Es braucht einen Scharfschützen, um einen Scharfschützen zu fangen

Jetzt im Dezember erscheint im Festa Verlag einer besten Stephen Hunter-Romane zum ersten Mal auf Deutsch. „I, Sniper“ stammt aus dem Jahr 2009 und ist politisch alles andere als korrekt, das geradezu symmetrisch in gleich drei Richtungen. Ein Scharfschütze tötet kurz hintereinander eine Hand voll linker „Publikumsikonen“, eine leicht als „Hanoi-Jane“ erkennbare Filmschauspielerin auch dabei. Als Täter wird einer der besten US-Sniper des Vietnam-Krieges präsentiert, eine Legendenbeschädigung erster Güte für das konservative Milieu, Diskussion um Kriegsverbrechen inklusive. Und dann geht es auch noch um den „menschlichen Faktor“ versus eines superperfekten Computerprogramms bei der Hochleistungsdisziplin Scharfschießen. Alf Mayer, der für dieses Magazin eine unvollendet gebliebene achtteilige „Kulturgeschichte des Scharfschützen“, ein zweitteiliges Stephen Hunter-Porträt inklusive schrieb, bespricht das Buch in dieser Ausgabe in den „Bloody Chops“.

Stephen Hunter: Im Visier des Snipers (I, Sniper, 2009). Aus dem Amerikanischen von Patrick Baumann. Festa Verlag, Leipzig 2020. 592 Seiten, 14,99 Euro.
»Leute«, begann Nick, als sich das Rascheln und Tuscheln gelegt hatte, »wie ich euch schon sagte, wollte ich die Meinung eines Außenstehenden zu unseren Ergebnissen einholen. Ich habe Mr. Swagger hier darum gebeten, weil er selbst ein ehemaliger Marines-Scharfschütze ist. Er wird sicher zugeben, dass er mit der Absicht an die Sache herangegangen ist, zu einem anderen Ergebnis zu kommen und seinen Kameraden von den Marines zu entlasten. Aber daher wusste ich auch, dass wir gute Arbeit geleistet hätten, wenn wir ihn mit unseren Ergebnissen überzeugen könnten. Ich schätze, das konnten wir nicht. Doch ich weiß auch, dass er der erfahrenste Schütze ist, dem ich je begegnet bin, ein authentischer, ehrenhafter und verlässlicher Mann. Ich glaube, er hat einen speziellen, äh, Blick für die Dynamik von Schusswechseln. Nicht dass er ein gerichtlich anerkannter Schusswaffenexperte wäre, aber er hat eine Art zusätzliches Gen, das ihn Dinge sehen lässt, die andere Menschen nicht sehen. Also, hören wir uns an, was er zu sagen hat. Bob, willst du anfangen?«
»Entschuldigung, Nick«, meldete sich der Direktor zu Wort, »ich will hier nicht Ihre Sonderkommission übernehmen, aber ich möchte noch hinzufügen, dass Mr. Swagger letztes Jahr Nicks Berater in Tennessee war und in einem Undercover-Einsatz wahrlich Heldenhaftes geleistet hat. Er hat sich das Recht verdient, hier dem einen oder anderen auf die Füße zu treten, also erwarte ich professionellen Respekt von Ihnen allen. Ich wäre sehr enttäuscht, wenn das hier damit endet, dass wir uns gegenseitig anschreien.«
»Ich werde nicht schreien, versprochen«, begann Bob. »Ich merke, dass hier einige enttäuscht sind. Aber ich bin nicht hier, um Sie zu kritisieren oder um zu behaupten, dass jemand etwas übersehen hätte. Auch will ich keinem in die Karriere pfuschen. Mir geht es nur um die Wahrheit. Außerdem erkennen Sie sicher an meinem Satzbau, dass ich nicht besonders gebildet bin, und auch dafür möchte ich mich entschuldigen. Wenn ich versuchen würde, gebildet zu klingen, würde ich mich noch bescheuerter anhören. Daher werde ich das einfach sein lassen. Also, falls ich damit anfange, Verben und Subjekte durcheinanderzuwerfen, geben Sie mir einfach einen Tritt in den Hintern.«
Das brachte ihm ein paar Lacher ein und die ihm entgegengebrachte Feindseligkeit flaute für einen Augenblick ab.
»Aber wie ich mich ausdrücke, spielt keine Rolle. Ich bin hier, um Erfahrungen einzubringen, über die niemand von Ihnen verfügt, nämlich als Scharfschütze, als ein Mann, der auf dem Schlachtfeld getötet hat und viel zu viel Zeit damit verbracht hat, über solche Dinge nachzudenken. Ich bedanke mich also im Voraus für Ihre Aufmerksamkeit und möchte nun meine Karten auf den Tisch legen. Ja, ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass Sie sich getäuscht haben und dass Carl Hitchcock nichts getan hat. Ich vermute, dass er die letzte Woche seines Lebens in einem drogeninduzierten Koma verbracht hat. Jetzt werden Sie fragen: ›Warum hat man dann keine Drogen in seiner Blutbahn gefunden?‹ Der Grund dafür ist, dass die Droge, die dabei eingesetzt wurde, Bourbon war. Davon fand sich eine ganze Menge in seinem Blut. Er war Alkoholiker, und sie haben ihn über einen Tropf damit vollgepumpt, nachdem sie ihn entführt hatten. Okay, ich kenn mich mit dem ganzen Medizinischen nicht aus, vielleicht haben Sie ihm auch puren Alkohol gegeben. Aber wer das war? Ich kann Ihnen keinen Namen nennen. Aber wenn ich fertig bin, werden Sie sich ein recht gutes Bild davon machen können, wer der Kerl war, wo er jetzt steckt und was nötig sein wird, um ihn zu schnappen. Also, wollen wir anfangen?«
Einige murmelten etwas und signalisierten widerwillig Zustimmung.
»Ich will mit den Schüssen anfangen. Wie Sie wissen, hatte der Schütze Erfahrung. Der Kerl wusste, was er tat. Zweimal hat er das Gehirn getroffen, durch eine schwere Autoheckscheibe, wie es aussieht, aus gut 200 Metern Entfernung. Der Schauspielerin hat er zwischen den Rippen hindurch ins Herz geschossen. Mitch Greene hat er aus 100 Metern durch eine Glasscheibe in den offenen Mund getroffen. Carl Hitchcock war eindeutig fähig zu solchen Schüssen. Auch sein Gewehr war dafür geeignet. Und die Munition. Wegen dieses Gewehrs, dieser Munition und dieser Fähigkeiten denken Sie alle, was auch ich zuerst gedacht hab: dass die Sache klar ist. Volltreffer mit kaltem Lauf. Ja, das wäre möglich gewesen, Carl hätte es geschafft, ich hätte es geschafft. Aber diese Schüsse waren nicht nur Volltreffer mit kaltem Lauf. Nicht nur ins Schwarze. Nicht nur mitten ins Schwarze. Alle vier Schüsse waren auf abnorme Weise perfekt.«
Er ließ seine Worte für einen Moment auf sie wirken.
»Er hat nicht nur das Ziel getroffen. Nicht nur ins Schwarze. Nicht nur in die Mitte des Schwarzen. Auch nicht nur das X in der Mitte der Mitte. Viermal nacheinander hat er exakt die Stelle getroffen, an der sich die zwei Linien kreuzen, um dieses X in der Mitte der Mitte des Ziels zu bilden. Er hat das exakte mathematische Zentrum des Ziels getroffen. Das können Sie anhand der von den Leichenbeschauern vermessenen Einschussstellen überprüfen. Alle vier Schüsse sind nachweislich genau auf den Punkt gezielt gewesen.«
Sofort schoss eine Hand in die Höhe.
»Tut mir leid, dass ich Sie unterbrechen muss«, meinte der Detective der New York State Police, »aber das sehe ich ganz anders. Was ich sehe, ist ein Loch zwischen den Rippen, links von der linken Brust, ein Loch in der Mitte des hinteren Schädels, ein Loch in der linken Kopfseite, fünf Zentimeter oberhalb des linken Ohrs, und ein Loch im hinteren Mundraum. Ich will ja einräumen, dass das, was Sie sagen, vielleicht auf das Loch in der Mitte des hinteren Schädels und den Schuss in den Mund zutrifft, vielleicht, aber die anderen beiden waren überhaupt nicht genau ins Zentrum. Die waren alles andere als Volltreffer.«
»Da ist was dran. Aber Sie stellen sich die Ziele vor, als ob sie im Stillstand wären. Sie stellen sie sich wie etwas Zweidimensionales, auf ein Stativ Montiertes vor und schauen nach dem gleichen Abstand von oben und unten, rechts und links. Aber das waren Menschen, und Menschen bewegen sich. Für die Positionen der Körper zum Zeitpunkt des Schusses sind es Volltreffer. Am leichtesten ist das bei Reilly zu sehen. Ihr Mann wurde getroffen, direkt neben ihr. Sie dreht den Kopf, um ihn anzuschauen, dreht sich nach links. Als sie den Kopf nach vorn neigt, wird er ein längeres Ziel. Der Schütze zielt aus diesem Winkel gesehen exakt in die Mitte ihres Kopfes, der etwa 45 Grad nach links gedreht ist. Das mathematische Zentrum ist zehn Zentimeter über und 2,5 Zentimeter vor dem linken Ohr.«
Er schaute in seine Notizen.
»Bei einem Winkel von 45 Grad wäre ihr Kopf 425 Millimeter breit gewesen. Ich hab jemanden angerufen, der mit den Daten einen Computer gefüttert hat. Unser Arschloch hat die Kugel genau 212 Millimeter vom äußersten Punkt des Schädels, 133 Millimeter vom Scheitel und 133 Millimeter vom Kiefer platziert. Wollen Sie auch die Daten zu Flanders? Da ist es dasselbe. Genau in die Mitte, wenn man den Winkel zum Ziel bedenkt. Wenn der Kerl auf eine Zielscheibe geschossen hätte, dann wären diese vier Kugeln in einem Bereich von etwa 0,79 Zentimetern gelandet, und das bei verschiedenen Entfernungen und verschiedenen Umständen. Und wenn man die Größe der Schussgruppe von den vier Einschusslöchern aus misst, von Zentrum zu Zentrum, dann wären das weniger als 0,25 Zentimeter. Kein Mensch kann so gut schießen. Das kann nur Gott.«
Er gab ihnen etwas Zeit, die Informationen zu verdauen, sah in den meisten Mienen jedoch nur Verwirrung.
»Also, wie hat er das gemacht?«
Er wartete auf eine Antwort.
»Das Komische ist: Wenn Sie ihn gefragt hätten, hätte er’s selbst nicht gewusst. Er hatte es nicht drauf angelegt. Es war ein Fehler. Wenn er die Sache geplant hätte, hätte er nicht so gut geschossen – nur um zu töten, nicht um die Mitte der Mitte zu treffen. Tatsächlich war das ein Versehen. Wie kam es dazu?«
Keine Antwort.
»Die Antwort ist das Zielfernrohr. Verstehen Sie? Carl hatte ein Leupold Mark 4 Mildot-Zielfernrohr mit dreieinhalb- bis zehnfacher Vergrößerung, das auch bei seinem Gewehr gefunden wurde. In dem Jahr, als er sich sein Gewehr zusammenbauen ließ, das war 2005, war das der letzte Schrei. Damit konnte er Kopf, Herz, Mund treffen, sicher, aber bei 300 Metern hätten seine Kugeln eine Streuung von mehreren Zentimetern gehabt. Vielleicht sind das auf 100 Meter 2,5 Zentimeter, auf 200 sind’s fünf, auf 300 sind’s 7,5. Aber nie im Leben ist das Fernrohr gut genug, um so genau zu schießen, mit einem Streukreis unter einem halben Zentimeter. Das konnte der Killer nur durch das Zielfernrohr, das er hatte.«
»Hat er ein Target-Zielfernrohr benutzt?«, fragte jemand.
»Nein, Sir. Die Kriege seit 2005 haben dazu geführt, dass die Technik sich schnell weiterentwickelt hat. Das Militär steckt heute viel Geld in so was, weil wir Scharfschützeneinsätze haben, bei denen wir weit entfernte Leute treffen müssen, bevor sie uns treffen können. Unser Schütze hatte Zugang zu diesem Zeug. Er hat irgendein auf Software basierendes Gerät der neuesten Generation benutzt, das bei Schüssen mit kaltem Lauf eine erstaunliche Präzision möglich macht. Die entsprechenden Hersteller heißen Horus, Holland über Leupold, Tubb über Schmidt & Bender, Nightforce, das BORS-System von Barrett und ein Unternehmen namens iSniper. Wer auch immer das getan hat, hat Carls Zielfernrohr abgenommen, hat eins dieser Schätzchen montiert, geschossen und dann das Leupold Mark 4 wieder angebracht. Er saß da im Dunkeln in diesem Truck, hat die Entfernung, die Temperatur, den Wind in eine Gleichung gefasst, die er dann in das Softwareprogramm eingespeist hat, das genau für das Geschossgewicht, die Pulvermenge, den Einfluss des Zünders installiert und kalibriert war, und dann hat dieser Minicomputer eine Lösung für ihn ausgespuckt. Er hat ihm so was gesagt wie: sieben nach unten, vier-drei nach rechts. Er hat durchgeschaut, und statt eines Fadenkreuzes wie das, was Sie glauben zu kennen, war da ein ganzer Weihnachtsbaum aus Zielpunkten – Retikel werden die genannt –, von der Mitte des Fernrohrs abwärts. Er hat den gesucht, der sieben nach unten und vier Komma drei nach rechts lag, und hat abgedrückt. Supervolltreffer. Okay, ich sag Ihnen was, Carl war ein alter Mann, und nie im Leben kannte er sich mit so einer Technik aus. Er wäre nicht ansatzweise fähig gewesen, mit diesem Ding diese Schüsse durchzuführen. Ich glaube, er hat nicht mal Handys benutzt. Ich habe mit sieben Leuten telefoniert, die ihn kannten, um das abzuklären.«
Natürlich schwiegen sie. Er war ihnen weit voraus. Dann sagte Nick: »Aber vielleicht waren es einfach Glückstreffer. Ich meine, es gibt doch keinen physikalischen Grund, warum er nicht einfach einen sehr guten Tag gehabt haben kann. Viermal nacheinander. So was kommt vor. Die Beweismittel stützen Ihre Annahme nicht. Mit anderen Worten: Es gibt keinen Beweis, nur Ihre Deutung der Treffer, Ihre subjektive Interpretation.«
»Nein«, widersprach Ron Fields, der wieder einmal den Elefanten im Porzellanladen spielte. »Ich muss ihm da zustimmen. Ich war sechs Jahre lang der ausgewiesene Schütze beim St.-Louis-SWAT-Team. Mit der Zeit wurde ich sehr, sehr gut, aber ich wäre nie, niemals zu so etwas in der Lage gewesen. Ich konnte jeden treffen, ihn augenblicklich töten, und Gott sei Dank musste ich das nie, aber meine Schüsse waren alle unter Bogenminute. Aber der Kerl schießt eher in einer Bogensekunde. Einer Zehntel- Bogensekunde.«
»Herr Direktor?«, fragte Nick.
»Nick, ich höre bloß zu. Fahren Sie fort, Mr. Swagger, haben Sie sonst noch etwas?«
»Nun ja, denken wir mal darüber nach, wer solche Visiere verwendet. Es gibt im Wesentlichen zwei Scharfschützengemeinden, die militärische und die polizeiliche, auch wenn dazwischen ein gewisser Austausch stattfindet. Aber die meisten Polizeiteams schießen nicht aus größerer Entfernung als 100 Meter.«
»Das stimmt«, pflichtete ihm jemand bei. »Unsere Leute in Quantico haben letztes Jahr einen Bericht veröffentlicht, laut dem der Durchschnittsschuss eines Polizeischützen über 70 Meter geht.«
»Nur das Militär muss Menschen auf Entfernungen von weit über 100 Metern ausschalten. Das tun sie gerade in der Wüste mit Patronen wie der .338 Lapua Mag, der .300 Winchester Magnum, der .408 CheyTac, der .416 Barrett und natürlich der .50 BMG. Damit erledigen sie die bösen Jungs aus eineinhalb Kilometern oder vielleicht noch mehr.«
»Der Schütze war also beim Militär. Das war Carl doch auch. Das untermauert doch eher unsere Sicht, nicht Ihre«, wandte Ron ein.
»Nein, Sir. Carl hat beim Militär angefangen und er war großartig dort, einer der besten Marines, die je gelebt haben. Aber in den letzten 20 Jahren hat Carl überall im Land Seminare für Polizisten abgehalten.«
»So ist Chandler auf ihn gekommen«, fügte Nick hinzu.
Chandler war offenbar die junge Frau, die sich alles notierte; sie lächelte, ohne den Blick zu heben.
»Carl musste also alles über seine Art des Schießens und auch über ihre lernen. Deshalb hatte er keine .408 CheyTac – er hat nicht mit jungen Scharfschützen gearbeitet, die auf dem Weg in die Wüste waren, um dort irgendwelche Wickelmützen aus 1500 Metern auszuknipsen. Er hat mit Polizeisergeants gearbeitet, die es vielleicht mit einem durchgedrehten Ehemann zu tun bekommen würden, der seinem kleinen Kind ein Messer an den Kopf hält. Deshalb blieb er beim Kaliber 308. Wenn Sie sein Logbuch durchgehen, werden Sie sehen, dass er seit etwa zehn Jahren ausschließlich mit der Polizei zusammengearbeitet hat. Das ist ein weiterer Grund, warum er dieses softwarebetriebene Hightech-Zeug sicher nicht gekannt hat und auch nicht so schnell hätte meistern können. Aber da ist noch was. Sie, Sir, waren Polizeischütze. Ich schätze mal, Sie hatten schon den einen oder anderen Einsatz, selbst wenn Sie noch nie abdrücken mussten. Erinnern Sie sich, wie’s war, da im Dunkeln zu liegen und sich Sorgen zu machen? Worüber haben Sie sich Sorgen gemacht? Was war Ihr größtes Problem?«
»Tja«, begann Ron, und seine Miene war bedrückt, als er sich die Situation wieder ins Gedächtnis rief. »Wenn ich mich richtig erinnere, waren das … nun ja, Glasscheiben.«
»Ganz genau«, bestätigte Bob. »Wo befindet sich jemand, der einem Baby ein Messer an den Hals hält? Wo befindet sich ein Bankräuber mit Geiseln? Oder ein Gangmitglied, das nicht herauskommen will? Oder ein Kidnapper, der seinem Opfer nach einer Verfolgungsjagd die Pistole an den Kopf hält? Die Antwort lautet nicht ›drinnen‹, sie lautet ›hinter Glas‹.«
Wieder entstand eine Pause.
»Das war etwas, das Carl gewusst haben muss, wenn er den Jungs von der Polizei geholfen hat, ihre Fähigkeiten am Gewehr zu verbessern. Und das ist etwas, worüber sich militärische Scharfschützen nie Gedanken machen. Die schießen fast immer auf Leute, die sich im Freien auf- halten. Sie haben es nie mit Geiselnahmen zu tun. Sie scannen, sie lokalisieren, sie kalkulieren, sie töten. Und wenn sich das Ganze in einer Stadt abspielt, sind die Fensterscheiben dort sowieso schon herausgesprengt, wenn’s überhaupt welche gegeben hat. Es geht um den Kerl mit der AK oder dem RPG. Den Kerl mit dem Handy, was auch immer. Glas spielt für sie keine Rolle. Sir, wie schießt man durch Glas?«
Ron nickte.
Es war, als würde er ein cleveres Schachmatt anerkennen, mit dem er nicht gerechnet hatte.
»Ja. Ich verstehe. Um durch Glas zu schießen, benutzt man keine 10,9-Gramm-Hohlspitz-Matchpatrone von Federal, das weiß jeder Polizeischütze. Man nimmt eine bestimmte Jagdpatrone, die 10,69 Gramm wiegt, eine Federal Trophy Bear Claw. Das ist ein strukturell viel stabileres Geschoss, was bedeutet, dass es beim Durchschlagen von Glas nicht zerstört wird oder die Flugbahn ändert, vor allem auch bei dem schweren Glas in einem Autofenster. Aber dieser Kerl hat das nicht gewusst.«
»Carl hätte es gewusst. Aber dieser Kerl nicht«, ergänzte Bob. »Aber ein Blödmann war er auch wieder nicht. Er hatte eine ungefähre Vorstellung des Glasproblems und hat eine Lösung improvisiert, so wie ein militärischer Scharfschütze das im Kampfgebiet tun würde. Seine Lösung war, die Abweichung zu minimieren, indem er beim Reilly-Attentat das Gewehr bewegt hat. Wie weit war er weg, vielleicht 200 Meter oder etwas mehr, im nächsten Häuserblock. Er wusste, dass er nicht versuchen sollte, in einem Winkel auf die Heckscheibe von diesem Volvo zu schießen, weil es unmöglich vorherzusehen war, wie stark die Kugel dadurch abweichen würde. Vielleicht wäre sie nicht mal durchgegangen, sondern einfach abgeprallt. Deshalb hat er – mithilfe von anderen, nehm ich an – seine Sandsäcke oder seinen Schießständer 45 Zentimeter nach rechts geschoben, damit die Kugel das Glas in einem Winkel von null treffen würde. Deshalb gab es beim zweiten Schuss keine Abweichung. Beide Kugeln haben das Glas glatt durchschlagen.«
Es war still im Zimmer.
Schließlich sagte Bob: »Es war ein hoch qualifiziertes Team, das die Sache durchgeführt hat. Die haben Carl beobachtet, kannten seine Schwächen, seine Stärken, seine Neigungen. Eines Nachts, als sie alles ausgekundschaftet hatten, haben sie sich Carl geschnappt, ihm irgendwas Starkes gespritzt. Wahrscheinlich ist er danach nie mehr zu sich gekommen, weil sie ihn die ganze nächste Woche über einen Tropf mit Alkohol vollgepumpt haben. Sie ließen jemanden, der ihm mehr oder weniger ähnlich sah, seine Identität annehmen, den Van kaufen, die Zimmer mieten, sich in der Öffentlichkeit zeigen und zum Tatort fahren. Ihr Schütze hat die Personen getötet, während ein paar Leute dieses Zimmer in Carls Haus manipuliert haben. Als die Ermittler auf ihn gekommen waren, haben sie den armen Carl in dieses Motelzimmer geschleppt und ihm das Hirn aus dem Schädel gepustet. Dann sind sie von der Bildfläche verschwunden. Alles war so eingefädelt, dass Sie gar nicht anders konnten, als Carl für den Schuldigen zu halten. Die haben ein Spielchen mit Ihnen gespielt, und sie wären beinahe damit durchgekommen. Das einzige Problem war, dass deren Scharfschütze nicht gründlich genug über seine Attentate nachgedacht hat. Pech gehabt.«
»Wen suchen wir also?«, fragte Nick.
»Jemanden mit viel militärischer Erfahrung, kein Zivilist. Ein ausgezeichneter Techniker. Er muss einen Abschluss von irgendeiner Scharfschützenschule der Streitkräfte haben, und viele Abschüsse im Krieg. Er hält sich selbst für verdammt gut.«
»Und was schlagen Sie vor, was wir jetzt tun sollen, Mr. Swagger?«
»Vor allem eins: Wenn Sie einen Scharfschützen fangen wollen, gibt es nur einen einzigen Weg. Sie müssen sich einen anderen Scharfschützen holen.«