Geschrieben am 28. Februar 2005 von für Litmag

Lehrer – ein Nachruf

Lehrer – ein Nachruf

Gibt es überhaupt noch Lehrer? Jeder flüchtige Blick auf die aktuelle Berufsstatistik in einem beliebigen Bundesland würde diese Frage als absurd und unverständlich erscheinen lassen. Natürlich gibt es noch abertausende von angestellten Lehrern und solchen, die nach dem Hochschulstudium auf eine Lehrerstelle oft vergebens warten. Zweifellos wird es Lehrer noch lange Zeit geben, auch wenn sich vermutlich ihr Berufsbild mit der Expansion von Internet und Cyberspace-Reality radikal ändern wird. Auf diese Entwicklung zu reagieren, ist die Aufgabe einer, in gängiger Reformersprache formuliert, „zukunftsorientierten Bildungspolitik“. PISA, Standortnachteile, globale Informationsgesellschaft usw. – alles inklusive. So weit so gut und alles im Rahmen des üblichen Talkshow-Formats.

Der andere Lehrer

Aber dieser Typus von mehr oder weniger fest angestellten Pädagogen an den Schulen ist auch nicht gemeint, wenn hier nach der Existenz von Lehrern gefragt wird. Wir wollen tiefer hineingraben in die Erdvkrusten unserer Gegenwartskultur. Der Lehrer, der uns hier interessiert, muss nicht einmal beamtetes oder angestelltes Mitglied des Lehrkörpers einer Schule oder Universität sein. Ja noch nicht einmal ein akademisches Studium muss er vorweisen, um als Lehrer anerkannt zu werden. Den Lehrer, dem wir uns hier widmen, zeichnen andere Qualitäten aus.Gibt es überhaupt noch jene Lehrer, auf die man sich bezieht, wenn man für oder gegen ein Kunstwerk, ein kulturelles Phänomen, eine philologische Interpretation, eine politische Entscheidung plädiert? Lehrer, wie es etwa, um nur einige Beispiele zu nennen, ein Jean Améry jahrzehntelang für die linksliberale Intelligenz im deutschsprachigen Raum gewesen ist. Oder ein Theodor Eschenburg, der Generationen von Politikwissenschaftlern und Publizisten ein Lehrer gewesen ist. Eine Marie Jahoda war vielen empirischen Soziologen ein Vorbild und eine Lehrerin. Wer bei Walter Killy oder Hans Mayer Germanistik studiert hat, wird diese selbstverständlich als seine Lehrer ansehen. Wie vielen Kunsthistorikern waren ein Ernst H. Gombrich oder André Chastell verehrte Lehrer. Was wäre die italienische, die europäische Kunstgeschichte ohne einen Lehrer wie Roberto Longhi? Ein Adorno galt seinen Studenten und Assistenten selbstverständlich als ein intellektueller Lehrer, auch wenn er selbst sich vielleicht nicht so sah. Hannah Arendt wuchs für viele erst post mortem in die Rolle einer bewunderten und respektierten Lehrerinnenautorität hinein. An eine Gräfin Dönhoff ist vielleicht zu denken, die bereits zu Lebzeiten durch ihre jahrzehntelange publizistische Arbeit zu einer liberalen Lehrerin für Generationen von Lesern der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT geworden ist. Die Liste dieser Lehrerinnen und Lehrer ließe sich um viele Namen erweitern. Menschen müssten angeführt werden, die ihren Schülern aufgrund eines größeren Wissens, einer intensiveren geistigen Reflexion oder einer längeren Lebenserfahrung sagten: lies einmal dieses vergessene Buch, höre dir jenen wenig bekannten Musiker an, vertiefe dich in eine bislang unterschätzte Malschule, verliere dich nicht in Sackgassen einer sinnlosen Recherche über belanglose historische Ereignisse, versuche einmal einen scheinbar eindeutigen Text neu zu lesen, beschäftige dich mit einem interessanten Außenseiter in der Architektur des frühen 20. Jahrhunderts usw. Wo sind heute jene Lehrer geblieben, die extra muros universitatis ihre wissbegierigen Schüler hatten und an denen sich diese dann erinnerten als ihre ersten eigenen intellektuellen Arbeiten veröffentlicht wurden?

Eine Würdigung des Lehrers: die Widmung

Mit der Widmung „Ernst Fischer und Max Raphael, zwei Lehrer, die mich Überzeugten“ leitete zum Beispiel der englische Kunsthistoriker und Schriftsteller John Berger seine große Picasso-Studie ein. Oder Elias Canetti, der immer und immer wieder Karl Kraus seinen großen Lehrer nannte.Generationen von schweizerischen Rundfunkjournalisten war sicherlich ein Historiker und Publizist vom Rang eines Jean Rudolf von Salis ein Lehrer.Martin Walser weist immer wieder darauf hin, wie viel er seinem akademischen Lehrer Friedrich Beißner verdankt. Wo findet man denn heute noch Widmungen, wie sie zum Beispiel der Triester Schriftsteller Umberto Saba einem seiner späten Gedichte vorangestellt hat: „Für Professor Dr. Marino Gopcevich – für eine seiner Einsichten – in herzlicher Dankbarkeit.“ Unter den zeitgenössischen Literatur- und Kulturkritikern gehört vielleicht noch François Bondy zu den Letzten, die ohne Einschränkungen als Lehrer zu bezeichnen wären. Jahrzehntelang hat Bondy zwei, vielleicht drei Generationen von Intellektuellen in Frankreich und vor allem im deutschsprachigen Raum mit seinen vielen Beiträgen in der Tagespublizistik und im Rundfunk an das kulturelle „Weltniveau“ herangeführt. „Wir“, so schreibt der Publizist und Thomas-Mann-Biograph Klaus Harpprecht in einem dem Homme de Lettres François Bondy gewidmeten Sammelband, „lernten von ihm, was Welt ist.“Trügt der Augenschein nicht, dann liest man diese Art früher selbstverständlicher Widmungen in Veröffentlichungen immer seltener. Und wer verweist in Bewerbungsschreiben und Vorstellungsschreiben denn noch auf seine Lehrer? Die Publikationslisten werden immer länger, aber auch immer unpersönlicher. Wo und vor allem bei wem jemand studiert hat, wird beliebiger. Man lebt und forscht und denkt im Hier und Jetzt.

„Welt begreifen“

Aber bedarf es nicht, um zu lernen, was Welt ist, eines korrigierenden, eingreifenden, präsenten Lehrers oder wenigstens des geduldigen Lesens, Hörens, Begreifens von in schriftlichen Dokumenten, Bildern oder Tonaufzeichnungen festgehaltenen Ideen bereits verstorbener Lehrer? Kann man „Welt begreifen“ ohne die physische Präsenz von Lehrern oder die von Lehrern weitervermittelten Traditionen? Mit Computer-Disketten, CD-ROMs, Videos, Internet-Surfen wird das Wissen über die Zusammenhänge der Welt um gigantische Dimensionen erweitert. Aber wird damit der Lehrer in personam überflüssig, von dem man lernen oder von dem man sich auch, wie es zum Teil Ende der sechziger Jahre mit spektakulären Aktionen geschah, emanzipieren kann? Gegen den man fluchen oder für den man demonstrieren kann? „Menschliche Treue und Verrat, Liebe und Rebellion, von denen das eine das andere fordert, sind dem Elektronischen fremd.“ (Georges Steiner)

Lehrer in Funk und Fernsehen

Natürlich gibt es jenseits jedes kulturkritischen Lamentos die hier beschworenen Lehrer noch. Alleine die Zahl der immer wieder neu edierten Festschriften zum Jubiläum eines akademischen Lehrers belegen dies. Aber auch diese Festschriften scheinen immer mehr der Selbstdarstellung der tatsächlichen oder vermeintlichen Schüler statt einer Würdigung des Lehrers zu dienen. Bei der zunehmenden Anonymisierung auch an den Orten der universitären Wissensvermittlung ist es absehbar, wann auch die akademischen Lehrer und mit ihnen die Kultur der Festschriften endgültig unserer Aufmerksamkeit entgleiten. Möglicherweise irren wir uns, aber irgendwie glaubt man zu ahnen, dass heute eine bestimmte Generation von Lehrern ohne Amt, aber mit Erfahrung und Wissen immer mehr aus unserem alltäglichen Wahrnehmungshorizont verschwindet. Die Zeiten, als etwa der Rundfunk noch ein „Leitmedium“ öffentlicher Verständigung über den Gang der Dinge war, in dem Kommentatoren des allgemeinen Weltgeschehens als „Lehrer aus dem Äther“ angesehen wurden, sind doch längst perdu. Von unseren Großeltern, gelegentlich auch noch von unseren Eltern, können wir uns vielleicht berichten lassen, was ihnen die Stimmen eines Felix von Cube, eines Axel Eggebrecht, eines Walter Dirks noch bedeutet haben, um zu begreifen, was Welt ist. Auch das Medium Fernsehen kennt natürlich die Institution eines Lehrers. Was wüssten wir von der Welt, so wie sie ist, ohne legendäre Auslandskorrespondenten wie Franca Magnani oder Gerd Ruge und ohne Wissenschaftsjournalisten wie Hoimar von Ditfurth oder Heinz Haber heute?Aber ist nicht auch ihre Zeit längst abgelaufen? Werden nicht im Fernsehen der Zukunft immer mehr nur Idole, Modells und „Megastars“ in einem rasanten Tempo für einen Konsummarkt „produziert“, von denen vielleicht nach kurzer Verwertungszeit allenfalls noch die Marke ihres Tennisschlägers oder ihr bevorzugter Parfümduft in Erinnerung bleibt.

Wer spricht heute noch von seinem Lehrer?

An „Lehrer“ traditionellen Typs im Fernsehen, im Kino oder beim Surfen durch das Internet überhaupt nur zu denken, ist schon lächerlich. Aber verschwindet nicht auch im ganz normalen schulischen Ausbildungsprozess immer mehr die Figur des Lehrers, dessen man sich in späteren Jahren erinnert? Sind vielleicht gut ausgebildete Lehrer, die ihr Fach beherrschen, aber mit ihrem Containerwissen jederzeit austauschbar sind, überhaupt noch Lehrer, die ihren Schülern lehren, „was Welt ist“, oder bei denen man sich, wie esUmberto Saba noch tat, für eine ihrer Einsichten bedankt. Immer seltener hört man, etwas Bestimmtes habe jemand von seinem Lehrer gelernt. Man geht in die Schule oder Hochschule, absolviert eine Prüfung oder ein Examen in bestimmten Fächern, erhält sein Zeugnis zugeschickt und damit ist die Ausbildung dann beendet. Man behält – und das ist oft schon viel – einzelne Anekdoten im Gedächtnis – aber wer spricht selbst in der scientific community heute noch von seinem Lehrer?

Kampf gegen den Lehrer

In den sechziger, siebziger Jahren führten viele Studenten und Lehrer noch mit mehr oder weniger phantasievoll provozierenden Mitteln einen Kampf gegen als autoritär angesehene Lehrer und konservativ kritisierte Autoritäten, die aber auch in der heftigsten Opposition noch als Lehrer angesehen wurden. Heute scheint von diesem oft wohl begründeten intellektuellen und persönlichen Emanzipationsprozess von einer als übermächtig empfundenen oder autoritär agierenden Lehrerfigur nur noch Gleichgültigkeit und das schnelle Vergessen übrig geblieben zu sein. Dass vom anderen, auch vom Lehrer, noch etwas das eigene Leben Orientierende gelernt werden kann, scheint oft nicht einmal mehr als denkbare Möglichkeit angesehen zu werden. Ein guter Lehrer zeigte seinen Schülern auch reizvolle Umwege und Gassen fern der Schnellstraßen zum Erfolg. Was könnte heute überflüssiger und nutzloser sein?!Fazit: die Zeit der Lehrer ist vorbei, her mit den Lehrern Nein, machen wir uns nichts vor: die Zeit der Lehrer – innerhalb und außerhalb der Institutionen – ist offensichtlich vorbei. Aber wird dieser Untergang des Lehrers, einer der klassischen Figuren von Wissens- und Erfahrungsvermittlung von der älteren auf die jüngere Generation zur Aufrechterhaltung von gesellschaftsnotwendigen Kontinuitäten überhaupt als ein Verlust empfunden? Wer (oder was) wird uns dann aber in Zukunft sagen, was Welt ist? „Wissen“, schreibt der große Lehrer Seneca in seinen Moralischen Schriften, heißt, „sich alles zu eigen machen und sich nicht andauernd nach dem Lehrer umzusehen.“ Das ist wohl wahr, was aber, wenn esüberhaupt keine Lehrer mehr gibt, nach denen man sich auf seinem Weg der eigenen Weltaneignung gelegentlich einmal umsehen könnte?

Carl Wilhelm Macke