Geschrieben am 3. Juni 2018 von für Litmag, News, TABUMAG

Agata Norek: Die „Schutzschilde”

Bild: Christian Rudolf Noffke
Agata Norek: Enttabuisierung durch Kunstobjekte – Die „Schutzschilde”

Es gibt Tabus, die man aus Rücksicht auf Andere, gleichzeitig aber auch zur eigenen Sicherheit besser weder anschauen noch ansprechen sollte. Wenn möglich, wäre es am besten, wenn man von ihnen gar nicht hörte oder wüsste. So wie es die drei berühmten japanischen Affen, die ihren Ursprung in einem japanischen Sprichwort „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“ haben, symbolisieren.

Wenn diese drei Affen in diesem Augenblick an die gleichen Tabus denken würden wie ich, so würde ich mich ihnen solidarisch anschließen und meinen Mund und meine Augen und Ohren bedecken. Ich sollte von diesen Affen lernen, denn letztens habe ich eine Tabu–Grenze einer mir bekannten Frau überschritten.

Durch diese Situation aus meinem Privatleben erinnerte ich mich an Tabus, die enthüllt und ans Tageslicht gebracht, verletzen, zu Unruhe und Verwirrung führen und absolut unnötige Enttäuschungen verursachen. Tabus, die, sobald man sie aus dem Geheimen herausholt und aus der Intimität und Geborgenheit entnimmt, das Ungute hervorrufen und sich wie üble und ungewollte Klone vermehren, sodass man dessen giftige Stärke weder stoppen noch dessen Schäden reparieren kann, solche Tabus sollten lieber nicht ans Tageslicht kommen. Weder dienen sie, noch helfen sie – vor allem nicht, wenn sie nicht die Allgemeinheit, sondern eine gezielte Person betreffen. In künftig ähnlichen Situationen habe ich vor, rechtzeitig an den Affen mit den bedeckten Lippen zu denken und mich an den Wert der geheimen und verborgenen Tabus zu erinnern.

Manche unausgesprochenen Tabus können dem Vertrauen, der Bindung und der Solidarität dienen. Sobald sie die Grenze der geborgenen Sicherheit überschreiten, verwandeln sie sich von einer zärtlichen Blume in einen blutig stechenden Kaktus.

Das ist die eine Sorte von Tabus. Die Sorte, an welcher man die eigene Willens- und Charakterstärke üben kann. Solche Tabus besitzen nämlich die verführerische Kraft einer Selbstprüfung. Sie können uns anregen, fordern und beweisen, wie viel Vertrauen wir verdienen. Der Umgang mit Tabus, die verschwiegen und „übersehen“ werden sollten, ist eine hohe Kunst der Manieren, des Taktes, des Mitgefühls und der Feinfühligkeit. Das Wissen über solche Tabus kann stärken, während der ungeschickte Umgang damit zur Falle wird.

Eine weitere Sorte von Tabus sind die, welche ganze Nationen und Bevölkerungsgruppen vereinen, die zum Zugehörigkeitsgefühl beitragen, weil zum Beispiel etwas getan werden soll oder nicht getan werden darf. Sonst verstößt man gegen das Heiligtum, die Unberührtheit, einen höheren Wert.

Die Tabus, die aus Angst vor Anarchie, Destruktion und Gewalt nicht gebrochen werden dürfen, erfüllen die Funktion eines Schutzschildes. Sie beschützen, behüten. Dies sind Tabus, die unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit schützen, wie zum Beispiel das Tabu des Inzests, Kindesmissbrauchs und die vielen anderen Formen der Gewalt.

Es gibt aber auch Tabus, die verlangen genau das Gegenteil. Solche Tabus zu brechen, ist nicht ein Zeichen von Schwäche, sondern Beweis des Mutes und der Stärke. Sonst nährt sich das Böse mit dem Bewahren des Geheimnisses und der Verschwiegenheit.

Was passiert, wenn ein heiliges, unantastbares Tabu gebrochen wird? Welche Wende nimmt ein heiliges Tabu, das nicht respektiert wird? Wie schauen Tabus aus, die Individuen oder ganze Generationen binden, festhalten, bedrücken und moralisch, seelisch und mental verstümmeln? Die gesellschaftlichen, familiären, strukturellen und moralischen Tabus? Die, welche durch Angst, Erziehung, Status oder Position und nicht durch freiwillige Zustimmung nicht gebrochen werden dürfen? Die Tabus, zu denen uns äußere oder auch innere Kräfte zwingen? Was passiert, wenn ein beschützendes, heiliges Tabu sich in Folge eines Verstoßes verändert und zu einem lebensbedrohlichen Tabu wird? Einem Gefängnis, einer Bedrängnis und einem Schrecken? Einem Tabu-Käfig, einer Tabu-Unsicherheit, Tabu-Scham? Solche Tabus muss man brechen.

Seit über 10 Jahren widme ich mich in meiner Arbeit solchen Tabus. Tabus, in die man familiär und/oder gesellschaftlich hineingeboren wird. Tabus, mit denen man, unabhängig von der Gesellschaftsschicht, aufwächst, und die man wie Muttermilch in sich aufsaugt, ohne zu wissen, dass es andere Wachstumsumgebungen und Umstände für die Entwicklung gibt. Tabus, die einen mit der Zeit wie tausend Pfeile durchbohren und die dermaßen dunkel, verboten und stark sind, dass einem nichts anders übrigbleibt als diese – oft unbemerkt – als negative Emotionen in den eigenen Körper aufzunehmen und sie in der eigenen Psyche, wie in einer überfüllten Dose und manchmal für Jahrzehnte, in sich zu tragen. In manchen Fällen führt das Wissen von und die Erfahrung mit solchen Tabus zur Verdrängung. In extremen Fällen bis zur Abspaltung der schmerzempfindlichen Teile der Persönlichkeit. Bis sie bricht.

Schmerz ist ein Tabu. Dazu gehört der so oft übersehene, kleingemachte, ignorierte oder sogar verlachte psychische Schmerz. Die Kunst, die in der Ausdrucksform und der Ausdrucksstärke große Freiheit genießt, ist ein wunderbares Mittel der Enttabuisierung dieses Schmerzes.

Unausgesprochene Verbote, gesellschaftlich verschwiegene Wahrheiten oder vorenthaltenes Wissen, in der Psyche tief vergrabene Geheimnisse: Seit über zehn Jahren forsche ich auf diesem Gebiet. Die Arbeit, welche daraus resultierte, trägt den Namen „Schutzschilde“. Des Symbols eines „Schutzschildes“ bediene ich mich, um die Seele, die vor allem psychische Gewalt erlitten hat, darzustellen. Ich habe mich vor allem auf die Folgen des sexuellen Missbrauchs fokussiert.

Der Schutzschild war seit jeher Gegenstand der Verteidigung und Attribut des Kämpfers. Es befindet sich im Raum zwischen dem Aggressor und dem Verteidiger, der den Angriff aufhalten muss oder wenigstens versucht, ihn aufzuhalten. Seit der Antike wurde auf Schutzschilden Geschichten dargestellt und mit Erzählungen verziert. Mein kompletter „Schutzschilde“-Zyklus besteht aus 27 Objekten, die Themen wie sexuellen Missbrauch, häusliche, ökonomische und sexualisierte Gewalt, weibliche Genitalverstümmelung und auch die Gewalt von Müttern an ihren Kindern thematisiert. Alle Kunstobjekte sind von literarischen Texten begleitet. Ich benenne drei Beispiele:

Der „Schutzschild gegen das Vergessen“ stellt eine der brutalsten Geschichten im Zyklus dar. Es visualisiert ein eher selten angesprochenes Thema. Bis jetzt traf ich sehr selten auf eine Beschreibung dieses Phänomens in der Literatur.

Wissenschaft und Medizin entdecken zunehmend mehr über die Folgen sexuellen Missbrauchs in der Kindheit. Aber, trotz aller Erfolge, sind die Wissenslücken noch immens. Dieser „Schutzschild“ zeigt die Situation, in der das missbrauchte Kind anfängt, die Symptomatik des Missbrauches aufzuzeigen. Sein Verhalten und seine Körpersprache weisen darauf hin, dass etwas sehr Schlimmes passiert ist. Was ist aber, wenn das Kind mit den Tätern unter einem Dach wohnt und durch sein „auffälliges“, verändertes Verhalten die Aufmerksamkeit der Umgebung, der Nachbarn, der Lehrer auf sich ziehen kann und Nachfragen provoziert? Von den Tätern werden die Symptome des Kindes als extreme Gefahr wahrgenommen, obwohl es natürliche Reaktionen auf den Missbrauch sind. Die Folgen der Enthüllung des Missbrauchs könnten nicht nur das gesellschaftliche Ansehen ruinieren, sondern die Täter sogar ins Gefängnis bringen. Die panische Angst verschärft die Instinkte der Verfolger. Was unternehmen die Täter, um das auffällige Verhalten des Kindes auszuschalten und das gute äußere Erscheinungsbild aufrechtzuerhalten? In einer solchen Situation wird das Kind zum zweiten Mal misshandelt, seine Psyche emotional zerstört. Jegliche Spuren des Missbrauches müssen verschwinden. Aber wie?

Schutzschild gegen das Vergessen

Schutzschild gegen das Vergessen 74 × 7 × 45 cm Polymerkleber, Chirurgiefaden, Schaumstoff (2012)

Es hat Dinge gesehen, von denen niemand wissen sollte. Es war gleichzeitig Opfer und Zeuge. Die Elemente seines Körpers und seiner Erinnerung trugen Bilder und Gefühle in sich, die mit den Erfahrungen von Gewalt ausgefüllt waren und die vollkommen zerstört werden mussten. Das Wissen um die Tat musste man so ausschalten, dass ihre Spuren kein Zeugnis gegen den Folterknecht ablegen konnten. Damit es nicht in der Lage wäre, auszusagen. Von der Herrschaft dominiert, konnte es nicht fliehen. Wieder musste es zum Opfer werden, damit nicht jemand anderes für das ihm zugefügte Leid festgenommen und zur Rechenschaft gezogen würde. Seine Niederlage war die Rettung des guten Rufs der anderen.

In das warme Innere hat man die Klingen des psychischen Skalpells hineingesteckt. Mit dem untrüglichen und unbarmherzigen Instinkt des Fahnders hat man seine Seele gänzlich durchsucht. Man suchte die Fetzen seiner Erinnerung, sogar unter der dünnen Schicht der Oberhaut. Da das verbotene Wissen bis in die tiefsten Schichten durchgedrungen war, hat man die Verstecke des Bauches, des Rückens, der Erinnerung an das Gesicht und die Augen aufgeschnitten. Lebendige Fetzen der Bilder, ein verräterisches Gefühl und klare Gedanken würden die Täter verraten. Stundenlang wurde es vollständig durchleuchtet, und als es kämpfte, schlug man es und spuckte ihm ins Gesicht. Man hat den Selbsterhaltungstrieb herausgeschnitten, die vor drohender Gefahr warnende Angst, die Fähigkeit, das eigene Leben zu kontrollieren, das schützende Misstrauen und die ganze Vielfalt spontaner Gefühle und Emotionen. Man hat sämtliche Zweifel gegenüber unmenschlicher Behandlung zusammen mit der Angst vor den Tätern herausgeschnitten. Ohne Betäubung hat man, solange es sich erinnerte, die lebendigen, schmerzenden Teile so lange entfernt, bis seine Erinnerung vollständig verloschen war.

Von zahlreichen Nähten und Wülsten bedeckt, wurde es befreit. Schutzlos, gleichgültig und seiner Identität beraubt, erschien es durchsichtig, wie ohne Haut. Ihre Haut gehörte ihm nicht mehr. Aufgrund der Brutalität und der chaotischen Vorgehensweise der Operierenden wurde an einer Stelle eine hakenförmige Nadel vergessen. Die Spuren der Nähte überwucherte eine neue Hautschicht, die noch jetzt unaufhörlich abgeht und sich schuppt und die Spuren des Leidens trägt.

Oft habe ich an der Erkenntnis gelitten, dass wir großes Mitgefühl und Mitleid den Völkern und Kulturen gegenüber zeigen, in denen massive körperliche Gewalt allgegenwärtig ist. Der Grund für meinen Schmerz war, dass mir bewußt wurde, wie viel Brutalität in unserer eigenen Kultur praktiziert wird. Welche absolute Rücksichtslosigkeit und welcher Hass in unseren gesellschaftlichen Strukturen herrscht. Rücksichtslosigkeit und Hass, die mit „Samthandschuhen“ angefasst werden, wobei so getan wird, als ob es diese Brutalitäten nicht gäbe. Es ist klar, dass in unserer Kultur die mörderischen Tendenzen, die sadistischen Züge nach wie vor vertreten sind. Manche menschlichen Charakterzüge haben sich seit dem Verrat an Julius Cäsar nicht zum Besseren entwickelt und die in einigen Kulturen bis heute praktizierte Gewalt unterscheidet sich in der Ausführung, nicht aber in der Intensität und der Absicht. Diese negativen Emotionen haben bei uns andere, meistens mehr „kultivierte“ Formen angenommen. Früher wurden Menschen, die zuerst als Autoritäten galten, dann aber wegen ihres Mutes, ihrer Klarheit, Intelligenz oder emotionalen Stärke plötzlich das herrschende System gestört haben, aus dem Königshof entfernt, indem man ihnen das Gesicht zerstörte und sie aus der Stadt warf. Mit verstümmeltem Gesicht sollte die bis dahin geschätzte Person Schrecken, Angst und Ekel verbreiten. Heutzutage machen das Politik, Medien, Meinungsführer mit dem öffentlichen Image einer Person.

Wie viel Verständnis, Gehör, Unterstützung und Geld schenken wir, zu Recht, verstümmelten Mädchen in Afrika? Wie viel davon zeigen wir den auf diese Art und Weise – wie es der Schutzschild zeigt – verstümmelten Kindern aus der Nachbarschaft? Wie viel Verständnis und Unterstützung gibt der Staat den Stalking-Opfern? Leider ist es immer noch so, dass jene Gewalt, die keine körperlichen Behinderungen und/oder dauerhaften Narben hinterlässt, als „weniger grauenvoll“ und verletzend wahrgenommen, eingestuft und bestraft wird.

Nur in extremsten Fällen von Terror und in Diktaturen, wo Gegner des Systems während tagelang dauernden Verhören und Folterungen der eigenen Kraft, Überzeugung und Glauben beraubt werden, wurden vergleichbare Mechanismen, wie der Schutzschild sie zeigt, eingesetzt. In diesem Objekt spreche ich nicht von einem politischen, erwachsenen Gegner, der gebrochen wurde. Es erzählt von einem Kind. Aus meiner Sicht gehören genau solche Mechanismen aufgezeigt und aufgeklärt, um Mitgefühl oder mindestens Verständnis für die Opfer zu entwickeln und die Täter, die psychische Gewalt ausüben, mehr und besser qualifizieren zu können.

Einen Schutzschild, ähnlich wie eine Psyche, kann man auf verschiedene Art und Weise beschädigen, zerstören. Man kann diesen in mehrere Stücke zerreißen, zerquetschen, niederschlagen, mit voller Wucht mit Steinen bewerfen. Auch in diesem Fall unterscheidet sich unsere Kultur von denjenigen, wo echte Steine auf Menschen geworfen werden. Unsere Steinigungen sollen idealerweise versteckt und unsichtbar bleiben, schwer beweisbar sein. Im „Schutzschild Steinigung“ spreche ich ein Thema an, in dem die Strategie des Täters besonders raffiniert, geduldig und ausdauernd mit der endlichen Stärke des Opfers spielt. Am Ende wird er sowieso immer gewinnen. Der Schutzschild stellt eine Situation dar, in welcher der Täter sein Opfer systematisch und konsequent dauerhaft psychisch belastet. Zuerst merkt das Opfer nicht einmal, dass es um Macht und um Gewalt geht. Mit der Zeit wiegen die Schuldzuweisungen, Vorwürfe – zahlreiche „Steine“, die der Täter in die Psyche seines Opfers wirft –, immer mehr. Ab einem gewissen Zeitpunkt wiegt der Schutzschild so schwer, dass er alle Kräfte des Opfers raubt und den schützenden Zweck verliert. Den Schutzschild weiterhin hochzuhalten, würde die schwindenden Kräfte weiterhin reduzieren. Würde sich das Opfer von der Schwere befreien, den Schutzschild ablegen, wäre es dem Täter gegenüber endgültig schutzlos und der Täter triumphierte.

Schutzschild der Steinigung

Schutzschild der Steinigung 120 × 72 × 35 cm Feinstrumpfhosen, Epoxydharz, Glasfaser (2013)

Du belastest mich, ich halte es unter dem Gewicht des eigenen Schutzschildes nicht aus. Du schaust mir zu, wie ich mit mir selbst statt mit dir kämpfe. Du greifst nicht zornig oder aggressiv an. Ich fühle mich verantwortlich für das Böse, das du mir antust, und du schüttest mit einem Lächeln weitere Steine in meine elastische weibliche Psyche. Mit weiteren gezielten Vorwürfen schaffst du es, dass das Leben nicht zu ertragen ist. Ich weiß nicht, ob ich auf wackeligen Beinen um den immer schwerer werdenden Schutzschild kämpfen soll oder ob ich ihn fallen lassen soll, um keine Kraft mehr durch das Tragen zu verlieren. Der Besitz des Schutzschildes wird sinnlos. Wenn ich mich nicht befreie, werde ich gemeinsam mit dem Schutzschild unter seinem eigenen Gewicht fallen.

Auf ähnliches Unverständnis treffen erwachsene Frauen, die in der früheren Kindheit sexuell missbraucht wurden. Tabus und Vorurteile im Bereich der Sexualität von solchen Frauen entstehen nicht unbedingt aus schlechtem Willen, sondern sind oft reiner Unwissenheit zu verdanken. Das Bewusstsein über die tiefgreifenden Mechanismen, die diese Frauen beherrschen, die sich immer wieder auf toxische Beziehungen einlassen, zu sadistischen Männern zurückkehren, wird selten jemandem erlauben, ein rasches Urteil zu fällen. Es verlangt nämlich Verständnis für das vom Ereignis geprägte Innere, das mit Deformationen, Narben, Veränderungen und Folgen belastet ist, auch wenn das Geschehene Jahrzehnte zurückliegt. Solange solche Tabus nicht gebrochen werden, wird die destruktive Macht solcher Tabus gewinnen und Sätze wie „sie ist selbst schuld“ durch Mangel an Verständnis fortschreiben. Der Sexualität dieser Frauen widmete ich den Schutzschild „Erotik des Gehirns“.

Schutzschild Erotik des Gehirns

Schutzschild – Erotik des Gehirns 69 × 62 × 30 cm Unterwäsche, Epoxydharz, Glasfaser (2012)

Bereits in der frühen Kindheit habe ich den physischen und psychischen Schmerz lieben gelernt, die Brutalität und die Demütigung. Jahrelang irrte ich umher, ohne mir dessen bewusst zu sein. Als ich reifer wurde, hatte ich im Schmerz gelernt, wie sehr ich auf mich aufpassen muss. Ab jetzt musste das erwachsene Gehirn, das mich vor zukünftigen Zerstörungen und Niederlagen zu schützen hatte, vor dem Sexualtrieb und den Genitalien auf der Hut sein.

Ich wurde darauf programmiert, Vergnügen zu empfinden, wenn etwas von tödlicher Gefahr war. Die kindliche, stimulierte Sexualität und die Psyche, die sogar im Moment der Gefahr mit Erregung reagierte, öffneten sich dem Schmerz. Ich begehrte Männer, die mein Leben und meine Gesundheit bedrohten. Das Muster, das in der Kindheit geprägt wurde, wurde zur Matrix, die mich nicht mehr losließ. Der Fluch, einem Fatum gleich, zerstörte mich. Erst mein erwachsenes Verständnis hat über diesen furchtbaren Trieb geweint. Das Gehirn der reifen Frau musste anfangen, über die eigene Empfindsamkeit und Sexualität zu herrschen, bewusst darüber zu entscheiden, wen man in sein Inneres hineinlässt.

Die Unterwäsche, die man vom Gehirn nicht herunterreißen kann, drückt die Missbilligung aus, ein Opfer zu sein, die Rüschen und Ösen der Frau in die Obhut über das zu nehmen, was ursprünglich und natürlich ist. Der Körper und die Erotik der jungen Frau sind miteinander verbunden und die Klugheit schützt vor dem Wahnsinn.

Auch psychische Störungen und Krankheiten gehören zu den gesellschaftlichen Tabus. So ist es immer noch mit der weit verbreiteten Depression. Diesem Thema widmet sich das Objekt „Gefrorener Schutzschild“.

Angehörigen eines an Depression leidenden Menschen meinen es nur gut, wenn sie versuchen, der geliebten Person die positive und strahlende Seite des Lebens zu zeigen, sie mit dem Positiven sozusagen „anzustecken“. Aus meiner Sicht ist das meistens ein Irrtum. Dieses Kunstobjekt zeigt genau das Gegenteil: wie man das eigene Herz wirklich der Kälte der Depression öffnen sollte, um die Welt der geliebten Person aus ihrer Sicht kennenzulernen. Erst das ehrliche Mitgefühl für ihre Sicht kann zu einem Fortschritt führen. Wenn ich es bildlich darstellen sollte, würde ich es mit zwei Parallelwelten vergleichen. Die eine, in dem die Menschen ohne Depressionen leben, hat Fenster, hinter denen grüne Bäume wachsen und die Sonne scheint. Dies können die Menschen in der Depression nicht als Freude wahrnehmen, und zwanghafte oder liebevolle Überzeugungsarbeit hilft hier nicht.

Die zweite Welt liegt unter dem Boden, auf dem die beiden stehen. Die Chance liegt darin, der Depression die Hand zu geben und sich von ihr ins Zimmer im Keller führen zu lassen. Wenn sie dort unser Mitgefühl sieht, wird sie einen Fensterrahmen auf die Kellerwand malen. Das wäre ein sehr großer Fortschritt.

Gefrorener Schutzschild

Gefrorener Schutzschild 70 × 70 × 35 cm Blätter, Farbe, Epoxydharz, Glasfaser (2012)

Ihr empfindlichster psychischer Aspekt wurde jeglichen Schutzes beraubt. Vor Kälte zitternd hat man sie in der Einsamkeit zurückgelassen. Hinter ihr stehend habe ich gesehen, wie sie mit leeren Augen, aus denen Kälte strahlt, vor sich hinstarrt. Die Bedeutungslosigkeit und Leere in ihr hat mich entsetzt. Ich hatte das Bedürfnis, sie zu wärmen und glücklich zu machen, ihr eine bessere Welt zu zeigen, doch sie blieb mir weiterhin fremd. Ich fing an zu weinen. Als sie mein Mitleid spürte, erlaubte sie mir, ihre Kälte zu berühren. Sie lehrte mich zu lieben, und ich hörte auf, ängstlich zu sein. Erst dann war ich im Stande, sie unter der psychischen Eisdecke herauszuziehen. Sie zu spüren bedeutete, neue Eigenschaften in mir selbst zu finden. Sie veränderte mich, und dabei hatte ich gedacht, dass ich ihr etwas beibringen könnte. Ich musste das befreien, wovor ich Angst hatte und was ich nicht kannte. Da fing sie an, mich zu lieben, und gemeinsam fingen wir an, uns zu verteidigen. Sie wärmend musste ich mich selbst vergessen – sie würde sonst in meinen Armen zerfallen. Meine Wärme und ihre Kälte bildeten die ideale Einheit. Nicht ich, sondern sie hat uns gerettet.

Wie es mir eine Ausstellungsbesucherin, die Mitarbeiterin in einem psychiatrischen Krankenhaus ist, während einer „Schutzschilde“-Ausstellung ins Ohr flüsterte: „Durch das Aufbrechen von Tabus bauen wir eine Brücke zwischen dem Teil der Gesellschaft, die ‚außerhalb den Mauern’ und derjenigen, die ‚hinter den Mauern’ lebt“. Wir alle wissen, dass es Menschen gibt, die zwar in der Gesellschaft „außerhalb der Mauern“ leben, aber dennoch diese psychische Belastung in sich tragen. Diese Menschen gibt es unabhängig von Ausbildung und beruflicher Position in allen Gesellschaftsschichten, was ich unter anderen während „Schutzschilde“-Workshops erlebt habe. Auch für diese sollte eine Brücke gebaut werden.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass durch die Kunst, deren Bilder, Sprache, Bücher und Objekte die schlechten Tabus noch besser beschrieben, gemalt, gezeichnet, geformt werden können, um deren Macht verständlicher darstellen und somit auch entwaffen zu können, vor allem was das psychische Leid betrifft.

 

Dr. Agata Norek : Für ihre Doktorarbeit „Schutzschilde“ erhielt sie im Jahr 2013 eine Auszeichnung. 2015 präsentierte sie ihre Ausstellung „Schutzschilde“  im Bayerischen Landtag in München. Im Januar 2016 berichtete die deutsche VOGUE von diesem Projekt.
1. Vorsitzende des „Shields Against Violence SAV“ e.V. ; Gründerin der ARTrauma ® Methode.
www.shields-against-violence.com

 

 

 

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