Schreiben Sie das mal auf!
Über was sollen Kriminalschriftstellerinnen schreiben? Viele Leute wissen Rat und Tat und wollen helfen, aber das ist so eine Sache …
Eine fast wahre Begebenheit und was daraus folgt. Von Zoë Beck
Mein Nachbar, Herr Dr. Müller-Böhne (wie er in Wirklichkeit gar nicht heißt), ist von Beruf Richter. Er hat eine hübsche Wohnung in einer ruhigen Gegend, ist glücklich verheiratet und fährt ein großes Auto. Herr Dr. Müller-Böhne scheint aber was auf dem Herzen zu haben. Was das genau ist, könnte wahrscheinlich seine Frau ganz gut in Worte fassen, aber die verdreht lieber die Augen und geht eine Runde um den See joggen, wenn es mal wieder so weit ist, dass das Herz von Herrn Dr. Müller-Böhne schwer wird. Dann nämlich drückt er sich so lange auf dem Flur vor meiner Wohnung herum, bis ich Erbarmen habe und zu ihm rauskomme. Nein, er klingelt nicht, so aufdringlich will er dann doch nicht sein. Er drückt sich einfach nur rum, blättert in Werbeblättchen und Bekanntmachungsflyern, durchwühlt meine ausgesetzten Bücher, solche Sachen.
Wie gesagt, ich habe meist Erbarmen und komme auf den Flur raus.
„Aaah, Fräulein Beck, ja ja, was macht die Schreiberei?“, fragt er dann.
„Gut, danke, und die Verknackerei?“, frage ich dann.
„Wie sterben denn diesmal die Leute in Ihrem Buch?“, fragt er.
„Och, ganz unterschiedlich.“
„Und wie viele Leichen haben Sie so?“
„Die ein oder andere kommt schon mal vor.“
„Und kennt man gleich den Täter in Ihren Büchern oder erst auf der letzten Seite?“
„Sie könnten ja mal eins lesen“, sage ich.
„Sie könnten ja mal eins in Ihrer Bücherkiste aussetzen“, sagt er.
„Ich hab aber keine zum Verschenken“, sage ich, weil ich seit meinem Einzug sein indirektes Gebettel um ein Buch von mir ignoriere.
Säure!
„Ich hab da ja so eine Idee“, sagt er, und seine Frau, die gerade vom Laufen zurückkommt, verdreht die Augen und joggt zu ihrer Wohnung, ohne stehenzubleiben. „Letztens hatten wir da einen Fall, ich kann Ihnen sagen. Da hat doch tatsächlich ein Mann seine Frau mit Säure übergossen. Ich sag Ihnen: Säure! Kann ich Ihnen alles drüber erzählen. Müssen Sie unbedingt mal drüber schreiben.“
„Nee, Säure steht jetzt gerade nicht so weit oben auf meiner Liste“, sage ich.
„Ist aber interessant“, sagt er. „Wenn Sie da mal Hintergrundinfos brauchen, fragen Sie mich.“
Ich nicke nur.
„Und auch sonst, Sie glauben ja gar nicht, was ich schon alles für Fälle auf dem Tisch hatte.“
„Doch doch“, sage ich, weil ich viele Juristen kenne, die immer Stoff unter der Überschrift „Das musst du unbedingt mal aufschreiben“, Untertitel: „Das reicht locker für eine ganze Krimiserie“ für mich haben.
Seine Frau ruft von oben: „Tristan, jetzt komm halt.“ Er gehorcht, dreht sich aber auf der Treppe noch mal zu mir um und sagt: „Säure, wenn Sie da mal …“
„Gerne. Sie sind der Erste, den ich nach Säure frage“, sage ich höflich.
Man gewöhnt sich ja dran. Im Grunde machen es fünfzig Prozent der Leute, die man trifft. Oder mehr? Sie sagen einem, worüber man unbedingt schreiben soll bzw. muss. Sie haben harten Stoff auf Lager, tolle Geschichten vom Dorf, aus der Nachbarschaft oder manchmal auch nur aus der Zeitung. Es sind immer spannende, aufregende, unerhörte Geschichten, aber keine Krimis. Obwohl jemand durch Fremdeinwirkung spektakulär zu Tode kommt.
„Sie können das verwenden“, heißt es oft. „Ich schenke Ihnen diese Geschichte.“
Ich sage: „Danke, aber wenn, dann ist es ja wohl Ihre Geschichte. Sie müssen die aufschreiben.“
„Das kann ich nicht.“
„Dann lernen Sie’s doch einfach. Das geht.“
„Aber warum wollen Sie denn nicht …“
„Ich schreibe nun mal eher andere Geschichten.“
Das Echte
Mir ist zum Beispiel nicht so wichtig, wie jemand umkommt. Eher warum. Vielleicht ist das ein Fehler, wenn sich so viele Leute so sehr an dem Wie aufreiben. Aber das Interesse an wahren Geschichten, daran, diese weiterzugeben über Generationen, das ist natürlich der Ursprung von dem, was wir hier machen, wenn wir Bücher schreiben. Der Klang der Wahrheit reizt immer noch die meisten Menschen, was den Erfolg von Ferdinand von Schirach wohl zusätzlich erklärt. Was vielleicht auch erklärt, warum so viele Richter, Anwälte, Polizisten in der Rente anfangen, das aufzuschreiben, was sie erlebt haben. Einerseits wohl, um es loszuwerden, aber doch auch, um den Leuten mitzuteilen, welche Abenteuer sie selbst erlebt haben, welche Drachen besiegt wurden, wie sie die Prinzessin aus dem Turm gerettet haben, wie sie dem Kerker entkommen sind, oder – wenn sie nicht die Hauptfigur sind – welche Bösewichte da draußen die Welt bedrohen.
Wie gesagt, jeder muss seine Geschichten selbst erzählen. Und es kann nur dann zu meiner Geschichte werden, wenn sich in mir etwas regt, wenn sie mich packt und ewig nicht mehr loslässt. Wenn die Fantasie das Erzählte immer weiterspinnt. Dann kann ich selbst mit dem Stoff arbeiten, dann ist es der Funken, den es gebraucht hat für das nächste Buch (ob man die Dinge, über die man schreibt, nun erlebt haben muss oder nicht, darüber kann man noch mal gesondert nachdenken).
Das Gemachte
Letztens zum Beispiel hatte ich in eine Folge „Law and Order“ reingeschaut, musste aber weg, bevor sie zu Ende war. Einerseits hat es mich genervt, weil ich nicht wusste, wie sie ausgeht. Andererseits: Es sind doch auch nur Drehbuchautoren und Produzenten, die zusammensitzen und sich das Ende ausdenken. Wird der Schuldige nun überführt oder nicht? Kommt die Staatsanwältin mit ihrem Gewissenskonflikt klar? Man geht nämlich oft genug auch an die Fiktion so ran, als wäre es die Realität. Man muss sich erzählen lassen, wie es ausgeht.
„Law and Order“ geht nicht immer gut aus, oft genug bleibt das Ende offen oder soll einen kritischen Blick auf ein unzureichendes Rechtssystem ermöglichen, wie auch immer. Man kann sich also nicht mit der Rosamunde Pilcher-Dramaturgie retten und sagen: Ach, die heiraten am Ende bestimmt, und der Böse stirbt. Die Geschichte blieb also noch eine Weile bei mir, ich dachte mir drei, vier, fünf Enden aus. Und schon sind wir mitten im kreativen Prozess. Statt mir erzählen zu lassen, wie es ausgeht, spinne ich selbst an den Fäden herum. Wie schiebe ich die Figuren von A nach B, wem soll wie poetic justice widerfahren, wenn überhaupt? Und warum sollte mein Ende irgendwas mit der Realität zu tun haben? Oder die Geschichte, die mich letzten Endes interessiert? Sagen Sie mal zu irgendeinem Lektor auf diesem Erdboden: „Aber diese Szene, die ich umschreiben soll, die war in echt ganz genau so, hab ich selber miterlebt!“ Dann hören Sie nur: „Schön. Passt aber nicht zur Figur. Ist dramaturgisch unbrauchbar.“ Oder so ähnlich. Erzählungen haben andere Regeln. Oder was dachten Sie, warum die Jungs am Lagerfeuer immer die größten Drachen schlachten? Weil ein Kaninchen nicht so viel hermacht.
Wenn ich mir so eine TV-Folge ansehe und merke, dass mich ein übergeordnetes Thema oder der Konflikt einer Figur interessiert, beiße ich daran eine Weile herum und schaue, ob sich daraus etwas Eigenes entwickelt. Wenn ich in der Zeitung etwas lese, was mich betroffen macht, dann kann daraus etwas entstehen.
Aus Herr Dr. Müller-Böhnes Säureanschlag entwickelt sich leider so gar nichts.
Ich rede mit seiner Frau. Eigentlich redet sie mit mir.
Ich sage nur „Hallo“, und sie sagt: „Ist es schlimm mit ihm?“
Ich sage: „Neiiiiiin! Wieso?“
Sie sagt: „Ah, verstehe.“ Dann schaut sie mich nur an und trippelt ein bisschen auf der Stelle.
„Er muss das alles selbst aufschreiben“, sage ich endlich.
Sie nickt. „Will er auch. Traut er sich nicht.“ Dann verdreht sie die Augen und joggt los.
Zoë Beck
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