzielles Produkt, das den Leser ansprechen soll – sonst hätte ich meinen Job nicht gut gemacht“.
Mark Billingham hat nicht nur einen guten Job gemacht, sondern einen faszinierenden Krimi abgeliefert, in dem alles perfekt zusammenpasst: Die Beschreibung eines Polizeiapparats, der die Ermittlungen von DI Tanner und Thorne nur halbherzig unterstützt, das Eintauchen in die Szene einer closed society, die unbeirrt an mittelalterlichen Verhaltensmustern und Ritualen festhält und sich bei Vergehen gegen ihren Ehrenkodex auf das Outsourcing von Auftragskillern besinnt. Die Jagd nach diesen Killern stilisiert Billinham nicht zum großen Geheimnis, sondern er führt das Duo des stoischen, von seiner Mordarbeit überzeugten Asiaten Riaz und des irischen Brutal-Rambos Muldoon als zänkische Handwerker vor, die völlig unterschiedliche Auffassungen von ihrer „Berufsehre“ haben. Das wird streckenweise zur riskanten Gratwanderung, ergibt jedoch einen elektrisierenden, sozialkritischen Thriller, der im breiten Krimi-Spektrum unserer Tage absolut einmalig ist. Ein literarischer Lichtblick in diesen trüben Tagen!
Peter Münder
Mark Billingham. Love Like Blood. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Atrium Verlag, Zürich 2017. 431 Seiten, 20 Euro.