Gegenseitige Hassliebe
– Heinrich Sassenfeld hat eine humorvolle Einführung in die Alltagskultur der Chilenen und Argentinier geschrieben. Eva Karnofsky stellt die amüsante Sammlung von Geschichten und Episoden vor.
Die gemeinsame Grenze ist über 4.000 Kilometer lang, doch die Menschen zu beiden Seiten ticken grundverschieden. Während die Chilenen eher in sich gekehrt und still sind, kann man die Argentinier getrost als extrovertiert, ja als lärmend bezeichnen.
Letztere mögen es bunt und knallig, die Chilenen dagegen schätzen gedeckte Töne von grau bis braun. Die Bürger von Santiago de Chile hauchen ihr Spanisch mit vielen weichen Lauten hin und die Argentinier singen das Ihre, wie sie es von den in der Mehrzahl italienischen Vorfahren gelernt haben.
Es tun sich also Abgründe über den Kordilleren auf, und kaum einer kennt sie besser als Heinrich Sassenfeld, Vater zweier erwachsener chilenischer Söhne und Ehemann einer Argentinierin. Sein heiteres Buch „Die Anden könnten kaum höher sein“ ist also das Ergebnis jahrzehntelanger Feldforschung.
Der Autor arbeitet im Vergleich Mentalität sowie Sitten und Gebräuche diesseits und jenseits der Anden heraus und bedient sich dabei in seinen achtzehn Kapiteln verschiedener Stilformen. Er gibt selbst Erlebtes zum Besten, veranschaulicht Marotten anhand von Witzen, und er benutzt fiktive – manchmal um der Didaktik willen ein wenig an den Haaren herbei gezogene – Dialoge, mit denen er etwa die unterschiedliche Einstellung zu Normen und Regeln herausarbeitet.
„Regeln sind dazu da, dass man sie ab und zu mal ändert“, erklärt der argentinische Taxifahrer seinem chilenischen Kollegen und beschuldigt ihn und seine Landsleute gleichzeitig des Vorschriftenwahns. Chile sei das einzige Land der Welt, in dem die Gesetzestexte sogar auf der Straße verkauft werden, hatte Kolumbiens Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez einmal bei einem Spaziergang durch Santiago zur Gesetzestreue der Chilenen geäußert.
Patagonische Schafe berichten von der Besiedlung ihrer Heimat und argentinische Kühe erzählen vom Fleischkonsum der menschlichen Bewohner ihres Landes. Hier allerdings ist Sassenfeld nicht mehr ganz aktuell: Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner fördert inzwischen die Stallhaltung für Rinder, weil sie deren Weideflächen für den Devisen bringenden Sojaanbau nutzen will. Das berühmte bife de lomo, das Rinderfilet, stammt heute auch längst nicht mehr immer von glücklichen Kühen der berühmten Pampaweiden.
Folgerichtig erzählt Sassenfeld auch von der chilenischen Vorliebe für locos, Abalonen, die inzwischen auszusterben drohen.
Die Chilenen lieben den Tango, weil bei jedem Tanz zwei Argentinier sterben, bringt man beiderseits der Anden scherzhaft die gegenseitige Hassliebe auf den Punkt. Wer die beiden Länder kennt, wird sich amüsieren über Sassenfelds Geschichten und Anekdoten und sich dorthin versetzt fühlen; wer sie bereisen und nicht nur die Landschaft genießen, sondern die Menschen besser verstehen möchte, dem hilft das Büchlein weiter, denn es bietet eine humorvolle Einführung in deren Alltagskultur.
Eva Karnofsky
Heinrich Sassenfeld: Die Anden könnten kaum höher sein. Kleine Unterscheide zwischen Argentinien und Chile. Larimar Verlag, Hockenheim 2012. 132 Seiten. 10,50 Euro.