Geschrieben am 8. März 2014 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Zoë Beck über Buchanfänge

zoe_beck_porträtIlsebill salzte nach.

Letztens stieß ich eine kleine Diskussion darüber an, wann man als LeserIn ein Buch weglegen kann oder darf, wie auch immer. Meine etwas harsche Behauptung, man könne bereits anhand der ersten Seite entscheiden, ob man ein Buch weiterlesen wolle, wurde natürlich bemäkelt, und ich denke – falsch verstanden. Es hieß, wenn gleich auf den ersten Seiten Spannung sein müsse, dann würde doch nur noch Einheitsbrei herauskommen, es gäbe keine Experimente mehr, keinen Individualismus.

Genau das meine ich nicht. Es ist das Immergleiche, das mich vom Lesen abhält. Die Schablone vom Prolog, in dem lautlos durch den Wald geschlichen und anschließend getötet wird, dem ersten Kapitel mit dem Ermittleralltag. Ich habe zehn Krimis in die Hand genommen, weil ich etwas Neues lesen wollte, und ich fand nichts. Und jetzt räume ich meine Bibliothek aus und suche erste Sätze, so etwas wie „Ilsebill salzte nach“ (Günter Grass), so etwas wie „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“ (Franz Kafka). Etwas, bei dem ich weiterlesen will. Nicht, weil jemand lautlos herumschleicht (wie geht das eigentlich im Wald?) und jemanden tötet. Das interessiert mich nicht. Das ist nicht wirklich spannend.

Es ist der Stil einer mittelmäßigen Übersetzung aus dem Englischen, der um sich gegriffen hat und offenbar davon abhält, zumindest im Genrebereich eine eigene Sprache zu finden. Interessante Sätze zu schreiben. Spannung auch ohne Blutlachen und Folterschreie zu erzeugen. (Anm. in eigener Sache: Natürlich gehe ich nicht davon aus, dass ICH das kann, nur weil ich zufällig auch Bücher schreibe. Ich lerne auch noch. Und gern immer mehr dazu.)

Mein Streifzug durch zufällig ausgewählte Bücher war sehr ergiebig, und ich wusste dann auch gleich wieder, warum ich sie mir angeschafft habe – wegen des ersten Satzes. Ich lese nämlich wirklich immer erst rein.

beck_theater_1Wenn die Uhr dreizehn schlägt …

Fangen wir mit einem Klassiker an: „It was a bright cold day in April, and the clocks were striking thirteen.“ (Nineteen Eighty-four, George Orwell) Gut, erst mal mit Wetter und Datum einsteigen, na ja, aber dann – dreizehn Mal schlägt die Uhr? Welche Uhr schlägt dreizehn Mal, und warum? Schon will ich wissen, was los ist.

Gleich an der Angel hängt man auch hier: „Hale knew, before he had been in Brighton three hours, that they meant to murder him.“ (Brighton Rock, Graham Greene) Da stand ich in Frankfurt am Hauptbahnhof in der Buchhandlung und wollte eigentlich nur so vor mich hinblättern, eigentlich-eigentlich wollte ich mich aufwärmen, und ganz sicher wollte ich kein Buch kaufen. Hab ich dann trotzdem.

Sehr schön sind die Anfänge von Don Winslow: „The baby is dead in his mother’s arms.“ (The Power of the Dog) Heftiges Bild. Wenn man weiß, wie es weitergeht, ein irgendwie friedliches Bild sogar.

Bei Savages beginnt er mit: „Fuck you.“

Und selbstreferentiell, weil sich die Bücher ja aufeinander beziehen, beginnt er The Kings of Cool mit „Fuck me.“. Das kann schnell billig werden, aber er weiß, was er da tut, und warum.

Elmore Leonard reißt gleich eine Lebensgeschichte in Satz 1 von Out of Sight an: „Foley had never seen a prison where you could walk right up to the fence without getting shot.“ Der Mann ist nicht zum ersten Mal in einem Gefängnis. Und er gehört wohl nicht zu denen, die dort arbeiten. Will ich mehr wissen? Oh ja.

Ian Rankin steigt gewohnt lakonisch ein bei seinem Roman Standing By Another Man’s Grave und bezieht sich da auch direkt auf den Titel: „He’d made sure he wasn’t standing too near the open grave.“

Ruth Rendell beginnt mit einer abergläubischen Figur bei Kissing the Gunner’s Daughter: „The thirteenth of May is the unluckiest day of the year.“ Nicht nur abergläubisch, sondern besonders abergläubisch. Wir erfahren, dass der 13. noch schlimmer ist, wenn er auf einen Freitag fällt usw., und – mit dieser Figur ist schon mal irgendwas ganz schräg.

Ebenso mit Minty aus Rendells Adam and Eve and Pinch Me: „Minty knew it was a ghost sitting in the chair because she was frightened.“ Nicht einfach nur: Huh, da sitzt ein Geist! Sondern die deutlich ungewöhnliche Schlussfolgerung, dass es sich um einen Geist handeln muss, weil man – erschrocken ist …

beck_theater_2… die Taube mit der Ratte kämpft …

Michael Robotham hat es da in Say You’re Sorry lieber handfest und unmissverständlich: „My name is Piper Hadley and I went missing on the last Saturday of the summer holidays three years ago.“ Da erzählt jemand die eigene schreckliche Geschichte? Und ist das wirklich alles so klar? Weiterlesen – um im nächsten Satz zu erfahren, dass nichts, was man sich im ersten Moment gedacht haben mag, zutreffen soll … Da wird aus dem mal eben Reinlesen doch gleich eine längere Sitzung.

Josh Bazell legt im ersten Satz von Beat the Reaper noch so viel mehr fest, den verplauderten Ton des Erzählers (das „So“ am Anfang, das Ausrufezeichen …), das Ziel des Erzählers (Arbeit), die Jahreszeit (Schnee), das Setting Großstadt (Tauben, Ratten, Überfall), dass der Erzähler sich für Abseitiges interessiert (er bleibt stehen, um Taube und Ratte zuzusehen? Aha?): „So I’m on my way to work and I stop to watch a pigeon fight a rat in the snow, and some fuckhead tries to mug me!“ Hier noch der Folgesatz: „Naturally there’s a gun.“ Natürlich!

Wer es lieber auf andere Art verplaudert mag – Agatha Christie zeigt bis heute, wie es solide-konventionell geht. Uhrzeit, Jahreszeit, Ort. „It was five o’clock on a winter’s morning in Syria.“ Erst mal umschauen, wo wir sind, bevor es mit dem Murder On The Orient Express losgeht. Da macht man nichts falsch. Da langweilt man höchstens ein bisschen.

Elizabeth George hatte, jedenfalls bei ihren ersten Romanen wie A Great Deliverance, noch den Anspruch, möglichst verstörend einzusteigen: „It was a solecism of the very worst kind.“ Das will ich doch wissen, was war denn da so ungehörig? „He sneezed loudly, wetly, and quite unforgivably into the woman’s face.“ Komik und Pein, zumal sich dann noch herausstellt, dass ein Priester … Guter Einstieg. Wiegt einen in völliger Ahnungslosigkeit angesichts dessen, was am Kapitelende enthüllt wird.

beck_theater_3… und wir alle mies drauf sind.

Bei Taiye Selasi stirbt gleich jemand im ersten Satz, ohne dass es sich bei Ghana Must Go um einen Kriminalroman handelt, und es wird ganz poetisch gestorben: „Kweku dies barefoot on a Sunday before sunrise, his slippers by the doorway to the bedroom like dogs.“

Überhaupt tut es ja gut, abseits des Genres herumzulesen, und bei Joshua Ferris‘ Then We Came To The End hält der Vorwurf, das Bemühen um einen guten ersten Satz, eine gute erste Seite würde die Kreativität und individuelle Entwicklung der SchriftstellerInnen beschneiden, keine drei Sekunden: „We were fractious and overpaid.” Mies drauf trotz Überbezahlung? „Our mornings lacked promise, at least those of us who smoked had something to look forward to at ten-fifteen.” Das ist so absurd, da bleibe ich dran.

Verstörend – was sonst – natürlich auch der Einstieg in Orlando von Virginia Woolf: „He – for there could be no doubt of his sex, though the fashion of the time did something to disguise it – was in the act of slicing at the head of a Moor which swung from the rafters.“ Sofort wird die Geschlechteridentität in Frage gestellt, indem sie scheinbar nicht in Frage gestellt wird. Das Thema des Buchs im ersten Satz. Und warum drischt er auf diesen Kopf ein? Und wieso … Ja. Genau. An der Angel.

Um beim Verstörenden zu bleiben – was ja dann auch gleich die Welt des Romans, mehr noch, das Universum des Fforde’schen Werks antippt: „Making one’s home in an unpublished novel wasn’t without its compensations.“ So beginnt The Well Of Lost Plots. Wer sich nicht aus der Realität heraustraut, klappt hier gleich das Buch zu. Alle anderen wollen mehr über das Leben in einem unveröffentlichten Roman wissen, und warum es seine Vorteile hat.

In seltsamen Welten …

Der Hinweis auf eine Welt, in der einiges anders ist, springt einen auch bei The Wasp Factory von Iain Banks an. „I had been making the rounds of the Sacrifice Poles the day we heard my brother had escaped.” Opferstangen? Und jemand verschwindet? Bin ich dabei. Zumal, wenn es mit dieser Selbstverständlichkeit, mit dieser Nebensächlichkeit erzählt wird. Opferstangen. Hat man ja einfach mal so im Garten.

Bleiben wir noch kurz bei seltsamen Welten, Magnus Mills hat so eine in The Scheme For Full Employment: „Of course, if this had been any other country The Scheme would still be going today.“ Was ist das für eine Sache, warum funktioniert sie nicht, und – wo sind wir eigentlich? (Nicht, dass diese Frage zufriedenstellend beantwortet werden würde, aber es ist ja auch Magnus Mills.)

Irvine Welsh hingegen erklärt im ersten Satz von Trainspotting ganz ohne Ortsangabe, dass Schottland erzählt wird. Und dass es unappetitlich wird. Und dass jemand, der Sick Boy genannt wird, mit Sicherheit auf so einigen Ebenen sick ist: „The sweat wis lashing oafay Sick Boy; he wis trembling.“

Ganz schlicht und klar und trotzdem interessant kann es Neil Gaiman, in Neverwhere heißt es da: „The night before he went to London, Richard Mayhem was not enjoying himself.“ Okay, der Typ hat keinen Spaß – aber warum nicht? Wo ist er, wenn er noch nicht in London ist? Was will er in London? Wird er da mehr Spaß haben? Geht es überhaupt um Spaß?

beck_theater_4… mit und ohne schwere Kindheit …

Der Klassiker des verstörenden Romaneinstiegs ist natürlich Salingers The Catcher in the Rye, der sich auf den Klassiker des Romaneinstiegs bezieht, nämlich David Copperfield von Charles Dickens. Hier der Reihe nach:

„If you really want to hear about it, the first thing you’ll probably want to know is where I was born, and what my lousy childhood was like, and how my parents were occupied and all before they had me, and all that David Copperfield kind of crap, but I don’t feel like going into it, if you want to know the truth.“

Und Dickens, ein Satz mehr:

„Whether I shall turn out to be the hero of my own life, or whether that station will be held by anybody else, these pages must show. To begin my life with the beginning of my life, I record that I was born (as I have been informed and believe) on a Friday, at twelve o’clock at night. It was remarked that the clock began to strike, and I began to cry, simultaneously.“

beck_theater_5… schleicht der Mörder lautlos durch den Wald.

Ganz egal also, welches Genre, ganz egal, ob Menschen sterben oder geboren werden oder sich verlieben oder gar keine Menschen, sondern nur Romanfiguren in einem Roman über einen unveröffentlichten Roman sind – ich will, vielleicht nicht immer im ersten Satz, aber doch auf der ersten Seite angelockt werden. Ich will nicht das Gefühl haben, dass Schema F bedient wird, selbst wenn auch das mal originell ausfallen kann. Natürlich kann die gefolterte Frau auf ungewöhnliche Weise vor Schmerz schreien. Oder der Psychopath auf bisher nie dagewesene Art im Wald oder auf Parkplätzen herumschleichen. Bestimmt. Ich will dann aber gleich von Anfang an merken, dass ich etwas anderes, etwas Besonderes in der Hand habe.

Und jetzt muss ich aufhören. Hier liegen noch ein paar Bücherstapel, und ich will die ersten Seiten lesen. Mindestens.

Zoë Beck

Zoë Beck ist Autorin (zu ihrer Homepage geht es hier) und Verlegerin des Digitalverlags CulturBooks (mehr hier). Porträtfoto: © Victoria Tomaschko. Fotos: © Zoë Beck.

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