Belagerungszustand
Christian Brückner legt mit seiner Interpretation der hierzulande relativ unbekannten Erzählung „Ich und mein Kamin“ eine verborgene Bedeutung Herman Melvilles für die moderne Literatur frei. Von Jörg Auberg
Obwohl Herman Melvilles Erzählung „I and My Chimney“ an vielen Orten des Internets als freier Text zur Verfügung steht, ist sie hierzulande doch nahezu unbekannt. Im Jahre 1965 brachte der Züricher Arche-Verlag eine deutsche Übersetzung von Alfred Kuoni heraus, die jedoch heute bereits wieder antiquiert erscheint: Der Text wimmelt von Begriffen wie „Weib“, „Ehegespons“ oder „bemoost“ (wo schlicht „grauköpfig“ gemeint ist) und kommt geradewegs Schiller-artig daher, wenn der Erzähler einen Gesprächspartner mit „mein Herr“ anredet, während er im Original schlicht als „Sir“ tituliert wird.
Von der Nachhut zum Stellungskrieg
Auf diesen Text greift Christian Brückner in seiner neuen Melville-Produktion „Ich und mein Kamin“ zurück, die in einem bemerkenswerten Kontrast zu Brückners vorangegangenen Melville-Adaptionen „Bartleby“ (2003) und „Moby Dick“ (2006) steht. Im Vergleich zu Friedhelm Rathjens sperriger Übersetzung des monumentalen, multikulturellen Wal-Epos (das in Brückners vielstimmiger, meisterhafter Interpretation zu einem Meilenstein der Hörbuchkunst geriet) rekurriert die Hörfassung der Erzählung „Ich und mein Kamin“ (die erstmals 1856 im Magazin „Putnam’s“ erschien) auf die Erfahrung des Abseits – bevor Melville selbst verstummte.
Vordergründig erzählt die Geschichte vom großen Schornstein des Hauses des Erzählers, der in den Augen seiner Frau lediglich ein Hindernis für eine geräumige Empfangshalle darstellt. Im verborgenen Kampf gegen die Vorherrschaft seines feminin dominierten Umfeldes verteidigt der Erzähler seinen phallischen Schornstein gegen die familiären und nachbarschaftlichen Zugriffe, wobei er schließlich zum ausgezehrten Verteidiger seines Kamins wird. Im Wahn lebt er in ständiger Furcht, die ihn umlagernden Menschen seien nur daran interessiert, seinen Kamin abzureißen, und er müsse ihn gegen die Angriffe verteidigen. Beginnt die Erzählung als eine gemütlich anmutende Beschreibung des unmittelbaren Umfeldes Melvilles, endet sie im permanenten Kriegszustand: Der Erzähler, umlagert von „Reformern“ (die ihm „Verbesserungen“ versprechen, doch „Zerstörung“ meinen), ist schließlich auf sich selbst „im Bau“ zurückgeworfen, in den er sich dann auch einsperrt. In der erklärten Kampfgemeinschaft mit dem Kamin (die im späteren Verlauf der Geschichte immer häufiger beschworen wird) stilisiert sich der Erzähler zum Frontkämpfer, der sich nie ergeben wird.
Ein kleines archäologisches Meisterstück
In Brückners Stimme reflektiert sich kongenial die vom Kampf erschöpfte Stimme des Erzählers, der anfangs als „altmodische“ und „verschrobene“ Nachhut in der Provinz der Antebellum-Amerikas des 19. Jahrhunderts erscheint, am Ende jedoch als Abweichler in einen desperaten Abwehrkampf gegen den ihn umlagernden Konformismus verstrickt wird, so dass er sich zum Fremden im eigenen Land verwandelt. Mit der Lektüre dieses „unbekannten“, vernachlässigten Melvilles richtet Brückner das Augenmerk auf die verborgene Bedeutung dieses Autors für die moderne Literatur. Damit ist ihm ein kleines archäologisches Meisterstück gelungen.
Jörg Auberg
Herman Melville: Ich und mein Kamin. Gelesen von Christian Brückner. Übersetzt von Alfred Kuoni. 1 CD, Laufzeit: 87,20 Minuten.
Edition Parlando 2008. Preis: 12,95 Euro.