666 IM PRIME TOWER
Ganz oben im Wolkenkratzer spielen sich die teuflischsten Szenen ab.

Während in J.G. Ballards Dystopie „High-Rise“ aus dem Jahre 1975 die Utopie vom Wohlstand für alle zur kapitalistischen Fratze mutiert, gibt es in Nicolas Verdans „Die Coachin“ nur noch Superdekadenz in der „Prime Tower Affiliation“. Im London der 1970er Jahre stellten Brutalismus-Bauten einen Gegenentwurf zur dysfunktionalen Gesellschaft dar. Nach dem Vorbild Corbusiers errichtete man Wohnmaschinen, die ihren Bewohnern Autarkie und einen sicheren Rückzugsort gewähren sollten. Das System innerhalb des Systems entwickelte sich jedoch von der Wohnutopie zum sozialen Albtraum. Anarchy in the U.K. wurde im kapitalistischen Endstadium ausgerufen. Im Zürich der Zwanzigerjahre hat die Masse jegliche Revolutionsbegierde verloren. Sie ist ohne jede Hoffnung einem sterilen Verwaltungsapparatschik und einer übermächtigen Businessmaschinerie ausgesetzt. Die Mittel, das System zu bekämpfen und die eigene Ohnmacht zu besiegen, sind spärlich. Irgendwo findet sich immer ein Anwalt, der die Lücken im Rechtssystem erkennt und trägen Bürokraten und schläfrigen Gesetzesmachern ein Schnippchen schlägt.
Unten auf der Straße und in den Bienenwaben der Großraumbüros hetzen sich die Angestellten ab und kämpfen ums Überleben, während oben im höchsten Hochhaus der Schweiz eine Handvoll amoralischer Profiteure die Messer für den nächsten Dolchstoß wetzt.

Bei Ballard setzt sich im Kampf zwischen Upper Class und Underdogs die bestialische Natur des Menschen durch, Verdan dagegen lässt seine perverse Hautevolee mit verbalen Giftdöschen hantieren und ein tödliches Spiel von Dominanz und Unterwerfung spielen. Auf Erniedrigung geeicht, versuchen die perversen Player Schwächere aus dem Tower zu kicken und geilen sich daran auf, wie sich die Anwärter auf den elitären Club vergeblich abstrampeln. Challenge ist ihr Motor: „genau das ist unser Ding: sich das Unmögliche vorstellen, danach streben und dabei gegenüber dem öffentlichen Interesse völlig gleichgültig sein“.
Bei öffentlichem Interesse kommt einem natürlich sofort die Post in den Sinn. Was das bedeutet, wenn der Stellenabbau bei der Post radikal vorangetrieben wird, die Landbevölkerung kilometerweit zur nächsten Postfiliale fahren muss, montags überhaupt keine Post mehr geliefert wird, das Porto für Buchsendungen auf sage und schreibe 1,90 Euro steigt … Ups! Verdans Postler sind ja in der Schweiz! Nun hierzulande ist es auch nicht besser! Was das bedeutet, ist unschwer vorstellbar! Existenzen brechen zusammen, Perspektivlosigkeit treibt Unzählige in die Depression, die Selbstmordrate steigt und bei dem ein oder anderen auch der Durst nach Rache. Ein solidarisches Aufbegehren gibt es jedoch nicht bei Verdan, man duelliert sich, lauert sich auf. Im Dunklen, im Schatten braut sich das Unheil zusammen, aber auch ganz oben zwischen vier Glaswänden, da, wo Transparenz zur Schau gestellt wird. Eine Transparenz freilich, die keinem nützt, da das Geschehen so hoch oben stattfindet, dass die Basis ohnehin nicht hineinblicken kann in die Räume des Grauens!
Manchmal aber kommt es zu Schnittstellen zwischen Basis und Prime Tower. In Verdans Thriller ist das Coraline, eine Coachin, deren Bruder, ein Postangestellter, sich nach Restrukturierungsmaßnahmen das Leben nimmt.
Coraline beschließt, den Bruder zu rächen, indem sie einen Top-Manager der Post als Klienten gewinnt und dessen Karriere und Psyche zerstören will. Rache ist ein Motiv, das man gutheißen kann oder als archaisch und unethisch verdammen mag. Zumindest aber wohnt jedem Rachegelüst noch ein Fünkchen Menschlichkeit inne. Rächer sind motiviert von einer wenn auch höchstpersönlichen Auffassung von Gerechtigkeit. All ihr Handeln und Streben richtet sich darauf, den für Ungerechtigkeit und Unheil Verantwortlichen zu bestrafen oder auszulöschen. Coraline aber ist so verblendet von ihrem Rachegedanken, dass sie Kollateralschäden fraglos in Kauf nimmt und damit selbst ins Visier der Rächer gerät. Je mehr sie sich der Manipulation des Managers widmet, desto klarer erscheint ihre eigene Kaltschnäuzigkeit. Eine einsame Mutter, eine Zweierbeziehung, die mehr Schein als Sein ist, und eine Vergangenheit, in der bereits die narzisstische Perversion der Hauptfigur aufblitzt.
Die diabolische Rücksichtslosigkeit seiner Figuren symbolisiert Verdan mit der Zahl 666, die bereits in der Offenbarung des Johannes als das personifizierte Böse gilt. Wie ungeschickt aber auch, dass sich der Top-Manager von Coraline zu einer Stellenkürzung überreden lässt, die sich genau auf diese teuflische Zahl beläuft. Der Image-Schaden, die subliminale Reizung ist bei 666 doch vorbestimmt! Unser Schweizer Top-Guy aber rennt blindlings ins Verderben.

Das ist zynisch, zweifelsohne, aber auch satirisch, denn die Naivität des Managers und der manipulative Totalitarismus der Coachin wirken überzogen und unrealistisch. Dass Verdan Coaching nicht in seiner freikirchlich-religiösen Verzückung beschreibt, sondern die Gefahr des Ausgeliefertseins durch Manipulation aufzeigt, ist ein entscheidender Pluspunkt des Buches. Die Charakterisierung der Partner und Kontrahenten, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man sie sehen will, ist jedoch sehr schematisch. Die rächende Frau ist wieder einmal kinderlos, lieblos, selbstbezogen und verdeckt selbst unter dem Rachemäntelchen noch eigene Schandtaten. Der Manager hingegen ist eine liebe Lusche, der noch an Leistung und Sinnhaftigkeit seiner Tätigkeit glaubt, leider aber von seiner bösen Gattin gequält wird. Haarscharf schrammt Verdan zwar an der Klischeehaftigkeit vorbei, den Kitzel des Bösen, die Lust, dem wahrhaft Teuflischen auf die Spur zu kommen, weckt er jedoch ganz gewiss.
666 ist ein isopsephisches Rätsel. Ein Zahlenwert wird jedem Buchstaben des griechischen Alphabets zugeordnet. Das Böse ist eine Summe und sein Name muss einfach nur dechiffriert werden.
Bleibt nur noch die Frage: Was, wenn das Böse selbst den Namen entschlüsselt?
Hüte sich wer kann vor allzu obsessiven Coaches! Nicolas Verdan liefert uns mit seinem Thriller einen anständigen Warnhinweis vor allen, die wie Spinnen ihr Netz um uns weben und im Namen der Selbstoptimierung uns das Blut aus den Adern saugen!
- Nicholas Verdan: Die Coachin. Aus dem Französischen von Hilde Fieguth. Lenos Verlag 2020. 188 Seiten. 21 Euro.