
Olga und ihr CIA-Spionageclan
Wenn Top-Agenten aus der DDR die große Sause im Schlaraffenland genießen wollten – Von Peter Münder.
Bei einem Geheimprozeß in Frankfurt/Oder wurde 1960 die Raue-Gruppe wegen Spionage für die CIA zu langen Haftstrafen verurteilt: Es war ein Familien-Clan um Heinz, Gerd und Olga Raue (geb. Karalus), der im Kalten Krieg in der DDR und in Moskau für die CIA arbeitete – leichtsinnig und dilettantisch, aber bis zur Verhaftung auch erfolgreich: Olga hatte in der Umgebung von Moskau ein Areal zum Raketenbau und für die Produktion einer Wasserstoffbombe ausspioniert. Der Politikwissenschaftler Stefan Appelius wertete für sein Buch „Die Spionin. Olga Raue- CIA-Agentin im Kalten Krieg“ bisher unbekannte und geheime Unterlagen aus und sprach mit der inzwischen 90jährigen Olga Raue über ihre Spionage-Aktivitäten.
Vom tollkühnen Spionagering der Raue-Gruppe hörte Stefan Appelius zufällig während eines Besuchs am Tag der Offenen Tür im ehemaligen Bautzener Stasi-Gefängnis – das war an einem Sommerabend 2010. Die Eckdaten über die drei ehemaligen CIA-Spione, die als „besonders gefährlich“ eingestuften Staatsfeinde Heinz, Olga und Gerd Raue – sie wurden im Herbst 1960 nach einem Geheimprozess zu langen Haftstrafen in Bautzen (Heinz Raue) und Hohenschönhausen (Olga und Gerd Raue) verurteilt – hatte der Politikwissenschaftler Appelius, Jahrgang 1963, Professor an der Uni Oldenburg, schnell eruiert. Er hatte als Spezialist für brisante Aspekte ehemaliger Ostblock-Staaten (z.B. Todesfälle ausländischer Flüchtlinge auf bulgarischen Fluchtrouten) auch sofort erkannt, wie spannend dieses unbekannte Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte war. Aber er musste auch einsehen, dass sich die Recherchen und seine Kontaktversuche zu ehemaligen Augenzeugen und Betroffenen extrem mühselig gestalten würden. Stasi-Unterlagen waren entweder nicht mehr vorhanden oder gelöscht worden, Heinz Raue war 2013 gestorben, sein Bruder Gerd bereits 1981. Und dann gelang es ihm doch, Olga Raue zu treffen und mit ihr ausführlich über ihre früheren CIA-Aktivitäten zu sprechen: Über den Leichtsinn der Gruppe, den aufregenden Nervenkitzel, die Irrungen und Wirrungen in diversen „Honigfallen“, die mondänen Tage in Venedig, Rom und Pontresina mit dem damaligen CIA-Kontaktmann Raymond. Ja, üppig waren sie, die Honorare der amerikanischen Freunde, amüsant die Kino-Abende im West-Sektor, köstlich der Cognac! Aber Schuldgefühle? „Hatte und habe ich keine. Wir wollten etwas Gutes tun. Etwas Gutes für Deutschland“, erklärte Olga Raue dem Autor Appelius.
Und ihr ist auch die Enttäuschung über die letztlich doch indifferente CIA-Führungsebene anzumerken: Die CIA-Kontaktleute beteuerten damals ja mehrmals, die Raue-Gruppe könnte aufgrund ihrer erfolgreichen Arbeit für den Westen später in den USA leben und man würde natürlich alles in Bewegung setzen, falls es mit der Stasi Schwierigkeiten geben würde. Aber als die Gruppe schon in Ost-Berlin beschattet wurde und eine Verhaftung absehbar war, tauchten die Amerikaner ohne Vorwarnsystem einfach ab: „Rettungsaktionen kosten nur viel Geld und verursachen große Probleme“, hatte ein CIA-Mann einmal erklärt.

Kalter Krieg und heißer Konsumrausch
Heinz Raue (1924-2013) kämpfte als junger Soldat in Stalingrad, geriet dann beim Einsatz im Westen in englische Kriegsgefangenschaft und bot sich schon im ägyptischen Kriegsgefangenenlager den Briten als Spion an. Er sollte aber erstmal zurück nach Bitterfeld und dann auf einen englischen Verbindungsmann warten, wurde ihm beschieden. Raue war angesichts dieser lauwarmen, desinteressierten Haltung so erbost, dass er nach seiner Rückkehr 1949 sofort in den Berliner West-Sektor marschierte und sich beim amerikanischen Geheimdienst andiente. Er wirkte so überzeugend als anti-kommunistischer Kämpfer für westlich-demokratische Werte, dass man ihn beim CIA/CIC (Militär-Geheimdienst) sofort einstellte. Er hatte beste Kontakte zur FDJ-Jugend in Halle und war dort Agitprop-Leiter; die Dokumente, die er für die CIA fotografierte, lieferten Hinweise auf höhere Kader und geplante FDJ-Aktivitäten. Der dynamische Draufgänger Heinz, stellt Appelius fest, hatte damals bei den CIA-Leuten jedenfalls „eine gewisse Narrenfreiheit“. Aus dieser von Heinz implantierten Keimzelle entwickelte sich dann die Spionage-Gruppe Raue, für die gelegentlich noch weitere Familienmitglieder eingespannt wurden. Heinz´ Verlobte Olga übernahm zuerst Kurierdienste, der eher großspurige und abenteuerlustige Gerd war sofort für alle Einsätze abrufbar, vor allem, wenn sie möglichst riskant waren. Gerd war als Zahnarzt in der Poliklinik des ZK der SED für die CIA der hochkarätigste Informant: Er kannte alle hohen Funktionäre und deren private Schwachstellen. Die CIA war so stark an Gerds Informationen über ZK-Prominente interessiert, dass sie in seiner Zahnarztpraxis sogar Tonbandgeräte in Bohrmaschinen einbauen wollte, was sich jedoch wegen technischer Probleme als nicht machbar erwies. Olga war anfangs nur auf Kudamm, Konsum und westliche Edel-Klamotten fixiert, wuchs jedoch schnell mit ihren anspruchsvolleren Aufgaben. Vor allem als sie ihr Medizinstudium in Moskau absolvierte, avancierte sie zur Top-Agentin: Sie legte Tote Briefkästen an, deponierte Geld und Unterlagen für andere Agenten und beschaffte Erd-und Wasserproben, die Rückschlüsse auf das geheime sowjetische Wasserstoffbomben-Programm und auf den Bau von Raketen liefern sollten. Ihr letzter CIA-Auftrag vor ihrer Verhaftung sah vor, dass ihr ein Geigerzähler ins Kofferradio eingebaut wurde – das sollte sie in Moskau dann unauffällig in Betrieb nehmen…

Streckenweise scheinen wir hier beim Rückblick auf groteske Episoden aus dem Kalten Krieg in Szenen eines Billy Wilder-Films zu geraten. Wir sollten aber nicht vergessen, dass subversive Gruppen der beiden deutschen Staaten sich in den 1950er Jahren erbitterte Kämpfe lieferten und dabei von den Geheimdiensten unterstützt wurden: So wurde etwa Johann Buriak im März 1952 zusammen mit sechs Helfern wegen diverser Sabotageakte verhaftet. Er hatte mit seiner Gruppe in Ost-Berlin Stinkbomben auf dem Alexanderplatz geworfen, Flugblätter verteilt und Sprengstoffanschläge auf Verteilerkästen ausgeführt, was in einigen Betrieben zum totalen Stromausfall führte. Außerdem sollte östlich von Berlin eine Eisenbahnbrücke in dem Augenblick gesprengt werden, als der „Blaue Express“ auf der Fahrt nach Moskau unterwegs war. In einem Schnellverfahren wurden die Helfer zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, während gegen Johann Buriak von der DDR-Justizministerin Hilde Benjamin die Todesstrafe verhängt wurde – er wurde im August 1952 hingerichtet. (Vgl. dazu Pötzl/Traub (Hg.): „Der Kalte Krieg“, 2009, Kapitel „Töricht und Tödlich“).
Vor dem Bau der Mauer konnte sich die Raue-Gruppe noch unbehindert zwischen Ost-und West-Berlin bewegen, was ihr ohnehin schon leichtsinniges Verhalten wohl noch verstärkte.

Olgas Moskauer Eskapaden
Was die schlaue, aber auch sehr naive Olga nicht ahnte: Sie wurde in ihrem Studentenheim in Moskau von ihrer Zimmergenossin (und vermeintlichen Freundin) Martha bespitzelt und an Stasi und KGB verraten. Olgas Habitus war einfach viel zu ostentativ-protzig gewesen: Bei ihr rollte der Rubel, ihre aus dem Westen mitgebrachten Handtaschen, Dessous und Bücher ließen nicht nur bei Martha alle Alarmglocken schrillen. Ganz abgesehen davon, dass Olga sich ebenso leichtfertig als Plaudertasche vom Dienst gerierte wie Heinz und Gerd – jedenfalls wird Olga 1959 von zwei KGB-Beamten in Moskau festgenommen, in der berüchtigten Lubjanka inhaftiert und dann nach Ost-Berlin ausgeflogen. Sie hatte neun Jahre für die CIA spioniert, wird zu fünfzehn Jahren Zuchthaus im Stasi-Knast Hohenschönhausen verurteilt, aber nach sechs Jahren vorzeitig von der BRD-Regierung freigekauft. Sie empfand ihre Strafe als völlig überzogen und erklärte gegenüber Stefan Appelius: „Was habe ich denn schon gemacht ?“ Die Brüder Heinz und Gerd Raue wurden in einem separaten Prozess zu lebenslanger Haft in Bautzen verurteilt.
Heinz wurde 1969 aus dem Gefängnis entlassen, konnte 1974 aus der DDR ausreisen und bekam einen Job in West-Berlin beim Springer-Inlandsdienst. Als er 2013 starb, wurde er mit den beiden US-Orden begraben, denen Appelius so intensiv nachrecherchiert hatte. Gerd hatte nach seiner Entlassung extreme psychische Probleme, wurde depressiv und nahm sich 1981 das Leben.

Tatsächlich: Eine hübsche kleine Akte!
Stefan Appelius investiert viel Zeit und Mühen in die Recherche faszinierender Ereignisse. Wenn endlich eine Lücke geschlossen und eine offene Frage beantwortet wurde, vermittelt er dem Leser akribisch, mit welchen Mühen dies verbunden war und beschreibt dazu oft genug, wie eine bestimmte Akte beschaffen war. Er kultiviert damit eine Art postmoderne Archiv-Kultur, die jedoch zur pedantischen Aktenhuberei mutiert. Es ergibt sich schließlich eine Art DokuFiction-Mix, der verwirrend wirkt. Vielleicht möchte der Autor aber auch nur von den Lesern für seine mühevolle Recherche gelobt werden? Denn das deuten Hinweise an wie „Die Recherchen zu den amerikanischen Geheimdienstlern sind besonders schwierig. Ich habe mich dabei auf die Vernehmungsprotokolle der Hauptangeklagten gestützt, aber das genügt natürlich nicht …“
Vielleicht irritiert die Selbstdarstellung des Autors als knallharter Schnüffler ja auch deswegen, weil die Raue-Saga etliche spannende Thriller–Elemente enthält, die man nur ungern gegen Archiv-Impressionen eines begeisterten Akten-Nerds eintauscht?
Die „hübsche kleine Akte“, die Appelius nach langer Wühlarbeit in verstaubten Archiven und Umfragen unter vielen Experten entdeckte, sollte Hinweise zum ehemaligen CIA-Station Chief in West Berlin Anfang der 1950er Jahre liefern. Es soll Peter M. F.Sichel gewesen sein – so what? Die entscheidenden Informationen zu den Raue-Vorgängen hat Appelius längst geliefert, als er auf Seite 280 seine Spekulationen über Stasi-Unterlagen, amerikanische Archive etc. beschreibt und vorrechnet, dass Sichel 1948 schon zwei Jahre Berufserfahrung vorweisen konnte – sei´s drum. Irgendwie geht es auch noch um die beiden Orden, die Heinz Raue von den Amerikanern verliehen wurden …
Schade: Eine hochbrisante spannende Episode aus dem Kalten Krieg, die bisher nirgendwo öffentlich behandelt oder dargestellt wurde, kann sich aufgrund der laufenden Interventionen des aktenaffinen Archivars im eigenen Erzählfluss nur rudimentär entfalten, weil der Autor sich allzu oft selbst bespiegeln will: als hartnäckige Spürnase und grandioser Rechercheur. Das hilfreiche Namensregister, die im Anhang gelieferte nützliche Chronologie dieser faszinierenden Ereignisse um den Raue-Clan, das alles hätte Appelius ja in einem Kommentar zu seinen Recherche-Abenteuern separat auflisten können.
- Stefan Appelius : Die Spionin. Olga Raue-CIA-Agentin im Kalten Krieg. Rowohlt Verlag, Hamburg 2018. 608 Seiten, 24 Euro.
Vgl. dazu auch Hintergrundberichte und Analysen zum Kalten Krieg in: Norbert F. Pötzl/ Rainer Traub (Hg.): Der Kalte Krieg. DVA, Frankfurt 2009. 318 Seiten.
Peter Münder bei CrimeMag hier.