Und ewig kreischt der Kookaburra
Ihr „drittes Leben“ wollte die australische Skript-Writerin Brigitte Serra auf einer idyllischen Insel verbringen: Weg vom hektischen, gefährlichen Melbourne, in Ruhe mit den Kindern und ihrem zweiten Mann – ohne Stress und ihre düsteren Phobien. Tania Chandler hatte schon in „Das Zweite Leben“ beschrieben, dass sich dieser Traum von harmonischer Naturverbundenheit und friedlichem Miteinander letztlich als unerreichbare Utopie entpuppt. Von Peter Münder
In ihrem ersten Leben als Tabledancer in Melbourne war Brigitte das exhibitionistische Zurschaustellen ihrer anatomischen Alleinstellungsmerkmale zwar zur prickelnden Gewohnheit geworden. Doch die Gier nach Anerkennung und Bewunderung hatte sie auch so stark internalisiert, dass daraus eine Abhängigkeit geworden war: Ohne Applaus, Lob und Begeisterung der Zuschauer zeigte sie mentale Entzugssymptome und tendierte zu Depressionen – ganz abgesehen davon, dass sie die glotzenden Dumpfbacken gleichzeitig auch verachtete.
Ihre diffusen Stimmungsschwankungen verstärkten sich, als sie in einen dubiosen Mordfall verwickelt wurde, bei dem ihr Liebhaber ums Leben kam, woran sie sich aber nur noch vage erinnert. In ihrem Psychogramm müssten also Symptome einer großen Verunsicherung und Orientierungslosigkeit klar erkennbar sein – was in „Zwei Leben“, dem ersten Psychothriller (O-Titel „Please don´t leave me here“, 2016) von Tania Chandler ja auch schon im Titel angesprochen wird. (Vgl. Cultmag : Ein starker Sog“, Sonja Hartl, 15. August 2017). Die grüblerischen Betrachtungen zum Thema „Was mache ich hier eigentlich, wo bin ich hier gelandet?“ sind auffällig und steigern sich noch in diesem neuen Band über ihr „Drittes Leben“, wo es etwa heißt: „Brigitte schenkte mehr Champagner in ihre Flöte und wurde das Gefühl nicht los, in einer Soap um eine dysfunktionale Familie festzustecken“. Aber ist hier auf dieser Insel, in diesem Plot, in diesem tragikomischen Mikrokosmos nicht fast alles dysfunktional?
Freiwillig auf die Insel – aber ist das gut?
Nun hat Brigitte also ihren zweiten Polizisten namens Aidan geheiratet und ist mit ihren drei kleinen Kindern (und ihrem Hund) auf die kleine Insel Raymond Island gezogen, auf der eigentlich rund um die Uhr Friede, Freude und Happiness angesagt sein sollten. Aber wo und wie kann der Mensch schon restlos glücklich sein? Die Fähre zum Festland hat zwar nur 150 Meter Wasserweg zu durchpflügen – aber die Flucht aus dem vermeintlichen Hexenkessel Melbourne auf dieses kleine Eiland erscheint der TV-Skript-Schreiberin von ziemlich idiotischen Werbespots plötzlich wie ein irrer Alptraum: Hatte sie nicht immer schon Angst vor dem Wasser und dem Ertrinken gehabt? Und auch vor der Einsamkeit auf einer kleinen Insel, von der man nachts nicht mehr runterkommt, weil der Fährverkehr dann längst eingestellt ist? Wo einen aber andererseits alle kennen und jede kleinste, private Marotte und Schwäche genau registrieren? Und überhaupt: All diese Viecher, die durch die Luft schwirren, dazu noch die aberwitzigen Koalas, die auf die Bäume kriechen und ihren Hund Zippie verrückt machen!
Diese Vögel treiben sie fast in den Wahnsinn: „Sie zwitscherten nicht einfach: Sie krähten und kreischten und trällerten und lachten. Kakadus, Elstern, Kookaburras und wie auch immer diese gefiederten Vögel hießen“.
Ihre Männer: Tendenz zur Macke
Unter diesen verstörenden, nervtötenden Bedingungen können nur noch die Kinder Trost spenden: Ihr Bruder hat gerade einen Suizidversuch überlebt und ist im Krankenhaus, ihr Opa liegt im Sterben, die oberschlaue Mutter Joan krittelt nur an ihr herum und sondert die Weisheit ab, dass Brigittes Männer eine „deutliche Tendenz zur Macke“ entwickeln. Keine Frage: Die in Melbourne lebende Redakteurin Chandler (Hinweise auf Raymond Chandler und seine „Lady in the Lake“ bringen uns hier nicht weiter) beherrscht die Kunst, Dialoge und selbst tragische Situationen komisch, differenziert und originell zu gestalten.
Die Insel des Schreckens gerät hier nicht zum tränenreichen Klischee, weil Chandler jeden Horror-Schub mit eingestreuten komischen Effekten konterkariert und Vereinfachungsstrategien oder plumpe Übertreibungen vermeidet. Schubladen mit wohlfeilen Etiketten hält sie in diesem Szenario jedenfalls nicht bereit. Sicher könnte man Brigitte als „Stimulus-Respons“-Charakter bezeichnen, da sie extrem abhängig von äußeren Impulsen ist und ihre eigenen Vorsätze eigentlich nie konsequent realisiert. Dem Hund hält man (Pawlow lässt grüßen!) den Knochen hin, damit er reagiert, Brigitte braucht nur einen Drink oder eine Einladung ihre Ex-Freundes Matt, der einen Krimi geschrieben hat, um ihm auf den Leim zu gehen.
Der sensible, von gefährlichen Polizei-Einsätzen traumatisierte und verunsicherte Aidan ist auch keine echte Hilfe: Er will lieber verdrängen und Schwächen abstreiten, als sein dürftiges Macho-Gehabe ablegen. Soviel zur Psycho-Couch-Thematik. Der Thriller-Plot konzentriert sich auf die im Wasser gefundene Leiche: Es ist die TV-Starköchin, für deren Sendung sie ihre Texte fabriziert hat – kann der Mörder es vielleicht auf Brigitte abgesehen haben und die beiden Frauen verwechselt haben? Als dann noch Brigittes Hund getötet wird, gerät ihr kleiner Mikrokosmos in noch schnellere Rotationen und wirft sie völlig aus der Bahn. Was verheimlicht ihr Aidan, welchem Nachbarn kann sie noch trauen? Und wie kann es sein, dass der vom Ex-Freund veröffentlichte Krimi dem Mörder als Vorlage für seine Greueltaten dient? Dieses Stochern im Nebel düsterster Verdächtigen wird vom elektrisierenden Showdown ebenso plausibel wie spannend beendet. Und erleichtert stellt der Leser dann fest, dass diese alles an die Wand fahrende Brigitte sich doch zusammenreißen und endlich mal etwas konsequent durchziehen kann.
Noir oder dirty?
Im Interview mit den australischen „Sisters in Crime“ brachte Tania Chandler den Begriff „Dirty Realism“ ins Gespräch – der sei ganz OK, obwohl sie Debatten über „Domestic Noir“, „Regional Crime“ oder andere Klassifikationsversuche für überflüssig hält – sie wolle einfach schreiben und sich nicht den Kopf über passende Schubladen zerbrechen: Überhaupt sei sie „over the moon just to be published“. Kurz und gut: Chandler versteht das Leben ähnlich wie Samuel Becket als Abfolge von Fehlversuchen („Fail, fail again, fail better“), aber sie will ihre Figuren oder das Leben an sich nicht als Holzschnitt-Arrangement vorführen. Tragische „Fuckups“ mit labilen Charakteren passieren einfach immer wieder – aber sie haben auch ihre komischen Momente, meint diese faszinierende Autorin. Wer wollte da widersprechen?
Peter Münder
Tania Chandler: Ein Drittes Leben (Dead in the Water, 2016). Psychohriller. Aus dem australischen Englisch von Karen Witthuhn. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 298 S., 9,95 Euro.