Geschrieben am 19. Oktober 2011 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Briefe aus Frankfurt, Buchmesse 2011 (aktualisiert)

Lieber Jan, quasi als Brief der Autorin an ihren Herausgeber: Was hab ich denn zu diesem Event zu sagen? Ich bin mir nicht sicher, ob das, was ich tun kann, nämlich reine Beschreibung, von irgendeiner Relevanz sein könnte. Trotzdem ein paar Eindrücke.

Am Dienstag hörte sich das so an:

Die Rollköfferchen rollen, der Herbstwind bläst. Frankfurt kleidet sich in gläsernes Blaugrau, jenes, das so gut zu matt gedruckten Literaturzeitschriften und Feuilletonbeilagen passt. Es wäre möglicher, Blätter in der Bö zu zählen als diese Ansammlung dualer Güter. Dabei wird erst aufgebaut an diesem Dienstag, den 11. Oktober 2011. Die Steckregale für die Standardstände wirken noch etwas schäbig, Gabelstabler karren Werbematerial durch Gassen voller Verpackungsreste. An den selten besetzten Infotheken liegen die fetten Grundlagenwerke dieser Tage aus. Zwei Dinge sind schnell klar: Ich bin im höchsten Maße unprofessionell unterwegs, da unterminiert, ohne Plan, ohne App. Zweitens funktioniert die Verkaufsstrategie der Messe ähnlich wie jene von Ikea: Verkaufe durch Anleitung zur Desorientierung.

Die ersten Vitrinen, die gefüllt werden, sind „Pussies“ in Siegerposition und Katzenkalender. Unter einem Wandkalender mit Purzelbaum schlagendem Kleinkind hängt, in der Kategorie „Weitere Themen“, ein Banksy-Wandkalender 2012. Das gibt mir den Rest.

Und wo sind die Comics? Irgendwo bei den Kindersachen. Die haben oft wenig mit Text und vermittelten Inhalten zu tun. Wenn doch, kämpft dieser gewisse Illu-Kunst-Stil (eckige Tiere in flächiger Landschaft, eine lebensbejahende Schwermut für Kinder) mit der Plastikverführungskunst großer Augen.

Ob das die Sätze sind, die Du lesen wolltest? Vernichtender Hochmut einer Jungautorin? Die Titelblätter glänzen, die noch leeren Stühle ebenso, die berockten, pardon, belesenen Highheels kommen, auf, auf, ihr Leser, setzt die Lettern. Ich versuch’s morgen noch mal.

Mittwoch sah alles schon anders aus. Teppich gelegt, Mobiliar voller Besucher. Ich bin versucht eine Typologie von Messe-Besuchern zu beginnen, ahne aber das ausufernde Ausmaß. Den Messe-Ratgeber hab ich nicht mehr angefasst. Den Plan auch nicht. Den Haupteingang nicht mehr betreten.

Carlsen breitet sich zwischen Kinder- und Comicabteilung aus wie eine quietschgrüne Krake, die können alles, die haben alles für alle. Die ausliegende Broschüre „Graphic Novel“ ist leider ein ganz ein bisschen veraltet. Einsame Männer und weltgewandte (nackte) Frauen, die aktuellen Wälzer, kommen da noch nicht vor.* Neben mir steht ein Mädel mit einem Exemplar in der Hand und spricht irritiert zu ihrer Begleiterin: „Ach und das sind jetzt nur Bilder?“ Bloß weg hier.

Die isländische Kathedrale besteht aus karger, kalter Landschaft, die Norwegerpullis und Sphärenmusik bedingt. Alles sehr gemütlich und verlockend. Manchmal sieht’s aus, als könnten sich Einzelne das Recht herausnehmen, zu verweilen. Auf riesig projizierten Bildern sitzen Menschen vor Büchern und warten lange, lange, bis sie vorlesen sollen.** Erró malt Wimmelbilder für Erwachsene, Vögel in naturwissenschaftlicher Manier quetschen sich in ein Format, ebenso Flugzeuge und anderes Getier: „Scapes“ nennt er diese großformatigen Spiegelbilder der Buchmesse (wobei er das kaum beabsichtigt hat. Ob ein entsprechendes Gemälde in seinem Œuvre zu finden ist, konnte in der Kürze nicht recherchiert werden).*** Und Óskar Árni Óskarsson zwinkert mir aus einem kurz angefassten Lyrikband entgegen:

„Man versucht das ganze Leben hindurch / sich selbst zu finden / doch die besten Stunden sind vielleicht die / in denen man sich selbst verliert / es ist Anfang Mai / und ich sitze auf einer Bank draußen auf Grandi / habe mich in einen Gedichtband verloren / und möchte gar nicht / gefunden werden.“****

Noch beschwingter wird’s dann bei Köttbullar, Preiselbeergelee und Bier bei den Schweden. Und richtig umwerfend schreit mich endlich der FINNISH COMICS ANNUAL 2011 (Editor Ville Hänninen) an, eine fette, pinke Wundertüte. Pauline Mäkela zeichnet darin ihre „Diamond Owl“ wunderbar kaleidoskopisch-finnisch mit feiner Bleistiftfeder und löst alles auf, was mal als Panel bezeichnet wurde. Bei den flämischen Belgiern streck ich die Hand aus nach Judith Vanistendael als ein werter Herr im mattgrauen Anzug, gleich nebenan am Tische sitzend, mir heimlich steckt: „That’s a good book. I published it.“

Aus tausend winzigen Eindrücken, die alle gar keine echten sind, sondern bloß Guck-Kult, Guck-Konsum, entsteht auch nicht mehr als das. Notizen am Rande. Unklar, ob eine reiche Verlagskultur, wirr und frei, förderlicher als eine vornehmlich staatliche Repräsentation, anschaulich aber vorgegeben, für eine Tiefenschürfung ist.

Um sechs Uhr betreibe ich Crowd Surfing vor der Straßenbahn im Nieselregen; die Spitzen der Hochhäuser tauchen ab in Nebel, es ist Isländerwetter. Für morgen steht Craig Thompson auf der Liste und die französische Seite der Belgier.

Donnerstag schwant mir, dass mein nächster Messe-Besuch ähnlich unbefriedigend ablaufen wird wie der diesjährige: Da werde ich vom Scheitel bis zur Sohle verplant, gelistet und angespitzt durch die Stände kritzeln und noch Jahre später Zettel finden und seufzen: Ach, stimmt, das wollte ich auch noch lesen. In Messetagen wird sogar das Abreißkalenderblattlesen auf dem Klo zur gierigen Lektüre. Irgendwo könnte ja ein vornehmer Spruch eines Literaten versteckt sein.

Die Stippvisite bei den Franzosen und Nachbarn ist insofern verlässlich, als jene traurig mit verklemmten Lippen nicken, wenn man sich auf Englisch bedankt. Ein Sprachkurs vor der nächsten Runde wäre also Bedingung und sollte ins Ratgeberheftchen der Messe. Erstaunlich ist aber diese so ganz andere, entspannte Atmosphäre in Halle 6.1, wo Tische nicht zu Diskussions- und scheinbar nicht Verkaufsrunden, sondern zur Lektüre besetzt sind. Selbst die Verkaufsgespräche sehen aus wie gemeinsames Flanieren zwischen Buchdeckeln. Ganz anders als in der Nachbarhalle 5.1, wo ich angesichts noch größerer sprachlicher Lücken auf einen rein ästhetischen Blickwinkel umstellen mußte: Asiatische Druckprodukte sehen dann halt verlockend wie ein Bild von Reisfeldern oder mongolischer Steppe aus.

Craig Thompson schließlich sieht fast so aus, wie er sich zeichnet, während er gar keine Bedenken zu haben scheint – oder die sich schaurig lang schlängelnde Schlange von Habibi-Besitzern vor ihm nach Momos Prinzip bearbeitet. Er plaudert und zeichnet und ist ganz zugewandt, und weil wir jetzt nachgucken können in seinem Reisetagebuch, wissen wir auch, daß er geduldig das wilde Männchen in ihm drin zur Ruhe zwingt. Ein Fan rettet sich glücklich mit einem der opulenten Brocken an mein seitliches abgelegenes Beobachtungsufer. Ja, Thompson sei total nett, nehme sich Zeit, erinnere sich an frühere Messebesuche und Signiertourtreffen. Und er zeigt stolz seine Widmung: „danke, Helmut“, und leuchtet ein bisschen.

Helmut verdanke ich’s, dass ich am Freitag etwas abseits von Frankfurts Shoppingmeile (wo sich’s ähnlich drückt und schiebt) den T3 Terminal Entertainment finde, dort eine bedeutend kleinere fiese, miese Riesenschlange****, bestehend bis auf vernachlässigbare Ausnahmen aus Herrschaften im Alter von 35 bis 50 Jahren mit einem Stapel (Blankets, Habibi, Reisetagebuch und eigenes Skizzenbuch) im Arm antreffe und mich ihr anschließe (mit dem sehr zu empfehlenden Reisetagebuch). Nein, Skizzenbücher signiert er nicht. Und müde sieht er aus, und Small Talk kann er auch, und zwar so, dass es herzlich und gewidmet wirkt. Wir unterhalten uns kurz über Marokko und seine Reise nach Paris am folgenden Tag. Mein Herz klopft ein bisschen (aber das ist eine andere Geschichte). Gezeichnet hat er mir mit diesem unverwechselbaren windigen Pinselstrich sein milde ergebenes Ich – und ein wildes Männchen obendrauf, über allen Strähnen ist Punk.

Meine Must-Haves bisher:

Randall C.: les Somnambules, Casterna Verl., 2009 (fl. Belgien)
Gonz: diverse
Brecht Evens: The Wrong Place
Villaé Hänninen (Ed.): Finnish Comics Annual 2011
Xavier Besse: Tres Cuentos de Poe en B/N
Craig Thompson: Habibi, Reprodukt

Viele Grüße, Charlotte

* Boquet / Catel Muller: Kiki de Montparnasse bzw. Chabouté: Ganz allein
** Dazu die Bilderserie von Tassen & Gläsern … voll arty.
*** „Island in der Schirn“, Kunsthalle Frankfurt, bis 8. Januar 2012 schirn.de/island
*** Gerdes, Dirk (Hrsg.): Neue Lyrik aus Island, Husum, 2011
**** Zitat Erwin Moser in „Der Tintenfisch sitzt in der Tinte“, Beltz & Gelberg 1987
***** Zweite Bilderserie auch arty: leere Messenorte