– Die Schauspielerin Marion Michael, berühmt geworden mit dem Film „Liane, das Mädchen aus dem Urwald“, 1956, wurde am 17. Oktober 1940 geboren und starb 2007, vier Tage vor ihrem 67. Geburtstag in Gartz in der Uckermark. Frank Göhre hat ihr für „Spotlight“ ein fiktives Porträt gewidmet.
Schlussakkord
oder: Ich weiß, was mit Liane, dem Mädchen aus dem Urwald, geschah.
Mit knapp 15 begann es, und mit 20 war bereits alles vorbei.
Es geschah auf der hinlänglich bekannten Strecke zwischen Nizza und Monaco. Der weiße Sportwagen kam von der Straße ab, raste gegen einen Baum. Das Idol erlitt schwere Schnittverletzungen im Gesicht und musste mehrere Monate im Krankenhaus liegen. Die Narben blieben auch danach deutlich sichtbar, ließen sich nie mehr völlig überschminken. Für das Idol wurde keine neue Rolle eingelegt.
Es war das Mädchen von nebenan.
Ihr Vater ist der Onkel Doktor. Der ist groß und hat dunkle, traurige Augen. Hat viel Leid gesehen, ist zu hören.
Leid, was ist das?
Das ist der Krieg, mein Kind. Wenn Menschen auf Menschen schießen, sich gegenseitig umbringen, töten.
Warum tun die das?
Frag nicht, das weiß ich nicht. Das weiß niemand. Es ist schlimm, aber jetzt ist es Vergangenheit.
Hat der Onkel Doktor auch welche totgemacht?
Nein, der Onkel Doktor macht gesund.
Ganz bestimmt?
Ja, mach jetzt den Mund auf.
Die Medizin schmeckt bitter. Der Onkel Doktor kommt jeden Tag nach der Sprechstunde. Legt seine Hand auf die Stirn, nickt und lächelt. Es wird besser.
Eines Tages wird er abgeholt. Uli hat es gesehen. Männer mit dunklen Mäntel und Hüten haben ihn in die Mitte genommen. In einem Wagen ist er weggebracht worden.
Wohin?
Ins Gefängnis, sagt Uli. Er hat eine Frau umgebracht.
Nein!
Doch, sagt Uli. Die ist ihm unter den Händen verblutet.
Dem Onkel Doktor doch nicht! Der macht doch gesund!
Uli tippt sich an die Stirn. Er ist ein Jahr älter und hat zu Hause gelauscht.
Der hat getrunken und sich auch was gespritzt, und das mit der Frau, das durfte der nicht, weil die ein Kind kriegte, und das Kind hat er totgemacht und die Frau auch. Die hat ganz fürchterlich geblutet.
Das hat Uli alles gehört und tut unheimlich wichtig.
Und mit dem Mädchen soll man nicht mehr spielen, sagt er. Die darf auch nicht mehr raus.
Der Mutter gehen alle aus dem Weg.
Der erste Schnee fällt. Bald ist Weihnachten. Der Onkel Doktor kommt nicht mehr zurück.
Und das Mädchen von nebenan?
Es sitzt am Fenster, den Teddy im Arm.
So vergehen die Jahre bis zu den Sommermonaten Fünfundfünfzig.
Petticoat und Stöckelschuh.
Langes blondes Haar, Ponyfransen. Die blauen Augen und dieser Mund. Jetzt sind alle hinter ihr her. Uli und Henning, der dicke Bernd, Erich und das Pickelgesicht. Uli hat den längsten. Er kann über einen Meter weit spritzen. Banane, Zitrone, er nimmt sie mit ins Bett. Banane, Zitrone, er fickt sie dick und fett.
Sie bleibt schlank und hat die besten Zensuren.
Beim Sport wippen ihre Titten.
Uli verdreht die Augen und kratzt sich am Sack.
Im Lateinbuch entstehen Zeichnungen. Ein V reicht, um einen Harten zu kriegen. Einen Ständer.
Die Nächte werden lang. Und morgens dieses Ziehen im Unterleib. Die Schulbrote, die Stullen, stillen den Hunger nicht mehr. Alle wollen es, und keiner kann sagen, ich hab.
Sie wippt vorbei, bleibt unnahbar.
Vor den großen Ferien erscheint in BILD eine Anzeige. Eine Filmgesellschaft fahndet nach einer geeigneten Hauptdarstellerin. Sie soll zwischen 16 und 20 sein. Das Mädchen von nebenan ist gerade 16 geworden. Sieht aus wie 20.
Ihre Mutter schickt ein Foto ab. Es ist eins von 11.000, die auf dem Tisch des Produzenten landen. Ein ehemaliger Kiesgrubenbesitzer. Er setzt auf sie.
Wieder einmal weiß es Uli als Erster.
Die Monika wird Filmstar. Sie muss sich ausziehen und durch den Dschungel laufen.
Du spinnst! Das tut die nie!
Für Geld tun die Weiber alles, sag ich euch. Gerade die. Stille Wasser, sagt Uli und schnippt gekonnt die Kippe weg. Stille Wasser sind tief. Ich hätte sie beinahe rumgekriegt, aber gegen so einen Filmboss kann man natürlich nicht anstinken.
Und was ist mit der Schule?
Braucht die doch nicht mehr, nee, die sehen wir nicht mehr wieder, nur später im Kino.
Richtig glauben tut das keiner.
In den Ferien trägt Uli Zeitschriften aus und verfolgt, wie es mit dem Mädchen von neben weitergeht.
Monika aus Bochum.
Ein Ruhrgebietskind. Ein verführerischer Engel für den Urwald-Film. Mit der Unschuld, die sie ausstrahlt. Mit ihrer so selbstverständlichen Natürlichkeit. Und überhaupt, wirklich süß.
Ihr wildes, blondes Haar.
Eine deutsche Brigitte Bardot.
Der niedliche Schmollmund.
Ihre Augen, neugierig fragend, die Geborgenheit suchen.
Nicht mehr Kind und noch nicht richtig Frau.
Sie stützt sich auf einen Bambusstab. Trägt knappe Shorts, und das Hemd ist unter den Brüsten verknotet.
Ein weißes, langes Kleid, schulterfrei.
Schon das Filmlächeln im Gesicht.
Neben ihr der Produzent. Dunkler Smoking und Fliege.
Auf die Fragen des Reportes antwortet er mit der Kurzfassung des Films.
Ein weißes Mädchen lebt als Göttin verehrt unter einem kriegerischen Negerstamm im Urwald. Eine deutsche Expedition entdeckt sie und bringt sie unter abenteuerlichen Umständen nach Hamburg zu ihrem Großvater.
Er prophezeit einen Kassenerfolg.
Blitzlichter zucken. Monika lächelt.
http://www.youtube.com/watch?v=3cDQLGKIk9k
Auf dem Mäuerchen werden Erinnerungen gehandelt.
Wenn diese blöde Sache mit ihrem Vater nicht gewesen wäre.
Stell dir mal vor, wir hätten weiter mit ihr spielen dürfen. Drüben, auf dem verwilderten Grundstück. Onkel Doktor und sie als Patientin.
Der dicke Bernd denkt an einen Kuss. Erich hätte gern ihr Haar gekämmt. Uli gesteht, dass er schon immer auf sie gewichst hat.
Jetzt aber hüpft sie in den Isarauen herum und dieser affige Hardy Krüger packt sie am Arsch.
Fickt der mit ihr?
Quatsch, sagt Uli, das erledigt der Produzent.
Aber der ist doch schon über fünfzig.
Gerade deshalb.
Ist das erlaubt?
Denkst du, da fragt der nach?
Und Monika lässt das mit sich machen?
Das und noch mehr. Die liegt im Bett und säuft Sekt, die kriegt es hinten und vorne reingesteckt, klar doch, und die eigentliche Sau ist ihre Alte, die das alles zulässt.
Kurz vor der Premiere schwärmen Reporter aus.
Jetzt kann man zur Sache kommen. Uli hat die besten Karten.
Die Monika, sagt er, die Monika war immer schon etwas Besonderes.
Erzähl mal, Junge, wie du das meinst.
Na ja, sagt Uli. Die hat sich immer von uns abgesondert.
Hat einer von euch sie näher gekannt, mal was mit ihr gehabt?
Wieder lässt Uli keinen anderen zu Wort kommen.
Die ist nur mit Älteren zusammen gewesen, mit denen aus der Prima, mit dem Heinz.
Wohnt der auch hier?
Der Heinz wird herausgeklingelt.
In der Zeitung steht dann, dass Heinz die Monika geliebt hat und nie vergessen wird: Traurig wird der Blick des sympathischen jungen Mannes, als er von den langen Spaziergängen im Grummer Wäldchen erzählt. Da haben die beiden sich ewige Treue geschworen, wohl auch Zärtlichkeiten ausgetauscht, die nun der Vergangenheit angehören. Denn Heinz weiß, dass seine kleine Monika für ihn auf immer und ewig verloren ist. Sie ist zu einem Star geworden, schenkt ihr Lächeln Millionen, und dem einfachen Heinz bleibt nur der Traum.
http://www.youtube.com/watch?v=1QduqkUXSts
Monika bekommt eine neue Biografie.
Schon als Sechsjährige hat sie vor dem Spiegel im Flur Posen geübt. Von der Mutter wurde ihr Talent erkannt. Der Vater hat das als Unsinn abgetan. Er war morphiumsüchtig und hat sich im Gefängnis erhängt. Lange Zeit hat das junge Mädchen unter der Erinnerung an dieses tragische Ende gelitten. Nur dem andauernden Zuspruch der Mutter ist es zu verdanken, dass sie wieder neuen Mut gefasst hat. Ballettunterricht hat sie genommen. Sprechen geübt. Ein Korken zwischen den Zähnen. Gang über den Flur mit Brehms Tierleben auf dem Kopf. Mit Jungs hat sie sich nie eingelassen. Das macht jetzt ihren Reiz aus. Ihr frisches Wesen. Ihre Natürlichkeit.
Siebzehn ist sie jetzt.
Der erste Film war ein Riesenerfolg, hat 5 Millionen Mark eingespielt. Monika hat 1.300 Mark Gage bekommen und gute Verpflegung. Steht unter Obhut des Produzenten, in dessen Wohnung sie lebt. Zu ihrem letzten Geburtstag hat er ihr Diamanten und einen Pelzmantel geschenkt. Monika liegt wie hingegossen auf dem breiten französischen Bett. Auf UKW legt Chris Howland neue Platten auf. Monika greift nach Filterzigaretten und dem goldenen Feuerzeug. Neben ihr auf dem Teppich das neue Drehbuch. Nach dem Mädchen aus dem Urwals soll sie nun eine weiße Sklavin sein.
Der Produzent hat seine Phantasien den Drehbuchschreibern diktiert.
Ein Riesenaffe wird an dem Baströckchen der weißen Sklavin zerren.
Monika fröstelt.
Wenn der Produzent sich nachts zu ihr legt, hat sie einen Brechreiz. Sein Atem ist alkoholgeschwängert. Kurz vor ihrem 18. Geburtstag muss sie abtreiben.
Uli spricht mit einem Mal anders von Mädchen. Er hat sich in Renate verliebt, geht mit ihr ins Freibad und ins Kino.
Die da kenn ich, sagt er und zeigt auf ein Foto im Schaukasten. Die ist aus unserer Straße, eine richtige Zicke.
Sie hat eine gute Figur, sagt Renate.
Deine ist besser.
Findest du?
Klar, sagt Uli und tastet nach den Parisern in seiner Tasche.
Seine Zeitungsausschnitte hat er verbrannt.
Nächstes Jahr macht er das Abi, zieht runter nach Köln und studiert Betriebswirtschaft. Renate will mitkommen. Nach der Schule soll das richtige Leben beginnen.
Monika hat Konkurrenz bekommen.
Auf den Leinwänden der Kinos tummeln sich unzählige nackte Mädchen. Ein Bad im Fluss. Ein Kuss am Strand. Die Unschuld verliert sich.
Die Amerikanerinnen haben einfach mehr zu bieten.
Große Möpse machen das Geschäft, registriert der deutsche Produzent, der seine Monika inzwischen auch ziemlich über hat.
Er stellt fest, dass sie doch reichlich blöd ist. Und seit der Abtreibung auch mehr als merkwürdig.
Verweigert sich im Bett. Heult oft.
Kippt Gin in sich rein und lässt am Set die Diva raushängen. Mit einem Beleuchter soll sie ein Techtelmechtel angefangen haben.
Mit einem Beleuchter!
Er lässt sie noch ein paar Verträge unterzeichnen, und sie ist tatsächlich mehr als dumm. Kritzelt ihren Namen drunter und sieht sich schon als die neue Maria Schell.
Er grinst hinter ihr her, als sie zum Telefon geht und sich einen Termin beim Friseur geben lässt.
Vier Jahre nach ihrer Entdeckung soll sie ins ernste Fach überwechseln. Charakter zeigen. Es st ihr zwanzigstes Lebensjahr. Sie gibt einer großen Illustrierten ein Interview.
Ich bin reif für diese Rolle, sagte sie.
Schlussakkord ist der Arbeitstitel des Films.
Sie zieht ein Resümee.
Es sind sehr viele Lügen über mich verbreitet worden, beginnt sie ihren Monolog. Eine davon ist, dass ich schon als Kind zum Film wollte. Ich habe nie daran gedacht, Schauspielerin zu werden. Das hat einzig und allein meine Mutter in die Wege geleitet. Sie hat über mich bestimmt, ohne mein Wissen Fotos von mir abgeschickt. Ich glaube, sie wollte mich als Star sehen, um selbst wieder beachtet zu werden. Sie wurde ja nach der Verhaftung und dem Selbstmord meines Vaters von allen Leuten geschnitten, traute sich kaum auf die Straße. Auch ich hatte von einem Tag auf den anderen keine Spielkameraden mehr. Ich war immer nur im Haus, und als ich älter wurde, habe ich mich mehr und mehr darauf versteift, wenigstens in der Schule gut zu sein, bei meinen Lehrern Anerkennung zu finden. Die bekam ich zwar, aber dadurch wurde ich noch mehr isoliert. Natürlich gab es ein paar Mitschüler, die in gewisser Weise an mir interessiert waren, in der üblichen Art eben, und das allein wollte ich nicht. Ich wusste überhaupt nicht, was ich eigentlich wollte. Nur so kann ich mir heute erklären, dass ich mich in das Filmgeschäft drängen ließ. Wenn Sie so wollen, von einem geschlossenen Raum in den anderen, weil ich auch von da von allem anderen abgeschlossen war. Ich meine von dem, was man als Jugend bezeichnet. Die habe ich eigentlich nie gehabt. Ich war von sechzehn an nur mit Leuten zusammen, die wesentlich älter waren und bin in die Fänge eines Fünfzigjährigen geraten, der mich wie ein Spielzeug behandelt hat. Ich weiß, dass ich mir mit dieser Bemerkung schade, Schwierigkeiten haben werde. Aber ich muss das einmal loswerden. Dass dieser Mann seine Sexualität an mir ausgelebt hat und ich ihm ausgeliefert war. Jetzt erst habe ich mich von ihm lösen können. Mein Rechtsanwalt ficht die Verträge an, und der neue Film läuft bei einer anderen Produktion, die mir Gelegenheit gibt zu zeigen, ob ich wirklich etwas anders kann, als halbnackt durch den Urwald zu hüpfen.
Monika gibt das Interview in Monte Carlo, wo sie ihren letzten Film mit dem alten Produzenten abgedreht hat.
Nach dem Erscheinen versucht der Mann, gewaltsam in ihr Hotelzimmer einzudringen. Gegen die Tür hämmernd droht er, sie zu vernichten.
Monika findet in dieser Nacht keinen Schlaf.
Am nächsten Morgen stiehlt sie sich aus dem Haus und startet ihren weißen Sportwagen. Der Wagen ist das letzte Geschenk des Produzenten.
Auf der hinlänglich bekannten Strecke kommt der Wagen von der Straße ab und rast gegen einen Baum.
Monika wird schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert.
Uli liest, dass es vorerst keinen neuen Film mit Monika geben wird. Er faltet die Zeitung zusammen und legt sie zu den anderen, mit denen er Abend für Abend den Ofen in seiner Studentenbude anheizt.
Er führt ein aufregendes Leben, sagte er. Die Geschichte mit Renate ist zuende. Jetzt geht es erst richtig los.
Frank Göhre