Fast eine Offenbarung
John Griesemer ist mit seinem Roman „Rausch“ der Shootingstar der amerikanischen Literatur und wird schon in einem Atemzug mit Autoren wie Jonathan Franzen, Jeffrey Eugenides oder auch Don DeLillo genannt.
Bei allem vorauseilenden Ruhm und sich überschlagenden Lobesworten erweist sich der 1947 in New York geborene Autor bei seiner Lesung in Osnabrück als ein auf den ersten Blick sympathischer Mensch – mit seinem jungenhaft-verschmitzten Lächeln, seinem legeren Outfit und quicklebendigen Augen wirkt er wie „der nette Kerl von nebenan“. Voller Respekt zeigt er sich geehrt zusammen mit seinem deutschen Übersetzer Ingo Hertzke aus seinem Roman lesen zu dürfen und bleibt bei dessen einleitenden Worten auch ganz bescheiden im Hintergrund.
Packendes Hörspiel
Doch der Auftritt von John Griesemer ist dann eine kleine Offenbarung: Mit einer zerfledderten Manuskriptmappe in der Hand tritt er nahe vor sein Publikum und liest im Stehen seinen Romanprolog. Die Stimme des schmächtigen Autors schwingt kraftvoll und packend durch den Raum, die Worte fließen im breiten Amerikanisch und dennoch wohl prononciert dahin und bilden einen sämigen, bildmächtigen Strom. Sparsam unterstreicht Griesemer, der im Erstberuf als Schauspieler arbeitet und unter anderem auch in Malcom X mitspielte, seine Worte durch um so wirkungsvollere Gesten. Geschickt variiert er Tempo und Lautstärke, schraubt seine Stimme nach oben, steigert Spannung und Dramatik, um dann wieder plötzlich innezuhalten.
Ingo Hertzke dagegen liest die deutsche Übersetzung ruhig und sachlich, gibt damit Raum zum Atemholen nach Griesemers Parforceritt. Und obwohl sich Autor und Übersetzer erst vor wenigen Tagen kennen lernten, ergänzen sie sich an diesem Abend auf das Wunderbarste. Dies zeigt sich auch, als sie Romanpassagen mit verteilten Rollen lesen und den Zuhörern so ein zweisprachiges, geradezu szenisch wirkendes Hörspiel bieten.
Panorama des 19. Jahrhunderts
Auf knapp 700 Seiten spannt John Griesemer in seinem fast gleichzeitig in den USA und beim kleinen Hamburger Marebuch-Verlag erschienenen Roman ein Panorama des 19. Jahrhunderts – und damit auch der Geburtswehen der Moderne. Im Zentrum der Handlung steht der Stapellauf des größten Schiffes der Welt und die Verlegung des Transatlantikkabels. Die Vorstellung einer direkten Verbindung zwischen den Kontinenten elektrisierte die Menschen seiner Zeit ungeheuerlich und ist wohl nur zu vergleichen mit der Internet-Euphorie des späten 20. Jahrhunderts. Neben den historischen Begebenheiten bietet der Roman rund um seine Hauptfigur Chester Ludlow aber auch reichlich Liebe, Leidenschaften und Obsessionen. Er ist dabei mit einem ausgesprochen filmischen Auge geschrieben und bietet so kurzweiliges Kino für den Kopf.
Idee aus dem Müll
Im Anschluss an seine Lesung erzählt Griesemer, dass er sich oftmals als Schauspieler in seine Szenen und Charaktere versetzt habe, um zu sehen, ob sie wirken und dankbare Rollen abgeben würden. Als filmreif erwies sich auch die Entstehungsgeschichte des Buches, denn die Idee dazu fand John Griesemer buchstäblich auf dem Müll: Als er sein Altpapier auf einer Recyclingstation entsorgen wollte, sah er in einem Altpapiercontainer eine Ausgabe der Zeitschrift Wired liegen, die er immer schon einmal lesen wollte. Halb war er schon in den Container geklettert, als er im Dunkel zwei Augen aufblitzen sah. Ein kleiner Junge hockte im Altpapier und reichte ihm schließlich mit einem „Take it, it’s your’s!“ das Magazin, in dem Griesemer dann den entscheidenden Artikel über die Verlegung eines weltumspannenden Glasfaserkabels fand.
Nach einer von Misserfolgen und Absagen geprägten typischen Ochsentour durch den Literaturbetrieb hat John Griesemer seine Chance ergriffen und mit „Rausch“ einen grandiosen Erfolg gelandet.
Karsten Herrmann