Geschrieben am 1. Oktober 2020 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2020

wildnis, herzbewegt

Ingrid Mylo zu „Cloris“ von Rye Curtis

            Als Cloris vom Himmel fiel, am 31. August 1986, war sie 72 Jahre alt und mit ihrem Mann unterwegs zu einer Ferienhütte in den Bitterroot Mountains. Jetzt ist sie 92, lebt in einer Einrichtung für betreutes Wohnen und erinnert sich, wie das war: damals, als das kleine Propellerflugzeug in die abgelegenen Wälder der Bergregion von Montana stürzte. Als ihr Mann tot in einer Fichte hing und der Pilot mit zerbrochenem Schädel stundenlang schreiend und phantasierend vor sich hinstarb: bis ihm ein Schwall Fliegen aus Mund und Nase strömte und er roch wie ein verendetes Pferd. Als sie, die einzige Überlebende, sich schließlich aufrappelte und loszog, ohne Proviant, ohne Orientierung: aber mit dem unbeirrbaren Willen, einen Weg aus der Wildnis zu finden, von der sie weder wußte, wie weit sie sich erstreckte, noch, wie gefährlich sie war. Und wie rätselhaft. Was, zum Beispiel, hat es mit dem Holzstoßauf sich, der sich selbst zu entzünden scheint, und den wie aus dem Nichts auftauchenden Forellen am Spieß und dem Mann, der sein Gesicht mit einem T-Shirt verhüllt und immer dann in Erscheinung tritt, wenn sie am Ende ist, bereit, aufzugeben. An einem solchen Punkt hat sie, fiebernd und dem Tode nah, vorsorglich ihren Namen in einen Baumstumpf geritzt: zur späteren Identifizierung ihrer Leiche.

            Cloris und ihre  – auch weil in der ersten Person geschriebenen – erschreckend anschaulichen Erinnerungen sind das eine. Das andere ist eine Rangerin namens Debra Lewis: jedesmal, wenn sie auf den Plan tritt, wechselt die Erzählung in die dritte Person. Lewis, auf der Suche nach möglichen Überlebenden des Flugzeugabsturzes, hat’s nicht so mit sozialen Umgangsformen oder echten Emotionen, und andere Menschen sind ihr meist „scheißegal“. Ihr Ding ist eher die gottverdammte Flucherei. Und der Merlot, den sie aus Bechern trinkt, aus der Thermoskanne oder gleich aus der Flasche: manchmal schüttet sie sich auch etwas von dem Rotwein über ihre Uniform. Lewis ist eine Einzelkämperin par excellence, herrlich verknorzt und ein fast schon plakativer Kontrast zu der rechtschaffenen, mitfühlenden Cloris, die ihren Überlebenskampf auch dazu nutzt, sich mit den Fehlern und Schuldgefühlen und Vorurteilen ihres bisherigen Lebens auseinanderzusetzen. Und die nach ihrem Abenteuer, anders als davor, Milde walten läßt gegen die wie auch immer gearteten Eigenheiten anderer. Auch gegen jenen Mann mit dem T-Shirt über dem Kopf, der möglicherweise der Arizona Kisser ist, ein polizeilich gesuchter Kinderschänder und Mörder: ohne dessen Hilfe Cloris jedoch rettungslos verloren gewesen wäre.

            Die berauschend bildhafte Sprache, derer sich Rye Curtis bedient, verwandelt die Sätze in dreidimensionale Landschaften: man liest sie nicht, man wandert darin umher wie in fremden Träumen: und begegnet unentwegt exzentrischen Charakteren. Als da wären: der selbst bei Eis und Schnee nur mit Tauchermaske und Badehose bekleidete Eric, der sich gern kopfüber in einen Baum hängt. Silk Foot Maggie, die aus Müll und Wachs und Tierskeletten himmelschreiende Kunstwerke fertigt und in der Gegend verteilt. Eine im vorletzten Jahrhundert vergewaltigte Frau, die ursprünglich ein Mann aus Schweden war und deren nachtaktiver Geist jetzt auf einer Schildkröte durch die Wälder reitet. Eine andere Frau, die sich über ihrem Steißbein das Porträt ihres totgeborenen Sohnes hat tätowieren lassen. Ein Mann vom Rettungsdienst, der sich ständig die Hände mit Kreide einreibt und überall staubige Abdrücke hinterläßt. Und wenn es gerade paßt, und es paßt eigentlich oft, machen diese seltsamen Vögel einander die denkwürdigsten Geständnisse.

            In diesem an Skurilitäten nicht gerade armen Werk findet sich neben einem beinlosen und deshalb in eine Vase gestopften Chihuahua, einem Lagerfeuer in der Brust eines verwesten Dickhornschafes und einer anwachsenden Skulptur aus Cloris Fäkalien am Rand einer Fledermaushöhle auch eine Theorie über den Grund der Verunsicherung der jungen Generation und eine gelungene Erklärung dafür, warum Paare mittleren Alters unbedingt auf eine Kreuzfahrt aus sind. Doch all der ausgesucht bizarren Gestalten und Vorkommnisse zum Trotz hat der Roman von Rye Curtis etwas Grundgemütliches: je tiefer man hineingerät, desto mehr hat man das Gefühl, mit guten Freunden um ein Lagerfeuer zu sitzen und den Schauergeschichten zu lauschen, die die Runde machen und von Verlusten handeln und vom Glauben an die Menschen.

© 2020  ingrid mylo

Rye Curtis: Cloris (2020). Aus dem Amerikanischen von Cornelius Hartz. C.H. Beck, München 2020. 351 Seiten, 24 Euro.

Ingrid Mylo lebt in Kassel. Ihre Texte bei uns hier. Ihre Bücher:

Kaffeeblüten. Prosa, Verlag Jenior & Pressler, Kassel 1994.
Apropos Katherine Mansfield. Essay, Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1998.
Das Treppenhaus. Prosa, Das Arsenal, Berlin 2004.
Männer in Wintermänteln. Prosa, Das Arsenal, Berlin 2009.
Masken und Mandarinen. Fotos von Frank Horvat. Prosa, Gedichte, Edition Off, Paris 2009.
Zerlesene Träume. Gedichte mit Druckgrafik, AQUINartepresse, Kassel 2009.
Krähenspäne. 41 Gedichte, AQUINartepresse, Kassel 2011.
Das 100-Tagebuch. Documenta (13). Zusammen mit Felix Hofmann. Verlag getidan, Berlin 2015.
Kleine böse Absichten. Zusammen mit Peter Olpe (Illustr.). Verlag Johannes Petri/ Schwabe, Basel 2015
Zufälliges Blau / Verdichtungen. Prosa, Essays, Feuilletons. Verlag Das Arsenal, Berlin 2018 – Besprechung von Georg Seeßlen hier.

Ihre Internetseite und eine vollständige Bibliografie hier.

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