Es geht hier nicht um Gerechtigkeit, sondern um Recht
– Am vergangenen Sonntag (27.01.13) hatte das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig im Rahmen der Ausstellung „Gangster, Gauner und Ganoven. Große Leipziger Kriminalfälle“ zu einer Podiumsdiskussion mit Lesung zum Thema „Selbstjustiz“ geladen. Sophie Sumburane war für CrimeMag dabei.
Der Leipziger Krimiautor Jan Flieger (71) hatte das Thema für seinen aktuellen Thriller „Auf den Schwingen der Hölle“ gewählt und damit den Diskussionsanstoß gegeben. Zu Gast waren der Leipziger Polizeipräsident Bernd Merbitz, Oberstaatsanwalt Ricardo Schulz und Strafverteidiger Malte Heise. Unter der Moderation von Volly Tanner wurde die Diskussion durch die Lesung von Jan Flieger eröffnet.
Denn sein Thriller wirft Fragen auf, vor denen die Justiz immer wieder steht:
Ist es gerecht, dass ein Mörder und Vergewaltiger nach neun Jahren mit Ausbildung aus der Haft entlassen wird, während die Eltern des Opfers lebenslänglich bekommen haben?
Die meisten Menschen würden wohl sagen: nein. Aber es ist Recht. Jugendstrafrecht.
Und ist es gerecht, wenn ein Vater loszieht , um seine Tochter zu rächen? In jedem Fall ist es Unrecht, das macht Polizeipräsident Bernd Merbitz gleich zu Beginn deutlich. „Es ist nicht hinnehmbar, auch nicht, wenn das Sicherheitsgefühl mal in Schieflage geraten sein sollte.“ Doch ist es gerecht? Mit dieser Frage der Selbstjustiz beschäftigt sich der Thriller „Auf den Schwingen der Hölle“.
Der Leipziger Autor, der schon in der DDR aktiv war, für S.Fischer schrieb und 1988 den Theodor-Körner-Preis erhielt, hatte heute, zehn Jahre nach Erscheinen seines letzten Kinderbuches, Probleme. Nicht beim Schreiben, sondern bei der Verlagsfindung: „Selbstjustiz ist ein schwieriges Thema“, so Flieger im Vorgespräch mit Moderator Volly Tanner, „viele Verlage hatten Angst davor, in die rechte Ecke gestellt zu werden. Doch das war nie meine Intention.“ Doch die Forderung drakonischer Strafen wie „die Todesstrafe für Kinderschänder“ stellt eine Farbe im Muster rechten Gedankenguts dar.
„Die Todesstrafe steht nicht zur Diskussion. Wir sind uns alle einig, dass das nicht die Lösung sein kann, darum geht es in dem Buch aber auch nicht“, erklärt Bernd Merbitz, der mehrfach betonte, das Buch gelesen zu haben.
Und so ist es auch, denn das Buch ist keine Forderung nach höheren Strafen, es ist vielmehr ein Psychogramm. Das Psychogramm einer „deformierten“ Täterpersönlichkeit – einem Vater, der seine einzige Tochter verloren hat. Und auch einer Mutter, die an ihren Depressionen in der Trauer und der Angst vor der geplanten Tat ihres Mannes zu zerbrechen droht. Flieger schreibt kein Plädoyer für die Selbstjustiz, stattdessen ist die Stimmung des Buches äußerst gesellschaftskritisch.
Denn woher kommt es, das Verlangen nach Selbstjustiz? Gibt es ein Ungleichgewicht zwischen dem Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und der aktuellen Rechtsprechung? Das versuchte Strafverteidiger Malte Heise zu erklären. Er war der Verteidiger des Dreifach-Mörders von Groitzsch, für den „seine Habe genauso kostbar war wie die Tochter für den Vater im Buch“, weshalb er die Diebe kurzerhand erschoss.
„Solche Täter hält man nicht auf“, resümiert Heise. Die Besessenheit von Rache, das Ausblenden oder sogar in Kauf nehmen aller Konsequenzen, das ist es, was Flieger in seinem Buch „exzellent herausarbeitet“.
Daneben gibt es natürlich auch Formen von Selbstjustiz, die weniger drastisch sind, aber dennoch genauso zu verurteilen. Darin waren sich alle Diskussionsteilnehmer einig.

Malte Heise, Bernd Merbitz, Volly Tanner, Jan Flieger, Ricardo Schulz
Überhaupt, waren die eigentlich gegensätzlichen Positionen des Nachmittags dann doch ganz furchtbar einer Meinung. Statt kontrovers zu diskutieren, beantworteten die Gäste nacheinander die gestellten Fragen. Keiner fiel dem anderen ins Wort, jeder gab jedem recht, Harmonie an einem Abend, an dem ich schon die Fetzen hatte fliegen sehen.
„Natürlich, man kann die Gefühle des Vaters nachvollziehen, die Jan Flieger in seinem Buch ‚hervorragend‘ darstellt“, so Merbitz. Dennoch ist es gegen das Gesetz – was Flieger pflichtgemäß abnickt.
Überhaupt, der Autor sagte während der gesamten Diskussion keine Silbe. Vielleicht hätte ein emotionales Wort der Diskussion zu mehr Schwung verholfen. Vielleicht ist die Angst vor dem Thema aber auch einfach zu groß, als das man sich zu emotional darüber streiten wollte. Emotional wurde es dennoch. Polizeipräsident Bernd Merbitz kramte im Repertoire trauriger Todesmitteilungsüberbringungen und würgte so jedes kritische Wort direkt ab.
Drückende Stille breitete sich aus, die Moderator Volly Tanner mit einer lockeren Frage zu überbrücken wusste. Und plötzlich kam sie, die Frage, die die Positionen spaltete, die Frage aus dem Publikum, die nicht auf der Agenda der Diskutierenden stand: „Kann eine solche Mordlust entstehen, weil sich alle um den Täter, aber niemand um die Opfer kümmert?“ Eine Frage, die auch Jan Flieger in seinem Buch mehrfach zur Sprache bringt, eine Frage, die endlich so etwas wie eine Diskussion entstehen lässt. Es fängt an beim gelangweilten Beamten, der eine Anzeige entgegennimmt und endet bei den alleingelassenen Eltern, die einen Zettel mit Telefonnummern bekommen.
Man kümmere sich, viele Angebote, Weißer Ring und dennoch. Kann es eine adäquate psychologische Betreuung geben für eine Mutter, die ihr Kind durch einen brutalen Mord verloren hat? Sind Hassgefühle gegenüber dem Mann, der dafür verantwortlich ist, nicht normal? Normal sicher, aber therapierbar. Sie sind zu verarbeiten, wenn auch nicht zu vergessen. Doch das, was Jan Flieger beschreibt, geht darüber hinaus. Bringt eine Besessenheit zum Ausdruck, die, das macht das Buch vor allem deutlich, viel mehr, wenn nicht sogar alles, zerstört als rächt. „Ich habe die Psychologen getäuscht“, lässt Flieger seine Figur Bachmann sagen. Und das betont auch Heise: „Man dringt in die Täter nicht ein. Solche Menschen sind krank.“ Sind sie, aber ist ihr Handeln dennoch nicht irgendwie auch gerecht? Wenigstens nachvollziehbar? Diese heikle Frage wurde sicher umschifft, wie auch jede andere Kontroverse.
Ein spannendes Thema, ein kontroverses Buch, aber dennoch ging man doch irgendwie unbefriedigt nach Hause – im Angesicht von so viel Einigkeit.
Sophie Sumburane
Fotos: Sophie Sumburane. Zur Homepage von Sophie Sumburane.