Ein Superheld macht in Literatur
– Ist es ein Vogel? Ist es ein Flugzeug? Nein. Es ist… der neue Film von Alejandro González Iñárritu. Christopher Werth hat ihn sich angesehen.
Die eigentlichen Hauptrollen in Birdman: die Kamera und ein Schlagzeug. Jazz Drummer Antonio Sanchez improvisierte die wesentlichen Elemente des Soundtracks und der für “Gravity” Oscar-gekrönte Kameramann Emmanuel Lubezki folgt den Schauspielern durch New York und vor allem die engen, runtergekommenen Gänge und Räume des legendären St. James Theaters am Broadway in einem nahezu nahtlosen Single Shot.
Diese beiden Elemente begleiten durch die Story: Wir befinden uns kurz vor einer Premiere. Und das Desaster erhöht sich mit jeder Szene. Level um Level wird es schlimmer, wie ein abstürzendes Flugzeug rast der Film auf die für Riggan Thomson lebenswichtige Theateraufführung zu. Ex-Batman Michael Keaton spielt einen Schaupieler, der vor 20 Jahren mit den drei “Birdman” Filmen weltweite Hits gelandet hat. Er ist mit dieser Rolle verschmolzen und zu einem Stück Popkultur geworden. Lebenswichtig ist es für ihn aus mehreren Gründen: Weil er unbedingt der Welt zeigen will, dass er noch da ist und er mehr drauf hat als Action, dass er ein ernstzunehmender Künstler ist. Weil er sich selbst und seinem Leben mit diesem Theaterstück einen tieferen Sinn geben will. Weil er den eigenen Bedeutungsverlust vom Megastar zum Ex-Star einfach nicht mehr ertragen kann. Dazu sucht er sich ausgerechnet allerfeinste Hochliteratur aus: eine berühmte Kurzgeschichte von Literaturikone Raymond Carver.
Das ist ungefähr so, als würde Arnold Schwarzenegger eine Stück von Marcel Proust auf die Bühne bringen, als würde Bruce Willis Peter Handke inszenieren oder Silvester Stallone Elfriede Jelinek. Er kratzt sein letztes Geld zusammen, um diese Broadway Produktion zu stemmen. Er selbst hat die Kurzgeschichte für die Bühne adaptiert, inszeniert und spielt die Hauptrolle.
Das Desaster spitzt sich immer weiter zu: Er muss den Entzug seiner drogenabhängigen und von ihm vernachlässigten Tochter überwachen, die er als seine Assistentin eingestellt hat. Eine der beiden Schauspielerinnen verkündet, dass sie glaubt, von ihm schwanger zu sein. Der wenig talentiert zweite Schauspieler wird von einem Bühnenscheinwerfer getroffen und muss ersetzt werden. Der Ersatz kommt – und für seine unerwartet horrende Gagenforderung muss er noch mehr Geld auftreiben. Der Ersatz spielt in an die Wand. Und fängt was mit seiner Tochter an. Die Exfrau taucht auf. Die Kritiker wetzen ihre Messer – wenn sich ein Hollywood-Trottel auf die New Yorker Bühne und an Carver wagt, dann wird er natürlich filetiert. Aber der schlimmste Feind steckt in ihm selbst: Birdman himself. Sein Alter Ego, seine erfolgreiche Filmfigur redet ständig mit markanter Superhelden-Stimme auf ihn ein und erklärt ihn für einen Versager, weil er nicht mehr Milliarden mit Blockbustern einspielt, sondern sich mit seinem letzten Geld in ein New Yorker Theater hineingekauft hat. Wenn er allein ist, hat er im Film auch die übersinnlichen Kräfte Birdmans – hier zeigt Iñárritu mit großer Lust am Surrealen, wie sehr Riggan und Birdman miteinander verschmolzen sind.
Demontage und Demütigungen der Hauptfigur sind gespickt mit Theater-Slapstick vom Feinsten, nichts wird ausgelassen. Die Bretter, die die Welt bedeuten sind hier vor allem Bretter vorm Kopf. Auch die weiteren Figuren sind vom Gedanken besessen, der Broadway würde ihr Leben retten und ihnen Sinn verleihen. Sehr schön werden diesen Verrückten verwachsene Bühnenarbeiter gegenüber gestellt, die stumpf die Künstler beobachten und dabei so viel Verständnis für sie aufbringen, wie Doozer für Fraggles.
Der Film ist durchgehend stark besetzt. Endlich wieder ein wunderbar spielwütiger Edward Norton. Als Ersatzmann rettet er Riggan die Premiere – aber versucht ihm natürlich die Show zu stehlen. Für seine Figur muss auf der Bühne alles echt sein – im Leben ist ihm das natürlich vollkommen egal. So bekommt er nur noch beim Spielen auf der Bühne eine Erektion (und wird eine Sensation bei Twitter), während sonst nicht mehr viel geht. Naomi Watts ist seine Freundin, eine aufgeregte, naive Broadway Debütantin, die nur für diesen Moment lebt, endlich hier auf der großen Bühne zu stehen. Vollkommen gleichgültig dem Theater gegenüber ist Riggans Tochter, gespielt von Emma Stone. Sie akzeptiert ihren Vater im Laufe des Films eigentlich erst, als er bei YouTube so richtig durchstartet. Nämlich als er sich bei der Premiere vor der wichtigsten Szene aus dem Theater aussperrt und in Feinripp-Unterhosen über den Timesquare marschieren muss, um durch den Haupteingang des Theaters gerade noch rechtzeitig zu seiner finalen Szene zu kommen. Die johlende Menge erkennt den Star, filmt, twittert und knipst, was das Zeug hält. Das ist ihre Währung: Now you are someone.
Die erbarmungslosen Elemente von Komik sind Wahrheit und Schmerz. Schlag um Schlag wird Riggan immer mehr zugesetzt. So sehr, bis er endgültig von sich selbst, Birdman und den anderen Wahnsinnigen die Schnauze voll hat und sich einfach nur noch umbringen will. Aber auch das ist nicht so einfach… Und wie der Untertitel verrät (die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit), führt das alles unerwartet und unverhofft doch noch zu etwas ganz anderem…
Über den Schluss kann man diskutieren. Iñárritu selbst hat ihn noch im Laufe des Prozesses geändert. Aber er ist konsequent wie der ganze Film. Er wird von der Kameraeinstellung erzählt. Und die letzten Worte, die hat das Schlagzeugspiel von Antonio Sanchez.
Christopher Werth
BIRDMAN, USA 2014. Regie: Alejandro González Iñárritu . Besetzung: u.a. Michael Keaton, Edward Norton, Emma Stone, Naomi Watts, Zach Galifianakis