Geschrieben am 1. Juni 2020 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2020

Ziemowit Szczereks „Sieben“

Surrealistischer Polski Blues: Ist dies der Staub Pompejis oder schon die Post-Apokalypse?

Ziemowit Szczereks „Sieben“ liefert eine bizarre Assoziationskette zur polnischen Malaise, die sich beim Road Trip entlang der Schnellstraße 7 zwischen Krakau und Warschau ergibt: In seinem Opel Vectra jagt der polnische Fake News-Journalist Pawel zu einem Termin nach Warschau und erlebt in Hunter Thompsons Gonzo-Stil einen Höllentrip,  bei dem er zwischen einigen Unfällen und vollgedröhnt mit Hexer-Drogen über polnische Trash-Architektur, den wilden Osten und den verkorksten polnischen Nationalcharakter  schwadroniert. – Von Peter Münder

Ausgerechnet zu Allerheiligen und einen Tag nach Halloween ist Pawel auf der „Sieben“, der „Königin unter Polens Straßen“ zu diesem Termin in Warschau unterwegs: Überall inhaliert er das Stearin brennender Friedhofskerzen, ihm schwant auch, dass nun Geister und verblichene Ahnen aus ihren Höhlen kriechen und das Land für ein halbes Jahr in Besitz nehmen werden. Mit diesen ersten Sätzen sind wir schon im dialektischen Prozeß, den Szczerek in Gang setzen will: Es ist ein munteres, respektloses Sinnieren und Assoziieren, das sich um den Zustand Polens dreht. Wie beim Pavlovschen Stimulus-Response-Experiment löst „Sieben“ Reflexe beim Betrachten einer vorbeirauschenden Dritte-Welt-Szenerie mit Schrottbuden und verdreckten Nestern aus, auf denen der Staub Pompejis liegt. Eigentlich mag Pawel ja „dieses geisterhafte Schlammgeschmatze, während zerlumpte slawische Gottheiten und verlotterte slawische Dämonen der Erde am nächsten sind“. Aber Polen hat dieses dunkle Geschmatze noch nie in den Griff bekommen, grübelt Pawel, noch nie hat es sich selbst eine Form, ein Erscheinungsbild geben können. Aber welche Form, was für ein Erscheinungsbild ist gemeint? Der Schlingerkurs zwischen ästhetischen und politischen Kategorien ist hier wohl systemimmanent: Denn Pawels volle Dröhnung, sein auf blitzartiges Abrufen von Stichworten fixiertes  Brainstorming gibt nicht mehr her.  

 Diese Fixierung auf den Unterschied von Schein und Sein, von Fake und Fakt treibt ihn zwar um, aber eine stringente Analyse, die mit etwas Tiefenbohrung verbunden wäre und  sich nicht nur auf etliche Phänomene flüchtig kapriziert, kann und will der Fake News-Spezialist nicht liefern.

 „Du sitzt also am Steuer“, erklärt Pawel dem Leser, und macht klar, dass er keineswegs ein Analytiker oder Entlarver von Fake News ist, sondern im Gegenteil klickfähige Titel für ein „Online-Informationsportal“ fabriziert: „Alles für die Klickung (lat. clicalitas)“, damit der unique user klickt, dass es reinhaut“. Bierernstes Akademiker-Dozieren ist jedenfalls nicht seine Sache: Mit dieser ironisch-sarkastischen Erzählperspektive sorgt Vectra-Fahrer Pawel für einen lockeren Sog, der fast suggerieren könnte, hier mit Olli Dietrich an der Currywurst-Bude über den Niedergang des HSV zu plaudern. Doch hinter dem harmlosen Vexierbild, verdeutlicht Pawel, steckt  die perfide Fake-Fabrikation: „Wenn es polnisch-deutsche NATO-Manöver bei Stettin gibt und die Soldaten eine Flussüberquerung trainieren, titelt ihr in der Redaktion: Deutsche Armee überschreitet auf Pontonbrücken die Oder. Eins a. Haut rein.. Alles klar, Pawel, das haut rein und gibt Klicks ohne Ende…“das ist diffizile Feinarbeit, dieses Schlagzeilendrechseln“, mokiert er sich sarkastisch- selbstironisch: Apokalypse, Holocaust, Weltuntergang mit Schwerpunkt Polen, der Untergang Polens – das alles  sei ein Clicalitas-Paradies – „Mars-Attacken, Viren, Putins ­– alles haut rein“. Oder auch, wie schon die alten Römer jubelten: „Habemus Clicalitas“!  

Ziemowit Szczerek, Jahrgang 1978, hat „Sieben“ bereits 2014 veröffentlicht, es ist jetzt von Thomas Weiler aus dem Polnischen (absolut brillant !) übersetzt worden. Szczerek hat Jura und Politikwissenschaft studiert und Hunter Thompsons berühmte Reportage über das Kentucky Derby („The Kentucky Derby is decadent and deprived“ von 1970) ins Polnische übersetzt. Seine fiktive  ukrainische Reisereportage von 2013 „Mordor kommt und frisst uns auf“, in der er die Klischees über den nationalistischen Wilden Osten aufs Korn nahm, wurde  mit dem Paszport-Preis der „Polityka“ ausgezeichnet.   

Ein Volk der Risikofreudigen?

Scherz, Satire, Ironie flackern nicht nur auf, wenn Opel-Fahrer Pawel den Kamikaze-Fahrer Kowalski im Road-Movie „Vanishing Point“ erwähnt: Der war für seine irre Wettfahrt (2000 km nach SF in  15 Stunden) zwar im Dodge Challenger (7,2 Liter Hubraum, 400 PS) unterwegs, aber Pawel vergleicht sich mit ihm, weil die Polen ja ein Volk der Risikofreudigen seien: „Reckless Poles“, wie Kowalski eben. Ganz abwegig ist der Vergleich ja nicht: Pawel jagt den Vectra in den Graben und fackelt ihn ab, um seine Spuren zu verwischen, dann klaut er noch einen nicht ganz unauffälligen goldfarbenen Mercedes. Und er duelleiert sich mit ehemaligen polnischen Königen im Pappmaché-Schloss. Außerdem hat er ja dieses bunte Drogen-Sortiment von einem Tramper gefunden, mit dem er sich die volle Dröhnung gibt. Das als Bonus-Mitgift noch eine Pistole enthielt, mit der Pawel dann auch dilettantisch herumballert.

Wen wundert es also, wenn schließlich historische Figuren wie Kasimir der Erneuerer,  König Jan III., August III. oder Mieszko I. (ca. 945-992), der erste Herrscher Polens, kurz auftauchen und wieder  in diesem Panoptikum verschwinden? Oder wenn Pawel schließlich mit dem „Schwarzen Fürsten“ bei reichlich Wodka über Polen als „Opfer einer großen Verschwörung“ spekuliert, die Rolle der Hethiter als erste wahre Polen erörtert  und die Lechiten als ideale Großmacht als Staat der Mitte  verherrlicht? 

Zum Schluss wird man wieder mit der  „Fake oder Fakt“?-Frage konfrontiert: Offenbar marschieren die Russen nun in Polen ein, denn Pawel fährt an russischen Militär-Lkws vorbei und einige Häuser brennen bereits – doch es bleibt fraglich, ob Pawel noch halluziniert, vollgedröhnt ist oder noch träumt.  

Wer „Sieben“ als anregendes Ratespiel akzeptiert, in dem ironisch und  spekulativ-spielerisch mit den Parametern nationaler Kategorien umgegangen wird, kann das Polen-Enigma vielleicht am besten verarbeiten.  

PS: Übrigens hatte der großartige polnische Reporter Ryszard Kapuscinsky („Afrikanisches Fieber“, „Imperium“) einmal erklärt, dass er seine abenteuerlichen Reisen nach Asien, Afrika und Südamerika nur so gut überstehen konnte, weil er Pole war: „Die Dritte Welt, das bin ich selber. Ich verstehe, was in San Salvador, im Iran oder in Äthiopien passiert, weil ich ein Pole bin.“  

Peter Münder

  • Ziemowit Szczerek: Sieben. Das Buch der polnischen Dämonen (Siódemka, 2014). Aus dem Polnischen von Thomas Weiler. Verlag Voland &Quist, Berlin 2019. 271 Seiten, 22 Euro.

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