Geschrieben am 16. Februar 2004 von für Litmag, Lyrik

Björn Kuhligk/Jan Wagner: Lyrik von Jetzt

Das Wunderbare im Alltäglichen

In ihrer „Bestandsaufnahme der jüngeren und jüngsten Generation deutschsprachiger Lyrik“ präsentieren Björn Kuhligk und Jan Wagner facettenreiche Poesie für die Hosentasche – ein wenig mehr Aufbruch hätte dabei nicht geschadet!

Schwellenangst lässt diese Lyrikanthologie von vornherein nicht aufkommen: Sie präsentiert sich als kompaktes, himmelblaues Paperback mit Plastikeinband, der sich geschmeidig handhaben und allerorten lesen lässt. Lyrik von jetzt ist der Band betitelt, und man möchte zugleich ergänzen: „Lyrik für jetzt“ – ohne den heiligen Hauch des Esoterischen und des ewig Bedeutsamen.

Lyrische Subkulturen
74 Dichterinnen und Dichter ab dem Geburtsjahr 1965 haben die selbst dichtenden Herausgeber Björn Kuhligk und Jan Wagner ausgewählt. Ihr Ziel war eine „Bestandsaufnahme dessen, was in der jüngeren und jüngsten Generation deutschsprachiger Lyrik geschieht“ – und zwar oft abseits des etablierten Literaturbetriebes in kleinen Zeitschriften, Zirkeln, Clubs und subkulturellen Szenen. Neben einigen bekannteren Namen wie Marcel Beyer, Tanja Dückers oder Albert Ostermaier sind hier also jede Menge neuer Talente und eine große Bandbreite lyrischer Formen und Themen zu entdecken.

Elegische Grundstimmung
Wer nun erwartet hätte, dass hier vorwiegend „junge Wilde“ mit großer Dynamik und experimenteller Lust die Medien- und Metropolenlandschaften sowie die Pop-Kultur unserer Gegenwart ins Visier nehmen, der sieht sich getäuscht. Im Großen und Ganzen herrscht eine melancholische, ja fast elegische Grundstimmung in dieser Anthologie, und es scheint, wie Mirko Bonné es formuliert, „Herbst im nervösen Jahrhundert“ zu sein. Neben dem ewigen lyrischen Thema der Liebe wendet sich die jüngste Lyrikergeneration in einem erstaunlichen Maße der Natur und dem archaischen Landleben zu: Da glitzern die Libellenflügel, zwitschern die Vögel, pflügen die Bergbauern den Acker, und bei Sabine Schiffner „grasen Kühe“ und „das stroh liegt schon lange in ballen da im herbstwind“. Kein Spur zeigt sich hier von Rebellion und Aufbruch, vielmehr scheint man der entzauberten (Medien-) Welt den Rücken zu kehren und in der Natur sowie im Natürlichen dem Geheimnis und dem Mythos hinterher zu spüren.

Echte Entdeckungen
Auf höchstem Niveau – sowohl im Hinblick auf Form, Rhythmus wie Variationsbreite, Sprachgewalt und (Hinter-) Sinn – präsentiert sich in „Lyrik von Jetzt“ der Hamburger Nicolai Kobus. In „der dichter“ stellt er die Intention des Rilke-Klassikers „Der Panther“ ironisch-philosophisch auf den Kopf: „man wirft dir fleisch tagtäglich durch die stäbe / zu fressen hast du also, und warum / wünscht du dir, dass es keine stäbe gäbe? / die freiheit bringt dich doch nur um.“

Die stärksten Momente bietet die Anthologie, wenn in luziden Bildern die Magie des Augenblicks und das Wunderbare im Alltäglichen beschworen wird – etwa wenn bei Hendrik Rost die berühmten Pflaumen W. C. Williams, an denen auch schon Rolf Dieter Brinkmann Geschmack gefunden hatte, in verwandelter Form wieder auftauchen, oder wenn Jan Volker Röhnert einen „späten italienischen Mittag … mit viel Pasta Pane & Parlare“ intensiv erleben lässt.

Ohne der ganzen Bandbreite und erstaunlichen Fülle dieser Lyrikanthologie auch nur ansatzweise gerecht werden zu können, soll hier zum Schluss noch der Aphoristiker Thilo Schmid zu Wort kommen, der unter dem Titel „Kondensstreifen am Himmel“, so hoffe ich, Lust auf mehr Lyrik macht: „Nicht damit auch die engel / auf den strich gehen können / wie der lastwagenfahrer sagt / sondern um gott einen strich durch die rechnung zu machen / den bruch / himmel durch erde / nicht aufgehen lassen.“

Karsten Herrmann

Björn Kuhligk/Jan Wagner: Lyrik von Jetzt. DuMont 2003. Gebunden. 420 Seiten. 14,90 Euro. ISBN 3-8321-7852-X