Geschrieben am 1. November 2020 von für Crimemag, CrimeMag November 2020

Susanne Saygin über „Die Alte“ im Kino

Eine Frau mit berauschenden Talenten (Frankreich, 2020)

Hannelore Cayres Die Alte (frz. La Daronne) stand Anfang dieses Jahres ganz oben auf der Krimibestenliste. Und auch in Frankreich war die kleine, feine Geschichte von Patience Portefeux, der unterbezahlten Arabischübersetzerin für die Pariser Drogenfahndung, die irgendwann selber groß ins Geschäft einsteigt, erfolgreich genug, um daraus einen Film mit Staraufgebot zu machen.

Jetzt ist dieser Film auch in Deutschland angelaufen und der beknackte deutsche Titel kombiniert mit dem launigen Trailer lassen eine typisch französische Klamauk-Komödie befürchten – Breaking Bad auf Französisch! Mit Frauen! Und Arabern! Und irre lustig!

Tatsächlich ist dem Regisseur Jean Paul Salomé und seinen Schauspielern etwas ganz anderes und eher Seltenes gelungen: eine eigenständige und gerade deshalb in weiten Teilen kongeniale Literaturverfilmung. Die im Roman ausführlich beschriebene Herkunftsgeschichte von Patience Portefeux aus einem kriminellen Clan jüdischer Algerienfranzosen ist im Drehbuch auf wenige strategisch klug gesetzte Andeutungen reduziert. Dank dieser Verknappung tappt die Zuschauerin zunächst in die gleiche Falle, wie Patiences Freund, der grundsolide biofranzösische Leiter des Drogendezernats: Patience sieht aus wie eine Mittelschicht-Französin, sie benimmt sich wie eine Mittelschicht-Französin, ihr Alltag als alleinerziehende Mutter von zwei Teenie-Töchtern, ihr mieser Job und die Besuche bei der alzheimerkranken Mutter im Altenheim entsprechen dem Leben vieler Mittelschicht-Französinnen um die fünfzig. Eben deshalb ist es unvorstellbar, dass sich unter der Haut dieser perfekt assimilierten, unauffälligen und nicht mehr jungen Frau ein ganz anderes Wesen verbirgt: Patience versteht die Geschichten, die die kleinen Dealer in den Abhörprotokolle erzählen, weil sie deren Migrationsgeschichte teilt. Sie ist in der Migrationsökonomie groß geworden, sie kennt ihre Mechanismen und sie weiß, welche Macht Müttern und älteren Frauen in dieser Ökonomie jenseits aller kultureller Unterschiede zuwachsen kann. Also nutzt sie ihre postmenopausale Unsichtbarkeit und zieht unter aller Augen ihren Deal durch. Während sich ihre Mutter immer mehr in die Demenz verabschiedet, wächst Patience ihrerseits zur ‚Alten‘ heran. Als selbstständige Unternehmerin quittiert sie den männlich dominierten Polizeidienst und kooperiert von nun an allenfalls noch mit ihrer Hausverwalterin, einer gleichaltrigen Chinesin, die aus dem Keller ihres Pariser Apartmentblocks heraus ein blühendes Import/Export-Business betreibt.

Dass diese Geschichte über weibliches Leben unter der Oberfläche der postmigrantischen Gesellschaft nicht zum moralinsauren women can do it for themselves-Klischee verkommt, war im Roman der beißenden Ironie geschuldet, mit der Patience Portefeux ihre Umwelt betrachtet. Im Film fällt es den Schauspielern zu, diese Leichtigkeit zu erzeugen. Und das tun sie mit Bravour – allen voran Isabelle Huppert in der Rolle der daronne. Huppert geht auf die siebzig, im Film verkörpert sie überzeugend eine Mittfünfzigerin und allein der Moment, in dem Hupperts Patience für den Bruchteil einer Sekunde das Gesicht verrutscht, als sie erfährt, dass sie für ihre jugendlichen Kunden ‚die Alte‘ ist, macht die Sache schon sehenswert.

Sicher – es gibt auch Abstriche: Härten und Kanten der Vorlage sind geglättet, die teilweise grellen Überzeichnungen herauseditiert. Die unterbezahlte kleine Übersetzerin aus Cayres Noir könnte sich die großzügige Pariser Wohnung und die geschmackvolle Kleidung ihres Filmdoubles kaum leisten und die im Roman eher unterkühlte Beziehung zwischen Patience und ihrem Freund Philippe (Hippolyte Girardot) wird so sensibel weichgezeichnet, wie man es sonst nur aus öffentlich-rechtlichen Fernsehproduktionen für die reifere Jugend kennt.

Fazit: Eine Frau mit berauschenden Talenten ist kein großes Kino, aber ein gut gemachter, netter französischer Film, den man sich gut irgendwann mal auf Arte anschauen kann, ohne sich unter Niveau zu amüsieren.

Susanne Saygin